Adagio in g-Moll

Adagio in g-Moll

Das Adagio g-Moll ist eine 1958 von dem italienischen Musikwissenschaftler und Komponisten Remo Giazotto herausgegebene, angeblich auf Fragmenten Tomaso Albinonis basierende Komposition für Streicher und Orgel. Es gehört heute zu den populärsten Werken der „klassischen Musik“.

Inhaltsverzeichnis

Entstehung und Urheberschaft

Das Adagio g-Moll erschien erstmals 1958 bei dem Mailänder Musikverlag Ricordi unter dem Titel remo giazotto: adagio in sol minore per archi e organo su due spunti tematici e su un basso numerato di tomaso albinoni (Kleinschreibung im Original). Im Vorwort wurde ausgeführt, dass das Stück Teil einer Albinoni’schen Triosonate in g-Moll ohne Opuszahl sei, von der lediglich ein gedruckter bezifferter Bass und zwei handgeschriebene Fragmente der 1. Violine (insgesamt sechs Takte) überliefert seien. Diese Fragmente seien dem Herausgeber Remo Giazotto unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg von der Staatsbibliothek Dresden übersandt worden, nachdem er sein thematisches Verzeichnis der Werke Albinonis (enthalten in der Monografie Tomaso Albinoni, Mailand 1945) bereits veröffentlicht hatte. Giazotto habe zunächst den Generalbass ausgesetzt und durch eine kurze Einleitung ergänzt und dann auf dessen Basis unter Benutzung der vorhandenen Melodiefragmente einen melodischen Zusammenhang hergestellt. Da der bezifferte Bass eine „akzentuiert mystische Stimmung“ schaffe, habe der Herausgeber es für angebracht gehalten, den Generalbass der Orgel statt dem Cembalo anzuvertrauen.

Sowohl auf dem Titelblatt als auch im Vorwort war das Stück somit deutlich als Komposition Giazottos kenntlich gemacht (in einem Copyright-Hinweis hieß es zusätzlich, das Adagio sei eine durch das geltende Urheberrecht geschützte Originalkomposition). In der bald nach der Veröffentlichung einsetzenden Erfolgsgeschichte des Werkes wurde dennoch fast immer Albinoni als Komponist und Giazotto lediglich als Bearbeiter genannt; gelegentlich fiel der Name Giazottos sogar ganz weg.

Während für das breite Publikum die Verfasserfrage letztlich unerheblich war, begann sich die Musikwissenschaft für die Originalquellen zu interessieren. In den Jahren 1968 bis 1978 fand zwischen der Sächsischen Landesbibliothek Dresden, mehreren Musikforschern und dem Ricordi-Verlag eine Korrespondenz statt, die zu folgenden Ergebnissen kam:

  1. „Prof. Giazotto konnte nicht eine originale Note vorweisen, die als Grundlage seiner ‚Bearbeitung‘ gedient haben könnte. Das Adagio ist von A bis Z seine freie Erfindung.“[1]
  2. Die Landesbibliothek Dresden stellte fest, dass sich das „Albinoni zugeschriebene angebliche Fragment des so berühmt gewordenen Adagios nicht in unserer Musiksammlung befindet und auch niemals hier vorhanden war“.[2]

In einem Schreiben aus dem Jahr 1985 bezeichnete der damalige Leiter der Sächsischen Landesbibliothek das Adagio sogar rundheraus als „Fälschung“ und äußerte seine Verwunderung darüber, dass Giazotto „angesichts des immensen Markterfolges dieser Fälschung [...] bisher keine Nachahmer gefunden hat“.[3]

Musikalischer Charakter

Das Adagio ist dreiteilig angelegt. Nach einer achttaktigen, nur vom Generalbass aus Orgel und tiefen Pizzicato-Streichern getragenen Einleitung setzen die hohen Streicher mit einer elegisch-schwermütigen, vorwiegend aus absteigenden Motivfolgen bestehenden und mehrfach sequenzierten Melodie ein. Dieser Teil wird wiederholt. Es folgt ein kadenzartiger Mittelteil, in dem eine Solovioline mit dem ruhenden Generalbass in Dialog tritt. Der abschließende dritte Teil ist eine Variation des ersten Teils (einschließlich der Einleitung) mit mehreren kurzen Auftritten der Solovioline und einem leidenschaftlichen Aufschwingen des Streicherensembles gegen Ende.

Bereits die Länge des Stückes (Aufführungsdauer 7–10 Minuten) lässt erkennen, dass es sich kaum um einen barocken Sonatensatz handeln kann; vor allem aber ist es der (spät-)romantische Duktus, der das Werk deutlich ins 19. oder 20. Jahrhundert verweist. Sowohl melodisch als auch harmonisch erinnert es eher an Puccini oder Mascagni als an Albinoni.

Wirkung und Rezeption

Obwohl sich das Adagio stilistisch stark von Albinonis echten Werken unterscheidet, trug es in hohem Maße zur Wiederentdeckung dieses zwei Jahrhunderte lang weitgehend vergessenen Barockkomponisten bei. Zahlreiche Kammerorchester und Ensembles nahmen es in ihr Repertoire auf und spielten es auf Schallplatte bzw. CD ein, oft in Kombination mit anderen Werken Albinonis. Hinzu kamen Bearbeitungen für die verschiedensten Besetzungen (vom Blechbläserensemble bis hin zum Gitarrensolo). Auch Rockbands griffen das Stück auf und adaptierten es in ihrem Stil, so z.B. Ekseption (1970), Renaissance (1974), The Doors (1978), Yngwie Malmsteen (1984) oder Muse (2006). Ebenso wurde es in mehreren Filmen verwendet, darunter Der Prozess (1962), Rote Sonne (1970), Rollerball (1975), Mondbasis Alpha 1 (Staffel 1, Folge 23, 1976), Gallipoli (1981), Flashdance (1983) und Raus aus Åmål (1998).

Inzwischen gehört das Adagio zu den bekanntesten und beliebtesten Stücken der „klassischen Musik“ und ist in den meisten Zusammenstellungen barocker „Hits“ enthalten. Nach Einschätzung der Musikwissenschaftler Wulf Dieter Lugert und Volker Schütz dürfte Giazotto „als urheberrechtlicher Komponist des Stückes der mit großem Abstand meistverdienende zeitgenössische Komponist der letzten 50 Jahre sein“.[4]

Einzelnachweise

  1. Brief der Sächsischen Landesbibliothek Dresden (Fachreferentin Marina Lang) vom 24. September 1990, als Faksimile wiedergegeben bei: Wulf Dieter Lugert, Volker Schütz: „Adagio à la Albinoni“, Praxis des Musikunterrichts 53 (Februar 1998), S. 13–22, hier S. 15.
  2. Brief der Sächsischen Landesbibliothek Dresden vom 14. Januar 1998, zitiert in: Wulf Dieter Lugert, Volker Schütz: „Adagio à la Albinoni“, Praxis des Musikunterrichts 53 (Februar 1998), S. 13.
  3. Brief der Sächsischen Landesbibliothek Dresden von 1985, zitiert in: Wulf Dieter Lugert, Volker Schütz: „Adagio à la Albinoni“, Praxis des Musikunterrichts 53 (Februar 1998), S. 13.
  4. Wulf Dieter Lugert, Volker Schütz: „Adagio à la Albinoni“, Praxis des Musikunterrichts 53 (Februar 1998), S. 13.

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