Eingriffsregelung

Eingriffsregelung

Die Eingriffsregelung (auch Eingriffs-Ausgleichs-Regelung) ist das Instrument des Naturschutzrechts, mit dem negative Folgen von Eingriffen in Natur und Landschaft (Beeinträchtigungen) vermieden und minimiert werden sollen. Des Weiteren sollen nicht vermeidbare Eingriffe durch Maßnahmen des Naturschutzes ausgeglichen werden. Die wichtigsten Rechtsgrundlagen sind §§ 18 und 19 des Bundesnaturschutzgesetzes (BNatSchG) sowie §§ 1a und 35 des Baugesetzbuches (BauGB). Einzelheiten ergeben sich aus den Naturschutzgesetzen (Landschaftspflegegesetzen u. a.) der Länder.

Die Ländergesetze legen überwiegend fest, dass Vorhaben, die einer Genehmigung (beispielsweise Baugenehmigung) bedürfen, von der entsprechenden Fachbehörde im Benehmen mit der zuständigen Naturschutzbehörde (also unter deren nahezu einvernehmlichen Beteiligung, aber keine Veto-Funktion) erfolgen. Dies wird als „Huckepack-Verfahren“ bezeichnet. Bedarf ein Eingriff nicht anderer rechtlicher Entscheidungen, dann entscheidet die Naturschutzbehörde selbst, es sei denn, das Vorhaben ist nach Maßgabe des jew. Landesgesetzes genehmigungsfrei.

In der Bauleitplanung ist die Eingriffsregelung Teil der städtebauordnerischen Gesamtabwägung. So sollen Eingriff und Ausgleich in ein Gesamtkonzept eingebunden werden.

Inhaltsverzeichnis

Zusammenfassung

Allgemeines

Eingriffe in Natur und Landschaft sind immer eine bestimmte Fläche des Erdbodens beanspruchende Vorhaben. Es stehen sich mithin bei Vorhaben, die einen solchen Eingriff darstellen oder zur Folge haben, zwei entgegengesetzte Interessen gegenüber: zum Einen das Interesse des Vorhabensträgers an der Durchführung seines Projektes, zum Anderen die Belange des Natur- und Landschaftsschutzes (hier insbesondere: geringstmöglicher „Verbrauch von Natur und Boden”).

Um diesem Interessengegensatz beizukommen und ihn weitestmöglich beizulegen hat sich eine gestufte Regelung, wie sie auch das BNatSchG vorsieht, als wohl probatestes Mittel erwiesen. So nimmt es nicht Wunder, dass auch das US-amerikanische Umweltrecht für Vorhaben, die Eingriffe in bestimmte schützenswerte Gebiete darstellen oder zur Folge haben, ein nahezu deckungsgleiches Verfahren kennt. Dass dort jedoch nur Feuchtgebiete (nach der Sektion 404 des Clean Water Act) und Habitate bestimmter geschützter Arten (nach dem Endangered Species Act) solchermaßen geschützt sind, liegt am eher punktuellen Ansatz des US-amerikanischen Naturschutzrechts und vermag nichts über die grundsätzliche Eignung der gestuften Eingriffs-Ausgleichs-Regelung auszusagen.

Definition Eingriff

Der Begriff des Eingriffes wird im § 18 BNatSchG definiert. Der Inhalt lautet:

„Eingriffe in Natur und Landschaft im Sinne dieses Gesetzes sind Veränderungen der Gestalt oder Nutzung von Grundflächen oder Veränderungen des mit der belebten Bodenschicht in Verbindung stehenden Grundwasserspiegels, die die Leistungsfähigkeit des Naturhaushalts oder das Landschaftsbild erheblich beeinträchtigen können.“

Die Ländergesetze – z. B. das Landschaftsgesetz NRW (LG NRW) – regeln im Einzelnen, welche Vorhaben (Straßenbau, Gewerbeansiedlung) als Eingriffe gelten oder grundsätzlich nicht als Eingriffe anzusehen sind. Stellenweise erfolgt dies durch untergesetzliche Regelwerke (Rechtsverordnung, z.B. in Rheinland Pfalz (Landesverordnung über die Bestimmung von Eingriffen in Natur und Landschaft v. 19. Dezember 2006)

Vermeidungs- und Minimierungsgebot, Untersagung

Man unterscheidet zwischen

  • „vermeidbaren“ negativen Auswirkungen (Beeinträchtigungen) und
  • „unvermeidbaren“ Auswirkungen (dto.).

Vermeidbare Beeinträchtigungen müssen vermieden werden. Unvermeidbare Beeinträchtigungen müssen soweit als möglich minimiert werden. Bleiben Beeinträchtigungen übrig, müssen sie kompensiert werden (BNatSchG § 19); an Ausnahmen sind hohe Forderungen geknüpft.

Näheres regeln die Ländergesetze. Dabei geht es meistens nicht darum, ob ein Eingriff an sich vermeidbar wäre. Eine Untersagung des Eingriffs im Zuge der Eingriffsregelung ist nur auf Umwegen (Rechtsmängel, Rechtsbruch) und daher nur implizit möglich (neues Naturschutzgesetz). In der Praxis werden solche Hindernisse meistens im Planungsprozess ausgeräumt (die Planung wird modifiziert).

Kompensationsmaßnahmen

Die Minimierung von Beeinträchtigungen kann zum Beispiel dadurch erfolgen, dass man das Dachabflusswasser von einem Neubau im Boden versickern lässt, anstatt es in die Regenwasserkanalisation zu leiten, soweit nicht Wasserrecht des jeweiligen Bundeslandes entgegensteht.

Die Kompensation der Beeinträchtigungen lässt sich erreichen:

  • durch Ausgleich (Kompensation im räumlich und funktionalem Zusammenhang): Die beeinträchtigte Funktion des Naturhaushaltes wird am selben Ort zeitnah durch eine andere Maßnahme verbessert. Beispiel (s.o.): Durch die Versiegelung eines Straßenneubaus wird die Grundwasserneubildung verringert. In unmittelbarer Nähe wird eine alte Straße auf derselben Fläche abgebaut (Rückbau). Dieselbe Menge Regenwasser kann versickern, die Beeinträchtigung der Funktion ist ausgeglichen.
  • durch Ersatz (Kompensation durch in der Regel nicht-funktionale, aber „gleichwertige“ Maßnahmen im räumlichen Zusammenhang, nur in schwierigen Fällen nicht im räumlichen Zusammenhang.): Natur und Landschaft werden an anderer Stelle (weit entfernt) verbessert oder eine andere Funktion wird in der Nähe aufgewertet. Statt des Rückbaus werden beispielsweise Bäume gepflanzt oder der Rückbau findet woanders statt. Es können aber auch Baumpflanzungen an anderer Stelle stattfinden. Ersatzmaßnahmen sollen mit der einschlägigen Landschaftsplanung übereinstimmen.

Flächenpools: Kompensationsflächen und -maßnahmen können in sog. Pools zusammengefasst werden. Der Oberbegriff „Pools“ wird in der Praxis in verschiedenen Formen umgesetzt:

  • Flächen, die für Kompensationsmaßnahmen geeignet sind, können in Katastern zusammengefasst werden. In diesem Fall wird meist die Eignung und Verfügbarkeit der Flächen vorgeprüft, aber es werden noch keine konkreten Schritte zur Umsetzung der Maßnahmen unternommen. Ein räumlicher Zusammenhang der Flächen ist nicht unbedingt erforderlich
  • Es können – meist zusammenhängende – Flächen bereits für Kompensationsmaßnahmen gesichert werden, z. B. durch Erwerb. Ziel ist hier oft, komplexe Naturschutzmaßnahmen auf zusammenhängenden Flächen zu ermöglichen
  • Wenn auf Poolflächen bereits im Voraus Kompensationsmaßnahmen durchgeführt werden, spricht man von „Flächen- und Maßnahmenbevorratung“.

Pools sind ca. seit der BauGB-Novelle 1998, die eine Diskussion über Flexibilisierung der Eingriffsregelung in Gang setzte, ein im Naturschutz vieldiskutiertes Konzept. Es gibt mittlerweile etliche Praxisbeispiele und Institutionen (z. B. Flächenagenturen), die Pools für die Eingriffsregelung entwickeln.

Ausgleichszahlung: In Ausnahmefällen können Eingriffe mit nicht kompensierbaren Beeinträchtigungen durch eine Ausgleichszahlung abgegolten werden. Dies ist in den jeweiligen Naturschutzgesetzen der Länder geregelt. Die Herleitung der Ausgleichssummen ist von Land zu Land extrem unterschiedlich.

Verfahren der Eingriffsregelung

Die Anwendung der Eingriffsregelung erfolgt in einer Abfolge einzelner sachlich abgegrenzter, aufeinander aufbauender Arbeitsschritte, die sich aus den Fragestellungen und dem Prüfauftrag der Eingriffsregelung ergeben.

Entscheidungsbaum der Eingriffsregelung

A: Maßnahme: Liegt ein Eingriff nach § 18 BNatSchG bzw. der jeweiligen landesrechtlichen Bestimmung vor?

  • Nein = Eingriff-Ausgleich-Regelung ist nicht notwendig
  • Ja: Beeinträchtigung vermeidbar?
    • Ja: Beeinträchtigung unterlassen.
    • Nein: Beeinträchtigung minimierbar?
      • Ja: Beeinträchtigung minimieren.
      • Nein, bzw, minimierte Beeinträchtigung bleibt zurück: Kompensation möglich?
      • *Ja: Weiter bei B.
      • *Nein: weiter bei C.

B:

  • Beeinträchtigung räumlich-funktional auszugleichen?
    • Ja: Beeinträchtigung räumlich-funktional ausgleichen.
    • Nein: Widerspricht ein entkoppelter (räumlich-funktional) Ersatz den örtlichen Zielen?
      • Nein: Die Beeinträchtigung ist entkoppelt an anderen Orten zu Ersetzen, der Eingriff wird durchgeführt.
      • Ja: Weiter bei C.

C:

  • Widerspricht eine zurückbleibende Beeinträchtigung den örtlichen Zielen?
    • Ja: Der Eingriff ist zu unterlassen
    • Nein: Geht Natur und Landschaft im Rang vor? (Abwägung)
      • Ja: Der Eingriff ist zu unterlassen.
      • Nein: Der Eingriff wird durchgeführt.

Ablauf

  • Schritt 1: Festlegung des vom geplanten Eingriff voraussichtlich betroffenen Raumes.
    Welcher Raum wird von den geplanten Bauvorhaben voraussichtlich betroffen?
  • Schritt 2: Erfassung und Bewertung von Natur und Landschaft im vom Eingriff betroffenen Raum.
    Welche Bedeutung hat die Ausprägung von Natur und Landschaft dieses Raumes für den Naturschutz und die Landschaftspflege?
  • Schritt 3: Ermittlung und Bewertung von Beeinträchtigungen der Leistungsfähigkeit des Naturhaushaltes und des Landschaftsbildes durch den geplanten Eingriff.
    Können Natur und Landschaft durch die geplanten Bauvorhaben beeinträchtigt werden?
  • Schritt 4:Vermeidung von Beeinträchtigungen.
    Können diese Beeinträchtigungen vermieden werden und welche Vorkehrungen zur Vermeidung sind erforderlich?
  • Schritt 5: Minimierung der Beeinträchtigungen: Wie sind unvermeidbare Beeinträchtigungen zu minimieren?
  • Schritt 6: Ermittlung der Ausgleichbarkeit erheblicher Beeinträchtigungen und Festlegung von Ausgleichsmaßnahmen.
    Können die unvermeidbaren erheblichen Beeinträchtigungen ausgeglichen werden und welche Ausgleichsmaßnahmen sind erforderlich?
  • Schritt 7: Festlegung von Ersatzmaßnahmen.
    Welche Ersatzmaßnahmen sind für die nicht ausgleichbaren Beeinträchtigungen erforderlich?
  • Schritt 8: Gegenüberstellung von Beeinträchtigungen und Vorkehrungen zur Vermeidung, Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen.
    Werden die Eingriffsfolgen den Verpflichtungen der Eingriffsfolgen gemäß bewältigt?

Vorschriften zur Anwendung in der Bauleitplanung

Bebauungsplan

Seit Inkrafttreten des Investitionserleichterungs- und Wohnbaulandgesetzes 1993 (Art.5), das die Planungs- und Genehmigungsverfahren verkürzen sollte, wird die Eingriff-Ausgleich-Regelung im besiedelten Bereich nicht mehr im einzelnen Baugenehmigungsverfahren angewendet, um diese Verfahren zu beschleunigen.

Die Eingriff-Ausgleich-Regelung ist auf die Ebene des Bebauungsplans (B-Plan) vorverlagert, bereits bei Aufstellung und Änderung des B-Planes als Teil der bauleitplanerischen Abwägung anzuwenden und nicht erst bei dessen Verwirklichung durch konkrete Bauvorhaben. Damit soll sichergestellt werden, dass die Belange des Naturschutzes trotz der Lockerung planerischer Anforderungen für einzelne Bauvorhaben nicht unberücksichtigt bleiben. Die notwendigen Kompensationsmaßnahmen werden als Ergebnis des bauleitpanerischen Abwägungsprozesses verbindlich festgesetzt. Dazu gehören Festsetzungen nach §§ 5 Abs. 2 (10) und 9 Abs. 1a BauGB, soweit sie als Kompensationsmaßnahmen im Sinne der Landschaftsplanung gelten.

Kompensationsmaßnahmen sollen spätestens bei Verwirklichung der Planung von den Bauherrschaften umgesetzt werden. Soweit Kompensationsmaßnahmen in öffentliche Flächen verlagert wurden, können die Kommunen die Kosten auf die Bauherrschaften umlegen (§ 135a Baugesetzbuch) (Verursacherprinzip). Ob Kompensationsmaßnahmen als Darstellung in den Bebauungsplan übernommen werden oder über einen städtebaulichen Vertrag gem. § 11 BauGB durchgeführt werden, hängt von den übergeordneten, verbindlichen örtlichen Zielen ab. Diese Ziele sind im Flächennutzungsplan oder im Landschaftsplan, sofern er alleine Rechtsverbindlichkeit besitzt (Ländersache), aufgeführt. Kann eine Kompensation nicht erfolgen (letztlich eine politische Entscheidung), und widerspricht dies nicht den Zielen übergeordneter Planung, wird im Rahmen des § 1 BauGB abgewogen, welche Belange im Rang vorgehen.

Abwägungsgebot in der Bauleitplanung

Voraussetzung einer gerechten Abwägung der öffentlichen Belange untereinander ist, dass drei wesentliche Anforderungen eingehalten werden: (1) die entscheidungserheblichen Belange (d. h. die Fakten) müssen ausreichend ermittelt sein, sie müssen (2) entsprechend ihrer Bedeutung gewichtet und es müssen (3) die unterschiedlichen und häufig auch gegenläufigen privaten und öffentlichen Belange in ein angemessenes Verhältnis zueinander gebracht werden. Es besteht aber ein planerischer Gestaltungsspielraum, in der Kollision unterschiedlicher Belange und Interessen einer bestimmten Lösung den Vorzug zu geben und damit notwendigerweise andere Interessen hintenanzustellen. Werden einzelne Schutzgüter oder Belange ohne plausible Erklärung nicht untersucht oder gar nicht erwähnt, kann dies zu einem „Abwägungsfehler“ führen. Ein Mangel liegt auch vor, wenn die von der Landschaftsplanung vorgeschlagenen Kompensationsmaßnahmen ohne ernsthafte Prüfung der Realisierbarkeit als nicht realisierbar zurückgewiesen werden.

Vorhaben im Innenbereich (§ 34 BauGB)

Im im Zusammenhang bebauten Innenbereich (Flächen innerhalb von Siedlungen, die meistens im Flächennutzungsplan als Bauflächen gekennzeichnet sind) ohne gültigen Bebauungsplan (§ 34 BauGB) ist die Eingriffsregelung nicht anzuwenden (§ 21 Abs.2 BNatSchG).

Das bedeutet, dass auf einem vollständig unbebauten Grundstück nach § 34 BauGB eine Neubebauung zulässig ist, die sich am Gebietscharakter orientiert. Festsetzungen des Flächennutzungsplanes und anderer Vorschriften müssen aber beachtet werden. Die Baubehörde setzt die zuständige Umweltbehörde (in der Regel die untere Naturschutzbehörde) von dem Vorhaben in Kenntnis. Die Naturschutzbehörde hat eine Frist von 4 Wochen, um zu dem Vorhaben Stellung zu nehmen. Äußert sie sich nicht, wird „nach Aktenlage“ entschieden.

Die Durchsetzungsmöglichkeiten der Naturschutzbehörde erstrecken sich hierbei kaum auf die Eingriffsregelung, weil diese nicht anzuwenden ist (s.o.), sondern nur auf andere Bereiche des Naturschutzes (z. B. Artenschutz).

Gebietscharakter

Der Gebietscharakter orientiert sich an der Bebauung der Umgebung. Der Gebietscharakter kann durch verschiedene Merkmale geprägt sein. In der Regel sind es Art und Maß der baulichen Nutzung, z. B. Wohnen und Gewerbe als Art, Geschossfläche und überbaute Grundstücksfläche als Maß (vgl. auch Baunutzungsverordnung (BauNVO)). Aber auch andere wesentliche gestalterische Merkmale der Nachbarbebauung wie Dachformen, die im Bebauungsplan auch festgesetzt werden könnten, können den Gebietscharakter ausmachen. Dies bezieht sich immer auf relativ einheitliche Gebiete, in denen eine Abstrahierung der Merkmale möglich ist. Ein sehr inhomogenes Gebiet ist wie ein Außenbereich zu behandeln, wenn keine Merkmale abstrahiert werden können. Dazu gibt es im Einzelfall unterschiedliche Urteile, Kommentare und Vorgehensweisen.

Vorhaben im Außenbereich (§ 35 BauGB)

Im Außenbereich nach § 35 BauGB (außerhalb geschlossener Ortschaften) gelten für Bauvorhaben vor Anwendung der Eingriff-Ausgleich-Regelung verschärfte Bedingungen. Nur gewisse Nutzungen haben einen Rechtsanspruch auf Prüfung der Zulässigkeit von Bauvorhaben, z. B. Fernmeldewesen, Landwirtschaft, Forschung etc., und Vorhaben im „öffentlichen Interesse“; sofern sie den Darstellungen im Flächennutzungsplan, übergeordneten Planwerken und anderen öffentlichen Belangen, z. B. den Festsetzungen eines (Natur-, Landschafts-) Schutzgebietes, nicht widersprechen. Die Eingriff-Ausgleich-Regelung ist hier immer anzuwenden.

Kompensation

§ 200a des BauGB definiert die Voraussetzungen für eine zeitliche, räumliche und funktionale Entkoppelung von Kompensationen. Die zeitliche und räumliche Entkoppelung ermöglicht die Einführung von „Ökokonten“. Sie dienen vorwiegend dazu, Kompensationsmaßnahmen vorhalten zu können, um schneller auf Investitionswünsche zu reagieren. Das Ökokonto sollte nicht dazu dienen, Kompensationen von vornherein räumlich-funktional entkoppelt durchzuführen. Eine Entkoppelung ist nur zulässig, solange sie den (örtlichen) verbindlichen Zielen der Landschaftsplanung, im Landschaftsplan festgelegt, oder den Festsetzungen und Zielen (auch textlich formulierte Ziele) der übergeordneten Planung nicht widerspricht. Dies ist vor allem in Gebieten städtischer Überwärmung, hinsichtlich des Grundwasserschutzes und auch hinsichtlich der Freiraumversorgung zu beachten.

Zur Festlegung der Kompensationsmaßnahmen werden unterschiedliche Verfahren angewendet. Eines davon ist das (umstrittene) Biotopwertverfahren.

Abweichende Vorschriften

Je nach Land und Art der Vorhaben können aber auch weitergehende Vorschriften gelten (Landesnaturschutzgesetze). Sie können auch für nicht kompensierbare Beeinträchtigungen Ausgleichszahlungen ermöglichen. Weitere bundesweite Abweichungen sind:

  • raumbedeutsame Planungen (Bergbau, Windenergie, etc., Fernstraßen unterliegen dem Umweltverträglichkeitsprüfungsgesetz)
  • Gebiete, die die Kriterien der Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie entsprechen, unabhängig davon, ob sie förmlich gemeldet sind oder nicht: Hier sind weiträumig Alternativen zu prüfen. Das Abwägungsgebot ist eingeschränkt, FFH-Gebiete sind bei der Abwägung besonders zu berücksichtigen (EU-Recht bricht Bundesrecht!).
  • besonders geschützte Biotope nach § 30 Bundesnaturschutzgesetz oder der Landesnaturschutzgesetze, unabhängig von ihrem Meldestatus, sind bei der Abwägung besonders zu berücksichtigen (Bundesrecht bricht Satzung!).

Problemfeld Biotopwertverfahren

Zur Festlegung der Kompensationsmaßnahmen (in der Regel Ersatzmaßnahmen) und Ersatzzahlungen für Beeinträchtigungen der Natur durch Eingriffe werden unterschiedliche Verfahren angewendet. Eines davon ist das (umstrittene) Biotopwertverfahren.

Ursprungsziele

Der Genese solcher Verfahren lag zunächst das Ziel zugrunde, einen Berechnungsschlüssel für Ersatzzahlungen zu erhalten. Es ging also nicht darum, Eingriff und Ausgleich aus der ökologisch funktionalen Analyse in eine womöglich rein numerisch abstrakte Berechenbarkeit zu überführen. Vielmehr sollte das Biotopwertverfahren erst dann greifen, so ausdrücklich in der Erstausgabe der 1992 als Richtlinie eingeführten hessischen Version ausgeführt, wenn ein Eingriff nicht funktional zu kompensieren war und sich dadurch die Notwendigkeit der Ersatzzahlung ergab. Erst später wurde versucht, Biotopwertverfahren auch in der Eingriffs-Ausgleichsanalyse zu etablieren, was vor allem in der Bauleitplanung zu erheblichen Problemen führte.

Methodischer Ansatz

Der „Wert“ von Eingriff und Ausgleich ist in allen seinen Schädigungs- und Wohlfahrtswirkungen für den Naturhaushalt im Rahmen der Landschaftsplanung, aber auch mit den aufwendigsten wissenschaftlichen Untersuchungen nach heutigem Kenntnisstand nicht zu ermitteln. Trotzdem wurden vor allem seit den 1990er Jahren unter dem Druck, den Umfang der Ausgleichsmaßnahmen in ein gerechtes Verhältnis zu den Eingriffswirkungen zu setzen, etliche Bilanzierungsverfahren vorgestellt. Normative, generalisierende Verfahren mit dem Ziel einer „Berechenbarkeit“ der Auswirkungen führen aber nach Ansicht der Kritiker mangels gesicherter Grundlagen zu Scheingenauigkeit, mit der quasiwissenschaftlich bis zum „Beweis“ einer ausgeglichenen Bilanz mit einer bemerkenswerten Zahlenakrobatik (FRITSCH 2003) weitergerechnet wird. Dem sei u. a. entgegenzuhalten, dass es sich bei der gesamten Eingriffsregelung eben nicht um eine naturwissenschaftlich begründbare Bewertung, sondern vielmehr um eine gesellschaftspolitische Setzung handle. Im Rahmen dieser Setzung seien weitere Konventionen zulässig, solange sie sich im gesetzten Rahmen bewegten.

Bauleitplanung

Zwar hat schon am 23. April 1997 das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG 4 NB 13.97) festgestellt (Leitsatz), dass die Gemeinde bei der Aufstellung von Bauleitplänen, die Eingriffe in Natur und Landschaft erwarten lassen, nicht an standardisierte Bewertungsverfahren gebunden ist (vgl. Städte- und Gemeindebund NRW 1997). Dies steht aber einer Anwendbarkeit des Verfahrens im Umkehrschluss nicht entgegen (vgl. VGH Kassel, Urteil vom 25. Februar 2004 - 9 N 3123/01).

Legitimität

Noch früher, bereits in den 1980er Jahren, ist in ökologischen Fachveröffentlichungen die Illegitimität einer solchen Vorgehensweise behauptet worden. Die Gültigkeit eines solchen Verfahrens kann also nur politisch vorbereitet und legislativ eingesetzt werden (z. B. „Biotopwertverfahren“). Wer sich aber der inneren Logik eines solchen Systems unterwirft, das Biotopen, Strukturausprägungen und Arten Zahlenwerte zuordnet, ist auch gezwungen, immer feineren Verästelungen seiner Wertzuweisungen zu folgen, denn die Natur hat in der Evolutionsspanne ihrerseits eine hochdifferenzierte ökologische Vielfalt hervorgebracht. Dieses tut der Anwender zudem in dem Bewusstsein, dass die „groben“ Ursprungswerte mangels Erkenntnis des Wirkungsgefüges im Naturhaushalt gar nicht im rechten Verhältnis zueinander stehen können. Zumindest zeigt die Verwaltungspraxis seit Bestehen von Biotopwertverfahren, dass funktional ausgeglichene Eingriffe dennoch zu negativen Biotopwertbilanzen führen können.

Zu einem Kernproblem der normativen Verfahren könnte werden, dass sie auf die vorbereitete Planung zurückwirken und die subjektiven fachlichen Überzeugungen und Qualifikationen des Planenden beschneiden können. Dieser hat wesentliche Funktionen des Naturhaushalts herausgestellt, für deren Beeinträchtigung er eine Kompensation finden muss. Ein Kardinalbeispiel kann die Vernichtung eines Artlebensraums sein, der an anderer Stelle wieder herzustellen ist. Die Notwendigkeiten der Ausgleichsplanung können aber in der Bilanzierung höchstens zufällig mit dem Rechenverfahren zusammenpassen. Dem stehen allerdings in verschiedenen Biotopwertverfahren mehr oder weniger geeignete Korrekturmöglichkeiten entgegen, die eine Anpassung der Grundbewertungen an die jeweilige räumliche Situation (z. B. besondere Umgebung, Landschaftsbild) ermöglichen. Die Entscheidung, ob dem Planer oder dem Normsystem der Vorrang einzuräumen ist, erübrigt sich; die Festlegungen zum Ausgleichsumfang gehen in die Begründung zum Bebauungsplan ein und sind damit einer Normenkontrollklage zugänglich. Normierte Bilanzen können trotz ihrer angeblichen Scheingenauigkeit der rechtlichen Überprüfung im Einzelfall durchaus standhalten (vgl. VGH Kassel a.a.O.). Auch die Länderarbeitsgemeinschaft Naturschutz schließt nicht aus, dass Biotopwertverfahren zu validen Ergebnissen führen.

Dagegen ist die fachlich-argumentative Bilanz eines in sich schlüssigen Fachgutachtens „Landschaftsplan“ ungleich schwieriger zu konkretisieren, gerade weil sie einen Unschärfebereich beinhaltet. Umgekehrt würde es zu einem Zahlenchaos führen, würden Abwägungen wie die Erhaltung von landwirtschaftlicher Fläche vs. deren Verfügbarkeit für Ersatzmaßnahmen aufgrund abstrakt numerischer Validitäten von Biotopwertverfahren respektive Zusatzbewertungsverfahren unterworfen.

Verfahren

Dem Biotopwertverfahren liegt der Ansatz zugrunde, dass man für alle auf einer Gesamtfläche vorkommenden Zustände einen gleichen Nenner zugrundelegt, auf dessen Basis jedem Zustand ein pro m² ermittelter Biotopwert zugeordnet wird. Beispiel für das Verfahren „Bodenseekreis“ (Auszug, Stand 2000, vgl. HORNSTEIN 2000):

  • Streuobstwiese 50 Pt/m²
  • Weide 21 Pt/m²
  • Acker, intensiv bewirtschaftet 13 Pt/m²
  • Grünfläche (Wiese) entl. Straße 14 Pt/m²
  • Grünland (Wiese) am Feldweg intensiv genutzt 21 Pt/m²

So werden Situationen vor und nach einem Eingriff jeweils als ein Mosaik aus verschiedenen Biotopwerten als Σ(Pt x m² Teilfl.) vor und nach dem Eingriff erfasst. Soweit nach Beurteilung des Anwenders „Schieflagen“ auftreten, können Zu- und Abschläge erfolgen. Hinzu kommen Zusatzbewertungen wie zum Beispiel für das Landschaftsbild. Die Differenz „vor Eingriff“/„nach Eingriff“ wird, wenn ein Punkteverlust festgestellt und der Eingriff nicht als funktional ausgeglichen eingeordnet wird, in eine Ausgleichsabgabe mit einem Kostenindex (KI) umgerechnet, in Hessen zum Beispiel 32 Cent/Pt. (Stand 8/2005). Zur Problematik der Berechnung des KI siehe KLUGE (1998b).

Zwischenzeitlich ist das hessische Biotopwertverfahren durch verschiedene Gerichtsentscheidungen in seiner Validität bestätigt worden (zuletzt: VGH Hessen, Urteil vom 25. Februar 2004 - 9 N 3123/01: „Das Biotopwertverfahren, das der Anlage 2 der Hessischen Ausgleichsabgabenverordnung vom 9. Februar 1995 (GVBl. I S. 120) zugrunde liegt, stellt ein sachgerechtes, aus naturschutzrechtlicher Sicht plausibles Verfahren für die Eingriffs- und Ausgleichsberechnung dar.“). In Hessen ist das Biotopwertverfahren nunmehr in Form der Kompensationsverordnung vom 1. September 2005 (GVBl. I S. 624) anzuwenden, die die bisherige Ausgleichsabgabenverordnung ablöst.

Fazit

Durch die Überlagerung der bundesrechtlichen mit der europäischen Philosophie zum Schutze der Natur sowie der vielen einzelgesetzlichen Regelungen, die durch das Fehlen eines einheitlichen Umweltgesetzbuches bestehen, stellt sich die Eingriffs-Ausgleichs-Regelung sehr zersplittert und unübersichtlich dar.

Untersuchungen zeigen aber deutlich, dass selbst Fachbehörden die Eingriffsregelung häufig nicht verstanden oder nicht vollzogen haben. Eine Überprüfung von Teilaspekten der Eingriffsregelung auf ihren Vollzug hin ergab als Ergebnis: „10 Jahre nach Einführung der Eingriffsregelung in Niedersachsen gibt es einen erschreckenden Mangel in der gesetzeskonformen Handhabung der Eingriffsregelung sowohl bei den Eingriffsverursachern (und ihren Planungsbüros) und Entscheidungsbehörden, als auch innerhalb der Naturschutzverwaltung.“ (Hoffmann und Hoffmann, 1990, cit. in: Breuer, 1993)

Literatur

  • Schumacher/Fischer-Hüftle: Bundesnaturschutzgesetz – Kommentar. 2003, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart, 780 Seiten.
  • Köppel, J.; Feickert, U.; Spandau, L.; Straßer, H.: Praxis der Eingriffsregelung – Schadenersatz an Natur und Landschaft?. Verlag Eugen Ulmer, Stuttgart, 1998: 397 Seiten.
  • Breuer, W.: Erfolgskontrolle für Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen.. Informationsdienst Naturschutz Niedersachsen 13 (5), 1993: Seite 181–186.
  • Aicher, K., Leyser, Th.; Biotopwertverfahren – Gutachten im Auftrag des Hessischen Ministeriums für Landwirtschaft, Forsten und Naturschutz – Oberste Naturschutzbehörde. März 1991.
  • Battefeld, K.-U. in HENatR (Loseblattsammlung), Gl.-Nr. III.4.2 Erläuterungen zu Anlage 2 der Ausgleichsabgabenverordnung (Stand 10. Erg.Lfg., Juni 2001).
  • Fritsch, A. Ffr. v.: Kompensationsflächenmanagement nach dem Leipziger Modell. Tagungsband 5. Sächsische Bodenschutztage, S. 71 ff., Dresden 2003
  • Hess. VGH Urteil vom 25. Februar 2004 Az. 9N3123/01
  • Hess. VGH Urteil vom 27. Juni 1996 Az. 4UE1183/95 mit weiteren Nachweisen
  • Hornstein, H.: Eingriffs- / Ausgleichsbilanzierung – Bewertungssystem und Ökokonto im Bodenseekreis, Überlingen 2000.
  • Kluge, T.: Unsuitability of complex abstract parameters (EPV) as standards for extents of natural functions’ restoration. VII Congr. INTECOL, Florenz 1998a.
  • Kluge, T.: Zur Berechnung eines Kostenindexes (KI) zum Biotopwertverfahren (AVO zu §6b HENatG) Bad Homburg 1998b.
  • Städte- und Gemeindebund NRW; NWStGB-Mitteilung 376/1997 v. 20. Juli 1997: Urteil des BVerwG zur naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung, Düsseldorf 1997.
  • Wagner, S.: Ökokonten und Flächenpools. Die rechtlichen Grundlagen, Möglichkeiten und Grenzen der Flächen- und Maßnahmenbevorratung als Ausgleichsmethoden im Rahmen der Eingriffsregelung im Städtebaurecht, 496 S., Berlin 2007.
  • Spang, Werner Dieter / Reiter, Sven: Ökokonten und Kompensationsflächenpools in der Bauleitplanung und Fachplanung, Erich Schmidt Verlag, Berlin, 2007, ISBN 3-503-09034-7.

Weblinks


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