Drehstrom-Versuchsstrecke Groß-Lichterfelde–Zehlendorf

Drehstrom-Versuchsstrecke Groß-Lichterfelde–Zehlendorf
Bahnstrecke für Versuche mit Drehstrom in der Teltower Straße

Die Drehstrom-Versuchsstrecke Groß-Lichterfelde–Zehlendorf war eine 1,8 Kilometer lange Bahnstrecke entlang der Teltower Straße (heute Goerzallee) zwischen Lichterfelde und Zehlendorf, die von Siemens & Halske ausschließlich für Versuchsfahrten errichtet wurde. Ziel der Anlage war, die Tauglichkeit des elektrischen Betriebes auch im Fernverkehr, also über lange Strecken, und die Verwendbarkeit von Drehstrom für den elektrischen Zugbetrieb nachzuweisen.

Inhaltsverzeichnis

Vorgeschichte

Nachdem Ende der 1880er / Anfang der 1890er Jahre der Drehstrom Eingang in die Praxis gefunden hatte, strebte die Firma Siemens & Halske danach, diese Stromart für den elektrischen Zugbetrieb nutzbar zu machen. Hierfür legte sie 1892 auf ihrem Werksgelände im Wernerwerk in Berlin-Siemensstadt eine 360 Meter lange Teststrecke an. Die Stromversorgung mit den drei Phasen des Drehstroms erfolgte über zwei Oberleitungen und das Gleis.

Das Fahrzeug für die Versuche bestand aus dem Untergestell eines Straßenbahnwagens, auf dem eine Plattform montiert war. Auf dieser Plattform befanden sich die beiden Stromabnehmer, die Anlass- und Regulierwiderstände sowie die Schaltapparate. Der Motor des Wagens arbeitete mit 1400 Umdrehungen pro Minute, womit das Fahrzeug eine Höchstgeschwindigkeit von 25 Kilometern pro Stunde erreichte. 1893 zeigte Siemens & Halske das Versuchsfahrzeug auf der Weltausstellung in Chicago.

Diese weltweit ersten Versuche mit Drehstrom in der Bahntechnik zeigten deutlich, dass Stromabnahme und -zuführung keine Probleme bereiteten und dass Versuche in größerem Rahmen sinnvoll waren. Dem damaligen Antrag von Siemens & Halske, eine vorhandene, mit Dampfzügen befahrene Strecke für weitergehende Versuche auszubauen, stimmten die Behörden nicht zu, da der Umbau für zu schwierig befunden wurde. Da Siemens & Halske jedoch die Technik für zukunftsfähig hielt, wurde die große Investition in den Neuaufbau einer Versuchsstrecke vorgenommen.

Anlage

Lageplan und Höhenprofil der Versuchsstrecke

Vorgabe für die Versuchsstrecke war, dass Geschwindigkeiten bis 60 Kilometer pro Stunde und Spannungen bis 10.000 Volt möglich wären. Erprobt werden sollten außerdem verschiedene Anordnungen der Stromabnehmer.

Von den Gemeinden Groß-Lichterfelde und Zehlendorf erhielt Siemens & Halske 1898 die Genehmigung, die damals unbebaute und wenig genutzte Teltower Straße (heute Goerzallee etwa zwischen Engadiner Weg und Lichterfelder Weg) für die Versuchsstrecke zu nutzen. Anfang des Jahres 1899 war die Anlage fertiggestellt. Die 1,8 Kilometer lange Strecke war in Regelspur ausgeführt und wies eine leichte Kurve mit einem Radius von 200 Meter auf. Ungefähr in der Mitte der Strecke wurde ein Kraftwerk mit Wagenschuppen errichtet. Die Oberleitung befand sich an der Südseite der Straße und wurde mit einem Schutznetz ausgerüstet, damit im Falle eines Oberleitungsbruches bei den Fahrversuchen eine Gefährdung von Passanten der weiterhin öffentlichen Straße ausgeschlossen war.

Versuche

Transformatorwagen an der Abzweigung zum Wagenschuppen

Für die Versuchsfahrten stellte Siemens & Halske zwei Fahrzeuge her. Es handelte sich um eine Lokomotive und um einen Transformatorwagen. Dieser Transformatorwagen war mit zwei dreipoligen Stromabnehmern ausgestattet, die mit Schleifkontakten aus Aluminium die Oberleitungen von oben bestrichen. Der Transformator auf dem Wagen wandelte die Spannung von 10.000 Volt auf 750 Volt um. Die drei Oberleitungen befanden sich parallel in einer schiefen Ebene und bestanden aus acht Millimeter starken Kupferdrähten. Für die ersten Versuche und Messungen ab 1899 schleppte die Lokomotive den Transformatorwagen hinterher. Hierbei zeigte sich, dass die Stromabnahme von oben für Geschwindigkeiten bis 60 Kilometer pro Stunde zwar noch verwendbar war, jedoch mit zunehmender Geschwindigkeit der Kontaktbügel an den Höhepunkten der Oberleitung dazu neigte, abzuspringen, wodurch Funkenbildung und unsicherer Kontakt entstanden.

Lokomotive für Fahrversuche mit Drehstrom

Nach einem Umbau der Oberleitungen erhielt die Lokomotive im Frühjahr 1900 einen eisernen Aufbau, in dem nun auch ein Transformator Platz fand sowie einen dreipoligen Stromabnehmer auf dem Dach für die seitliche Stromabnahme. Die drei Oberleitungen lagen jetzt in einer senkrechten Ebene und die Stromabnehmer wurden mittels Federkraft gegen die Drähte gedrückt.

Im Rahmen der Versuchsfahrten wurde mit Spannungen am Fahrdraht von 750, 2000 und 10.000 Volt gearbeitet, die vom Kraftwerk direkt erzeugt oder (bei 10.000 Volt) durch Umformung hergestellt wurden. Hierbei zeigten die Stromabnehmer bei Fahrten mit 10.000 Volt ein besseres Verhalten als bei niedrigerer Spannung. Insgesamt bewährten sich die nach dem Umbau der Stromabnahme für die Versuche getroffenen Einrichtungen. Das Anfahren der Lokomotive auf 60 km/h bei einer Last von 30 Tonnen erfolgte beispielsweise in 60 Sekunden mit 700 Volt Spannung und 190 Ampere Stromstärke.

Nach dem Ende der Versuchsfahrten wurde die verwendete Lokomotive 1901 für 220 Volt Gleichstrom umgebaut und an das Zementwerk Bad Berka verkauft. Dort war sie bis 1972 im Einsatz. Heute befindet sie sich als Exponat im Verkehrsmuseum Dresden.

Weitere Entwicklung

Die Erfahrungen, die bei den Fahrversuchen gewonnen wurden, brachte Siemens & Halske in die gemeinsam mit der AEG gegründete Studiengesellschaft für Elektrische Schnellbahnen ein, die von 1901 bis 1903 Schnellfahrversuche mit Drehstrom auf der Militäreisenbahn zwischen Marienfelde und Zossen durchführte.

Literatur

  • Walter Reichel: Versuche über Verwendung hochgespannten Drehstromes für den Betrieb elektrischer Bahnen. In: Elektrotechnische Zeitschrift. 21. Jahrgang, Heft 23 (7. Juni 1900), S. 453-461.
  • Walter Reichel: Über die Zuführung elektrischer Energie für größere Bahnnetze. In: Elektrotechnische Zeitschrift. 25. Jahrgang, Heft 23 (9. Juni 1904), S. 486-493.
  • E. Frischmuth: 50 Jahre elektrische Bahnen. In: Siemens-Zeitschrift. 9. Jahrgang, 5./6. Heft (Mai/Juni 1929), S. 263-287.
52.4218713.29831
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