Diathese (Linguistik)

Diathese (Linguistik)

Die Diathese (griechisch διάθεσις „Aufstellung, Zustand“, auch Handlungsrichtung) ist eine Kategorie des Verbs in der Sprachwissenschaft. Dabei geht es um die semantischen Rollen im Satz, also darum, welche Rolle die verschiedenen genannten Beteiligten in Bezug auf die Handlung, die das Verb bezeichnet, spielen, und darum, wie diese Rollen sich im Satzbau (in der Syntax) ausdrücken. Die beiden wichtigsten Rollen sind das Agens (derjenige Mitspieler, der aktiv handelt) und das Patiens (derjenige Mitspieler, der etwas erleidet oder dem etwas widerfährt).

In den bekannteren europäischen Sprachen (auch im Deutschen) sind die wichtigsten Diathesen Aktiv und Passiv (siehe Beispiel; Aktiv und Passiv im Deutschen). In typologisch andersartigen Sprachen können andere Diathesen dominieren, z. B. das Antipassiv in Ergativsprachen.

Die Diathese geht von der Bedeutungsebene (Semantik) der Wörter aus. Werden Diathesen systematisch in grammatikalische Formen des Verbs umgesetzt, spricht man vom Genus verbi (lateinisch: „Geschlecht des Verbs“). Der Bezug zwischen Diathese und Genus verbi ist nicht immer eindeutig (Beispiel: Genus verbi und Diathese im Neugriechischen).

Inhaltsverzeichnis

Beispiel aus dem Deutschen

Das folgende Beispiel aus dem Deutschen soll die Zusammenhänge verdeutlichen. Betrachtet man den Satz

(1.) Paul wäscht sein Auto. ,

so füllt das Nomen Paul die semantische Rolle Agens aus (er handelt aktiv) und sein Auto füllt die semantische Rolle Patiens aus (es handelt nicht, sondern ihm widerfährt etwas). Syntaktisch fungiert Paul als Subjekt des Satzes und sein Auto fungiert als Objekt des Satzes. Wenn – wie hier – die semantische Rolle Agens syntaktisch als Subjekt des Satzes erscheint, so handelt es sich um die Diathese aktiv.

In dem Satz

(2.) Das Auto wird von Paul gewaschen.

ist es genau umgekehrt: Die semantischen Rollen sind genau gleich geblieben (dem Auto widerfährt immer noch etwas, Paul handelt immer noch) aber diese semantischen Rollen sind syntaktisch anders umgesetzt: Das Auto als Patiens erscheint als Subjekt des Satzes, das Agens erscheint in einer adjunktiven präpositionalen Ergänzung (von Paul). Wenn – wie hier – die semantische Rolle Patiens als Subjekt des Satzes erscheint, spricht man von einer passiven Diathese. Für das Passiv wird häufig das Hilfsverb werden gebraucht.

Diathese und Valenzalternation

Die Diathese ist ein Spezialfall der Valenzalternation bzw. Valenzoperation. Während bei der Diathese nur Agens und Patiens eine Rolle spielen, gibt es allgemein bei Valenzoperationen auch noch andere Rollen (Mitspieler). Im ersten Beispiel (Aktiv) gibt es einen zweiwertigen Valenzrahmen, in dem passivierten Beispiel gibt es nur noch einen obligatorischen Aktanten, die Präpositionalphrase von Paul kann auch weggelassen werden, ohne dass der Satz ungrammatisch würde (Das Auto wird gewaschen). Passivierung ist also ein Mittel zur Valenzreduzierung.

Weitere Diathesen

In einem weiteren Sinn gibt es auch noch weitere Diathesen neben Aktiv und Passiv:

  • Medial, eine Handlung oder Zustandsänderung widerfährt dem Satzsubjekt ohne externes Agens, im Deutschen oft reflexiv ausgedrückt: „Das Seil reißt“, „Ich ärgere mich“. Im Altgriechischen wurde die mediale Diathese grammatisch als Medium kategorisiert.
  • Reflexiv, das Satzsubjekt ist Objekt einer eigenen Handlung: „Ich wasche mich“, siehe auch reflexives Verb (Verben, die nur diesen Aspekt erlauben)
  • Reziprok, die Mitglieder eines pluralischen Subjektes führen Handlungen an jeweils anderen aus: „Liebet einander“, „Schubst euch nicht so!“
  • Antipassiv: Diathese, bei der das Patiens-Argument (Objekt) nicht oder nur oblik ausgedrückt werden kann
  • Antikausativ: Diathese ähnlich dem Passiv, allerdings mit dem Unterschied, dass das Agens-Argument nicht ausgedrückt werden kann

Genus verbi

Wird die Diathese morphologisch realisiert - zum Beispiel durch flektierte Verb-Endungen wie im Lateinischen („Petra a Maria movetur“) oder durch periphrastische Konstruktionen wie im Deutschen („Ich werde für diesen Artikel geschlagen“) - spricht man vom grammatischen Genus verbi. Das Genus verbi ist als grammatische Verbalkategorie zunächst die morphologisch-syntaktische Umsetzung einer Diathese. In manchen Sprachen kann ein Genus Verbi Ausdruck genau einer Diathese sein, dadurch werden die Begriffe oft als gleichbedeutend erachtet. Es kann jedoch möglich sein, dass sich durch Prozesse des Sprachwandels die Bedeutung eines Verbs verändert und es formal z. B. Passivmorphologie aufweist, obwohl die Bedeutung eindeutig aktivisch ist. Hier spricht man von Deponentien. Dadurch ist synchron kein Zusammenhang zwischen morphologischer Markierung und der Semantik der Diathese erkennbar. Deshalb wird manchmal eine Unterscheidung zwischen den Begriffen Diathese und Genus Verbi getroffen, wobei letzterer dann formal auf die Zugehörigkeit zu einer Flektionsklasse abzielt.

Deutlich wird dies u. a. in der neugriechischen Sprache, in der sich die Genera verbi weitgehend von der semantischen Diathese gelöst haben (siehe dazu das Beispiel weiter unten).

Aktiv und Passiv im Deutschen und Lateinischen

In allen Fällen geht es um die Veränderung des Verhältnisses zwischen dem Verb und seinen Mitspielern. So erfordert die Bedeutung eines Verbs z. B. einen handelnden Mitspieler und ein Objekt, an dem die Handlung ausgeübt wird: Das Verb „bewegen“ erfordert einen Beweger und ein bewegtes direktes Objekt. Im typischen Fall ist die handelnde Person das Subjekt des Satzes. Zum Vergleich mit einer Sprache, bei der die Diathese Teil der Flexion ist, hier ein Beispiel (Das Subjekt ist kursiv, das Objekt ist fett, das Verb ist unterstrichen):

Deutsch Latein
Maria bewegt den Stein. Maria petram movet.

In diesem Fall liegt das Aktiv vor. Das Passiv wird gebildet, indem das Verb morphologisch verändert wird:

Deutsch Latein
Der Stein wird bewegt. Petra movetur.

Nun ist nicht mehr der Handelnde das grammatische Subjekt, sondern das Objekt der Handlung ist zum grammatischen Subjekt geworden. Die handelnde Person tritt in den Hintergrund, das Objekt wird zum Thema des Satzes. Die Anzahl der notwendigen Argumente eines Verbs bezeichnet man als seine Valenz. Das Passiv reduziert die Valenz des Verbes, weil das inhaltliche Subjekt nicht mehr notwendig, sondern optional ist. Es kann wieder hinzugestellt werden:

Deutsch Latein
Der Stein wird von Maria bewegt. Petra a Maria movetur.

Im Reflexiv sind Subjekt und Objekt identisch:

Deutsch Latein
Der Stein bewegt sich. Petra movetur.

Damit wird in diesem Fall angezeigt, dass hier nicht mehr klar unterschieden werden kann, ob der Stein nun Subjekt oder Objekt des Vorganges ist. Bei anderen Verben (etwa waschen) kann aber auch gemeint sein, dass eine Person eine Handlung an sich selbst vornimmt:

Peter wäscht sich.

Genus verbi und Diathese im Neugriechischen

Im Alt- und Neugriechischen, so wie auch seltener im Lateinischen, gibt es eine Gruppe von Verben, deren grammatisches Genus verbi nicht mit der durch das Verb ausgedrückten Diathese übereinstimmt. In dem Fall, dass ein grammatisch passives Verb eine aktive Diathese hat, spricht man von Deponentien. Von diesen Deponentien kann demnach mit grammatischen Mitteln kein semantisches Passiv mehr gebildet werden, da die passive Form „schon besetzt“ ist, ein Sprecher muss in diesem Fall auf lexikalische Mittel zurückgreifen. Im Neugriechischen, dessen heutiges Passiv-Paradigma sich aus dem altgriechischen Medium entwickelt hat, sind diese Verben besonders häufig. Für „normale“ Verben – sodenn sie beide Genera verbi ausbilden – gilt jedoch wie im Deutschen, dass das grammatische Aktiv immer die aktive Diathese ausdrückt. Ihr grammatisches Passiv hingegen ist nicht immer der passiven Diathese zuzuordnen, sondern häufig der reflexiven oder reziproken. Ein typisches Beispiel für diese relativ große Gruppe von Verben ist βρίσκω (vrísko) „ich finde“, dessen Passiv βρίσκομαι (vrískome) zumeist nicht „ich werde gefunden“ sondern reflexiv „ich befinde mich“ bedeutet.

Beispiele
  • Das grammatische Passiv eines „Normalverbs“ hat reflexive Diathese:
Ο άντρας πλένεται. „Der Mann wäscht sich.“ (Ist aber das Subjekt kein Lebewesen, wird die passive Diathese angenommen: „Das Auto wird gewaschen.“)
Το αγόρι κρύβεται. „Der Junge versteckt sich.“ (Die Bedeutung „Der Junge wird versteckt“ muss mit lexikalischen Mitteln ausgedrückt werden)
  • Das grammatische Passiv eines „Normalverbs“ hat reziproke Diathese:
Μη σπρώχνεστε! „Schubst euch nicht!“
  • Manche Deponentien (Verben die es nur im grammatisches Passiv gibt) haben eine rein aktive Diathese:
Έρχομαι, Κοιμάμαι, Στέκομαι: „Ich komme.“ „Ich schlafe.“ „Ich stehe.“
  • Viele andere Deponentien drücken überwiegend, aber nicht ausschließlich die reflexive Diathese aus:
θυμάμαι, αρνούμαι, αισθάνομαι: „ich erinnere mich.“ „ich weigere mich.“ „ich fühle mich.“

Literatur

  • Hans Ruge: Grammatik des Neugriechischen (Lautlehre, Formenlehre, Syntax). Köln 2001.
  • Tinnefeld, Thomas: Das Passiv als terminologisches Problem. Analysen und Vorschläge unter besonderer Berücksichtigung der französischen Grammatikographie. In: Barrera-Vidal, Albert/Raupach, Manfred/Zöfgen, Ekkehard: (Hrsg.): Grammatica vivat. Konzepte, Beschreibungen und Analysen zum Thema ‚Fremdsprachengrammatik‘. In memoriam Hartmut Kleineidam. Tübingen: Narr 1992 (Tübinger Beiträge zur Linguistik (TBL); 365), 187-199

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