Enharmonik

Enharmonik

Enharmonische Verwechslung nennt man in der Musik die kompositorische Praxis, Töne als andere Töne umzudeuten, wenn sie in der gleichstufigen Stimmung die gleiche Höhe, jedoch andere Namen haben. Zum Beispiel kann man ein Fis als Ges oder ein His als C betrachten. Dadurch lassen sich der musikalische Zusammenhang und die Funktion der Töne verändern, z. B. um den Wechsel in eine andere Tonart (Modulation) herbeizuführen. Der Begriff ist nur begrenzt gleichzusetzen mit dem Begriff Enharmonik (siehe unten), der ein weitaus größeres Bedeutungsfeld einnimmt.[1]

Die zwölf Halbtöne der aufsteigenden, chromatisch angereicherten C-Dur-Tonleiter werden in der zweiten Notenzeile enharmonisch verwechselt, die übereinander stehenden Töne klingen gleich:

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Hier die unterschiedlichen Benennungen für die zwölf Töne der gleichstufigen Tonleiter; Stammtöne sind hervorgehoben:

His
C
Deses
Hisis
Cis
Des
Cisis
D
Eses
Dis
Es
Feses
Disis
E
Fes
Eis
F
Geses
Eisis
Fis
Ges
Fisis
G
Ases
(Asas)
Gis
As
Gisis
A
Heses
(!)
Ais
B
(!)
Ceses
Aisis
H
Ces

(Theoretisch lässt sich diese Tabelle nach beiden Seiten erweitern; so sind z. B. Gis und As gleich klingend mit Fisisis und Heseses.)

Genau genommen ist in vielen Stimmungen die enharmonische Verwechslung der oben genannten Töne nicht möglich. Beispielsweise ist ein Fis in der mitteltönigen Stimmung tiefer als sein enharmonisch verwechselter Gegenpart, das Ges. In der pythagoreischen Stimmung dagegen ist das Fis höher als das Ges. Spielt man ein Stück mit enharmonischer Verwechslung auf einem mitteltönig gestimmten Cembalo, kann die enharmonische Verwechslung nicht wirklich ausgeführt werden. Die sich ergebende Intonation kann aber durchaus vom Komponisten oder Interpreten so gewollt sein.

Geschichte der Enharmonik und der Enharmonischen Verwechslung

Enharmonik war in der antiken Musiklehre neben Diatonik und Chromatik eine Bezeichnung für eine Art der Tonleiterbildung. In der Musiktheorie der Renaissance wurde der Begriff wieder aufgenommen und unterschiedlich verwendet. In der Musik des 16. Jahrhunderts finden wir daher zweierlei Bedeutungen.[1]

  • Zum einen waren beispielsweise in der neunzehnstufigen Stimmung bei Guillaume Costeley mit enharmonischen Tönen Töne unterschiedlicher Höhe gemeint.
  • Zum anderen gab es in den als gleichstufig bezeichneten Lautenstimmungen derselben Zeit eine Enharmonik mit jeweils denselben Tonorten.

Gegen Ende des 17. Jahrhundert ermöglichten die Wohltemperierten Stimmungen sämtliche enharmonischen Verwechslungen auf jeweils denselben Tonorten. Mit der Möglichkeit, - über die Begrenzungen der mitteltönigen Stimmungen hinaus - auch Cis und Des, Es und Dis, F und Eis, Fis und Ges, Gis und As, B und Ais sowie C und His enharmonisch nicht nur in melodischem, sondern auch in harmonischem Zusammenhang zu verwenden, standen nun sämtliche Tonarten des Quintenzirkels und deren Akkorde sogar für ein Musikstück zur Verfügung.[1] Die Rezitative des Spätbarock sind geradezu geprägt durch ihre intensive Ausnutzung enharmonischer Fortschreitungen. Als bedeutendes Element der Modulation mit Hilfe der enharmonischen Verwechslung wurde der Verminderte Septakkord entdeckt, dessen vier Töne jeweils eine klingende kleine Terz auseinander stehen und sich vielfältig umdeuten lassen.

Ob eine Enharmonische Verwechslung durchgeführt werden konnte, hing also vom verwendeten Stimmungssystem ab. Je näher dieses der Wohltemperierten Stimmung und schließlich der Gleichstufigen Stimmung kam, desto zahlreicher und für das Gehör tolerierbarer ließen sich Enharmonische Verwechslungen verwenden.

In der Musik der Romantik wurde die Tonalität immer mehr erweitert und begann sich im Laufe des 19. Jahrhunderts bei einigen Komponisten aufzulösen. Dabei spielte die Enharmonik eine bestimmende Rolle, so z. B. bei Franz Schubert, Franz Liszt, und Richard Wagner und weiterführend in das 20. Jahrhundert hinein z. B. bei Gabriel Fauré, Claude Debussy, Alexander Nikolajewitsch Skrjabin, Max Reger und dem frühen Arnold Schönberg, denen beispielsweise die enharmonische Umdeutung alterierter Akkorde fast grenzenlose Modulationen und eine nicht mehr unbedingt an einen Grundton gebundene Harmonik ermöglichte.[2]

In der weiteren Entwicklung hin zur Atonalität (speziell in der Dodekaphonie und der ihr folgenden seriellen Kompositionsweise) verlor die Enharmonik jedoch weitgehend ihre bisherige funktionale Bedeutung. Bei enharmonischen Verwechslungen ging es oft nur noch um eine möglichst pragmatische Notation und weniger um eine harmonische Umdeutungen eines Tones.[3] Folgerichtig wurden neue, zwölfstufige Notationssysteme erfunden und teilweise in der Praxis verwendet, die keine enharmonischen Töne mehr enthielten.[4]

Typische Beispiele für die Enharmonische Verwechslung:

Johann Sebastian Bach:
Chromatische Fantasie, enhar­monische Verwechslung as-gis
Franz Liszt:
Chapelle de Guillaume Tell,
enharmonische Verwechslung gis-as
Alexander N. Skrjabin:
Sonate op.70, enhar­mo­nische Ver­wechs­lung des-cis, es-dis

Quellen

  1. a b c Mark Lindley: Stimmung und Temperatur. In: Frieder Zaminer (Hrsg.): Geschichte der Musiktheorie. Bd. 6. Hören Messen und Rechnen in der frühen Neuzeit, S. 109-332, Darmstadt 1987
  2. Arnold Schönberg: Harmonielehre. Universaledition, Neuausgabe Wien 2001, S. 296f, besonders Notenbeispiel 182
  3. Hanns Jelinek: Anleitung zur Zwölftonkomposition, nebst allerlei Paralipomena. 2. Aufl. Wien 1967
  4. http://www.klangreihenmusik.at/skriptum-zwoelftonnotenschr-01gr.php3 Zugriff am 23.1.2007

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