Einwanderung aus der Türkei in die Bundesrepublik Deutschland

Einwanderung aus der Türkei in die Bundesrepublik Deutschland

Die vermehrte Einwanderung aus der Türkei in die Bundesrepublik Deutschland setzte Anfang der 1960er Jahre zunächst als Arbeitsmigration mit offenem Zeithorizont ein. Begründet wurde sie durch die Unterzeichnung des Anwerbeabkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei am 30. Oktober 1961, nachdem 1958 erstmals ungefähr 150 junge Türken zur Berufsausbildung nach Deutschland gekommen waren. Heute leben Einwanderer aus der Türkei teils bereits in vierter Generation in Deutschland.

Inhaltsverzeichnis

Vorgeschichte

1960 gab es nicht einmal 1500 Türken in der Bundesrepublik.[1] Traditionell hielten sich die meisten von ihnen als Studenten oder Kaufleute in Deutschland auf, weshalb viele keinen dauerhaften Aufenthalt im Sinn hatten. Dementsprechend und zusätzlich durch Kriegszeiten bedingt schwankend stellen sich auch die Zahlen zur türkischen Wohnbevölkerung Deutschlands in den Jahren zuvor dar:[2]

  • 1878: 41
  • 1893: 198
  • 1917: 2046
  • 1925: 1164
  • 1933: 585
  • 1938: 3310
  • 1945: 79

Arbeitsmigration in den 1960ern

Allgemeines

Ab 1961 bekamen türkische Arbeitssuchende die Möglichkeit, sich von deutschen Unternehmen anwerben zu lassen, auf der Grundlage des Anwerbeabkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei betraf dies 678 702 Männer und 146 681 Frauen, also insgesamt 825 383 Menschen, als türkische Gastarbeiter.[3] In diesem Kontingent waren von Anfang an auch Kurden enthalten, die sich erst später von ethnischen Türken in Deutschland abgrenzten.[4] Während der Wirtschaftswunderzeit bestand in Deutschland eine Arbeitskräfteknappheit. Zunächst schloss die Bundesregierung Anwerbevereinbarungen mit Italien (1955), Spanien und Griechenland (1960). Die Initiative für diese Abkommen ging jedoch von den Entsendeländern aus. Diese erhofften sich durch die Entsendung ihrer Arbeitskräfte eine Lösung eigener wirtschaftlicher und sozialer Probleme. Sie wollten ihre aus der westdeutschen Exportstärke erwachsenen Devisenschwierigkeiten lösen, die heimische Arbeitslosigkeit reduzieren oder die ohnedies im Gang befindliche Emigration im Bereich der qualifizierteren Arbeiter kanalisieren und wenigstens deren Abwanderung verhindern.

Die Bundesrepublik hatte wiederum ein Interesse daran, dass Handelspartner als solche erhalten blieben und nicht durch ihre Bilanzdefizite am Handel mit Deutschland gehindert waren. Innenpolitische Motive kamen hinzu. Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt erklärte dazu 2009:

„Im Grunde genommen ging es ihm [dem damaligen Wirtschaftsminister Ludwig Erhard] darum, durch Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte das Lohnniveau niedrig zu halten. Mir wäre stattdessen lieber gewesen, die deutschen Löhne wären gestiegen.“ [5]

Kurz vor dem sich abzeichnenden Ende des Wirtschaftswunders schloss die Bundesrepublik 1961 ein entsprechendes Abkommen mit der Türkei. Das Abkommen kam auf Druck der Türkei zustande. Anton Sabel, Präsident der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung (Vorläufer der Bundesagentur für Arbeit), äußerte am 26. September 1960, arbeitsmarktpolitisch sei eine Vereinbarung über eine Anwerbung türkischer Arbeitnehmer in keiner Weise notwendig, allerdings könne er nicht beurteilen, „wie weit sich die Bundesrepublik einem etwaigen solchen Vorschlag der türkischen Regierung verschließen kann, da die Türkei ihre Aufnahme in die EWG beantragt hat und als NATO-Partner eine nicht unbedeutende politische Stellung einnimmt.“ [6]

Zunächst verhandelte die Bundesregierung zurückhaltend, da die große kulturelle Differenz zur Türkei als problematisch angesehen wurde. Insbesondere auf Druck der US-Regierung kam das Abkommen 1961 zustande.

Die USA hatten im Rahmen des Kalten Krieges ein großes Interesse an der Stabilisierung der Türkei und somit der Nato-Südostflanke. Zunächst war nicht daran gedacht, dass die als „Gastarbeiter“ bezeichneten Arbeitskräfte dauerhaft in Deutschland bleiben sollten.

Beschreibung des Anwerbungsprozederes

Arbeitgeber in der Bundesrepublik meldeten ihren Arbeiterbedarf als „Anforderungen“ über eine deutsche Verbindungsstelle in Istanbul an die Auslandsabteilung der türkischen Anstalt für Arbeit und Arbeitsvermittlung IIBK, die ihrerseits wiederum eine vorselektierte Auswahl an Arbeitern an die deutsche Verbindungsstelle zur weiteren Prüfung entsandte. Neben diesem Prozedere gab es noch eine zweite Gruppe Anforderungen, die personenbezogen waren und ohne Prüfungen in der deutschen Verbindungsstelle vonstatten gingen.

Bewerber für die Arbeit in der Bundesrepublik unterlagen bei ihrer Registrierung bei der IIBK, wenn nicht ein offensichtlich schlechter Gesundheitszustand sie schon von vornherein von der Vermittlung ausschloss, bestimmten Altersgrenzen. Diese lagen für qualifizierte Kräfte zuletzt bei 40 Jahren, für weibliche Arbeiter bei 45, Bergmänner durften höchsten 35 Jahre alt sein und für unqualifizierte Kräfte war das 30. Lebensjahr die Grenze.[7] Für die Vorstellung zur Registrierung waren ein Lichtbild, ein Personalausweis, ein adressiertes und frankiertes Briefcouvert und möglichst Zeugnisse, Bescheinigungen sowie Angaben über die Berufsqualifikation mitzubringen. Insgesamt bewarben sich so zwischen 1961 und 1973 über 2,6 Millionen Menschen um einen Arbeitsplatz in der Bundesrepublik.[8] Wer von der IIBK für die Vorstellung bei der deutschen Verbindungsstelle in Istanbul ausgewählt worden war, musste dort noch zwei Abteilungen und fünfzehn Prüfungen der deutschen Behörde durchlaufen. Die erste Abteilung überprüfte die Vermittlung durch das IIBK. Zunächst versuchte man die berufliche Eignung und Qualifikation genauer zu bewerten: in diesem Zusammenhang gab es Lese- und Schreibtests, Überprüfung des beruflichen Wissensstandes mittels eines Dolmetschers oder vor Ort bei der praktischen Arbeit in einem Unternehmen. Nach dem erfolgreichem Absolvieren der ersten Verbindungsstellenabteilung folgte eine umfangreiche Gesundheitsprüfung.

Reise in die Bundesrepublik Deutschland

Die meisten Arbeitsmigranten wurden von Istanbul aus in Sonderzügen in die Bundesrepublik gebracht. Die während der gesamten 1960er Jahre zunächst über Griechenland führende Route bedeutete für die Arbeiter eine mindestens fünfzigstündige Fahrt. Ab den Siebzigern gab es dann eine direktere Einreisemöglichkeit über Bulgarien.

Verstärkter Familiennachzug in den 1970ern

Eine zweite Phase der Einwanderung ist in der Zeit nach dem alle Vertragsländer betreffenden allgemeinen Anwerbestopp am 23. November 1973 zu sehen, in der ein verstärkter Familiennachzug erfolgte.

Bereits Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre war bei türkischen genauso wie bei Gastarbeitern anderer Herkunft Familiennachzug zu beobachten. Hierdurch mehrten sich in der deutschen Diskussion die Zweifel an einer sinnvollen Kosten-Nutzen-Abwägung bezüglich der Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer sowie die Angst vor sozialen Konflikten.[9]

Der als Reaktion darauf zu verstehende Anwerbestop am 23. November 1973 und die damit einhergehende Regelung, Einwanderung in die Bundesrepublik nur noch im Zusammenhang mit Eheschließung oder Familienzusammenführung zuzulassen, löst Ängste bezüglich eventuell folgender, noch strengerer Maßnahmen aus. Dies verhinderte die beabsichtigte Konsolidierung der Ausländerzahlen und führte stattdessen zu einem deutlichen Anstieg insbesondere der türkischen Wohnbevölkerung in Deutschland.

Der Migrationswissenschaftler Karl-Heinz Meier-Braun bemerkt hierzu:

„Der Anwerbestop forderte den Familiennachzug [...] geradezu heraus. Das gilt auch für eine Maßnahme aus dem Jahre 1975, als die Kindergeldsätze für ausländische Kinder, die im Heimatland geblieben waren, gekürzt wurden. Die Statistik zeigt deutlich, wie die Zahl der Zuzüge durch diese beiden Maßnahmen angestiegen ist.“[9]

Der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt erklärte dagegen 2009:

„Ich habe die weitere Zuwanderung von Ausländern gestoppt, ganz leise, weil ich keine Ausländerfeindlichkeit provozieren wollte. [...] Erst haben wir die Anwerbung aufgehoben, dann haben wir die Rückkehr in die Heimatländer erleichtert, so dass wir am Ende meiner Regierungszeit [1982] nur genauso viele Ausländer hatten wie am Anfang. Zu Zeiten von Helmut Kohl hat sich die Zahl später verdoppelt.“ [5]

Von den 1980ern bis heute

Die politische Lage in der Türkei Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre führte schließlich zu einer weiteren Einwanderung, jetzt Asyl suchender, Flüchtlinge, bisweilen begünstigt durch Bezüge zu der ersten Einwanderergeneration, deren endgültige Niederlassung in der Bundesrepublik um diese Zeit allmählich ihren Abschluss fand.

Ein Militärputsch in der Türkei am 12. September 1980 bewirkte eine neue Einwanderungswelle, die sich wiederum stark auf die demographische Struktur der in Deutschland lebenden Türken auswirkte. Während die türkische Einwanderergesellschaft bis dahin bedingt durch die starke Arbeitsmigration der 1960er und frühen 1970er Jahre mit Ausnahme einer Anzahl miteingewanderter Künstler und Intellektueller im Wesentlichen doch eine Arbeitergesellschaft geblieben war, führten die politischen Verhältnisse in der Türkei nun auch zur verstärkten Einwanderung Angehöriger der intellektuellen Schicht als politische Flüchtlinge.[10] Das schleswig-holsteinische Oberlandesgericht in Schleswig stellte 1995 fest, dass Kurden aus den türkischen Gebieten, für die Kriegsrecht gilt, grundsätzlich als Asylberechtigte anerkannt werden sollten.[11]

Bis in die letzten Jahre hinein sind aus multiplen Gründen weitere Einwanderer aus der Türkei nach Deutschland gekommen. Die finanzielle Förderung einer Rückkehr von Türken in die Türkei in den 1980er Jahren führte zu keinem zahlenmäßig signifikanten Ergebnis.

Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes lebten Ende 2006 in Deutschland insgesamt 6,75 Millionen Ausländer. Davon waren die 1,739 Millionen Türken die größte Gruppe, gefolgt von 535.000 Italienern, 362.000 Polen und 317.000 Serben und Montegriner, 304.000 Griechen und 228.000 Kroaten.[12] Dabei wurden nur Menschen gezählt, die ausschließlich die türkische Staatsangehörigkeit besitzen. In der Zahl „1,739 Millionen“ sind Menschen mit doppelter Staatsangehörigkeit ebenso wenig enthalten wie Türkischstämmige, die ausschließlich die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Andererseits werden hier Kurden mitgezählt, die ausschließlich türkische Staatsangehörige sind.

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Theo Sommer: „Leben in Deutschland (26) – Wie man in Deutschland fremd ist“, DIE ZEIT, 25. März 2004
  2. Ingeborg Böer: Türken in Berlin 1871–1945. Buch, de Grutyer, Erstausgabe 2001
  3. Ferda Ataman: „Türkische Frauen: Die Opferrolle hat ausgedient“, Der Spiegel, 11. März 2007
  4. Navend – Zentrum für Kurdische Studien e.V.: Migration http://www.navend.de/html/kurden/migration.htm
  5. a b Helmut Schmidt, Giovanni di Lorenzo: „Auf eine Zigarette mit Helmut Schmidt“, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2009, S.132-134
  6. Steinert, Johannes-Dieter: Migration und Politik. Westdeutschland – Europa – Übersee 1945-1961, Osnabrück 1995, S.307
  7. Türkische Anstalt für Arbeit und Arbeitsvermittlung: „Rundschreiben Nr. 3./7“, IIBK, 15. April 1966
  8. Aytaç Eryilmaz: „Wie geht man als Arbeiter nach Deutschland?“ In: Aytaç Eryilmaz/Mathilde Jamin (Hg.), Fremde Heimat: Eine Geschichte der Einwanderung; Essen, Klartext, DOMiT, Februar 1998
  9. a b Prof. Dr. Karl-Heinz Meier-Braun: „40 Jahre "Gastarbeiter" und Ausländerpolitik in Deutschland“ (Worddokument ca. 90KB), SWR, 22. Dezember 1995
  10. Nedim Hazar: „Die Seiten der Saz in Deutschland“ In: Aytaç Eryilmaz/Mathilde Jamin (Hg.), Fremde Heimat: Eine Geschichte der Einwanderung; Essen, Klartext, DOMiT, Februar 1998
  11. Urteil – Kurden sind asylberechtigt in: Berliner Zeitung vom 28. April 1995 http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/1995/0428/none/0185/index.html
  12. FAZ: Türkische Migranten in Deutschland

Literatur

  • Irmgard Ackermann: Türken deutscher Sprache. Berichte, Erzählungen, Gedichte, München 1984, ISBN 3-423-10311-6
  • Hasan Cil: Anfänge einer Epoche. Verlag Hans Schlier, ISBN 3-89930-015-7
  • Andreas Goldberg, Dirk Halm, Faruk Şen: Die deutschen Türken. ISBN 3-8258-8232-2
  • Andreas Goldberg, Faruk Şen: Deutsche Türken – Türkische Deutsche?. ISBN 3-8258-4396-3
  • Annemarie von der Groeben: Yıldız und Aytekin. Die zweite Generation erzählt. ISBN 3-7795-0056-6
  • Karin Hunn: „Nächstes Jahr kehren wir zurück...“ – Die Geschichte der türkischen Gastarbeiter in der Bundesrepublik. Wallstein Verlag, Göttingen 2005, ISBN 3-89244-945-7
  • Petra Kappert, Ruth Haerkötter, Ingeborg Böer: Türken in Berlin 1871–1945. de Gruyter Verlag Berlin 2002, ISBN 3-11-017465-0
  • Heike Knortz: Diplomatische Tauschgeschäfte – »Gastarbeiter« in der westdeutschen Diplomatie und Beschäftigungspolitik 1953 - 1973. Böhlau Verlag, Köln, Weimar, Wien 2008, ISBN 978-3-412-20074-9.

Weblinks


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