Eristische Dialektik

Eristische Dialektik

Eristische Dialektik ist der Titel eines Textes von Arthur Schopenhauer mit dem Untertitel Die Kunst, Recht zu behalten. Der Begriff eristisch kommt aus dem Griechischen und bedeutet so viel wie „Kunst des Streitens, Kunst des Disputierens“ (zu altgriechisch eristiké téchne). Das Werk stammt aus dem Nachlass Schopenhauers (Arthur Hübscher datiert die Schrift auf 1830/31) mit einer Abhandlung zur Eristischen Dialektik und 38 sogenannten Kunstgriffen. In der Arbeit werden die seit der Antike verwendeten philosophischen Grundbegriffe Eristik (Lehre vom Streitgespräch) und Dialektik (Kunst der Unterredung) angesprochen.

Inhaltsverzeichnis

Überblick

Schopenhauer hat die eristische Dialektik zwar mit dem Untertitel: Die Kunst Recht zu behalten geschrieben, jedoch selbst nie veröffentlicht. Sie wurde erst im Nachlassband 1864 zusammen mit anderem Material von Julius Frauenstädt publiziert. Die dort beschriebenen 38 Kunstgriffe sind erweiternd hinzugefügt, es sind „rhetorische Tricks“ mit einigen Beispielen. Diese sollen belegen wie bestimmte Personen selbst dann (scheinbar) Recht behalten, wenn sie die Unwahrheit vertreten, aber dies als Wahrheit darstellen und (scheinbar) beweisen können.

„Daher entsteht nun in uns die Maxime, selbst wenn das Gegenargument richtig und schlagend scheint, doch noch dagegen anzukämpfen, im Glauben, dass dessen Richtigkeit selbst nur scheinbar sei, und uns während des Disputierens noch ein Argument jenes umzustoßen, oder eines, unsere Wahrheit anderweitig zu bestätigen, einfallen werde: hierdurch werden wir zur Unredlichkeit im Disputieren beinahe genötigt, wenigstens leicht verführt. […] Daraus kommt es, dass wer disputiert in der Regel nicht für die Wahrheit, sondern für seinen Satz kämpft, wie pro ara et focis [für Heim & Herd], und per fas et nefas [im Falle des Rechts wie auch des Unrechts] verfährt, ja wie gezeigt nicht anders kann.“

Schopenhauer[1]

Die 38 Kunstgriffe dienen dazu, in einem Streitgespräch, einer Debatte oder Diskussion die Zuhörer von der eigenen Position zu überzeugen. Schopenhauer stellt darin zum Beispiel dar, wie man Argumente des Gegners unzulässig selbst erweitert und dann diese Erweiterung widerlegt, das zu Beweisende über Umwege postuliert und als wahr geltend macht, obwohl es objektiv nicht wahr ist, und wie man auf andere Weise den Gegner in die Irre führen kann, so dass die Zuhörer, das Auditorium, glauben, der Gegner habe Recht, obwohl man doch selber Recht hat, wie man nach erneuter Prüfung wiederum feststellen kann.

Ziel der Eristischen Dialektik und der Kunstgriffe bei Schopenhauer ist es, zu vermitteln, wie man in einer Debatte Recht behält, und zwar unabhängig davon, ob man in der Sache Recht hat. Ziel ist alleine die Überzeugung der Zuhörer.

„Eristik wäre demnach die Lehre vom Verfahren der dem Menschen natürlichen Rechthaberei […]. Die angeborene Eitelkeit, die besonders hinsichtlich der Verstandeskraft reizbar ist, will nicht haben, dass was wir zuerst aufgestellt [haben] sich als falsch und das des Gegners als Recht ergebe.“

Schopenhauer[1]

Zweck der Dialektik

Im Gegensatz zur „alten“ Dialektik des Aristoteles, konzentriert sich Schopenhauer auf deren praktische Anwendung. Denn wenn es darum geht Recht zu behalten, ist noch nichts über den Wahrheitsgehalt einer Aussage gesagt. Darauf geht Schopenhauer auch nicht weiter ein, denn was nun wahr sei, darum geht es beim Disputieren ja gar nicht. Wahrheit könne mit den Werkzeugen der Logik und Argumentationskette gedreht und gebogen werden. Am Ende geht es eher darum zu „gewinnen“ und die Richtigkeit eines Standpunktes – nicht des Inhaltes dieses Standpunktes – zu beweisen.

Aristoteles bestimmt den Zweck der Dialektik nicht so scharf wie ich getan: er gibt zwar als Hauptzweck das Disputieren an, aber zugleich auch das Auffinden der Wahrheit; später sagt er wieder: man behandle die Sätze philosophisch nach der Wahrheit, dialektisch nach dem Schein oder Beifall, [der] Meinung Anderer. Er ist sich der Unterscheidung und Trennung der objektiven Wahrheit eines Satzes von dem Geltendmachen desselben oder zum Erlangen der Approbation zwar bewusst: allein er hält sie nicht scharf genug auseinander um der Dialektik bloß letzteres anzuweisen. Seinen Regeln zu letzterem Zweck sind daher oft welche zum ersteren eingemengt. Daher es mir scheint dass er seine Aufgabe nicht rein gelöst hat.“

Schopenhauer[1]

Die Basis aller Dialektik

Die Basis aller Dialektik ist, zuvor zu betrachten, was das Wesentliche in einer Auseinandersetzung ist, was dabei vorgeht. Hier gibt es zwei Möglichkeiten:

  • ad rem (zur Sache), d. h. wir zeigen entweder, dass der Satz nicht übereinstimmt mit der Natur der Dinge, der objektiven Wahrheit oder
  • ad hominem (zum Menschlichen) oder ex concessis, d. h. wir zeigen das Falsche in der weiteren Ausführung auf, also in den weiteren Behauptungen (und somit auch in den Schlussfolgerungen).

Struktur der Dialektischen Eristik

Zur Widerlegung gibt es wiederum zweierlei Wege:

Die direkte Widerlegung

Diese greift die These als solche an und soll so zeigen, dass sie nicht wahr ist.

Und dies kann wie folgt geschehen:

  • Man zeigt, dass die Gründe der Behauptung falsch sind (nego majorem = „ich bestreite den Obersatz“ – nego minorem = „ich bestreite den Untersatz“) oder
  • Man akzeptiert die Gründe zwar, bestreitet aber, dass die Behauptung daraus folgert (nego consequentiam = „ich bestreite die Schlussfolgerung“). Wir greifen also die Konsequenz, die Form des Schlusses an.

Wenn möglich, ist immer zu bevorzugen die These „bei ihren Wurzeln zu packen“. Denn eine von Grund auf als falsch bewiesene Aussage überzeugt die Zuhörerschaft mehr, als nur die Falsifizierung der im Schluss verwendeten Logik.

Die indirekte Widerlegung

Diese greift die These bei ihren Folgen an, d. h. weist nach, dass die These nicht wahr sein kann.

Bei der indirekten Widerlegung gebraucht man entweder die Apagoge oder die Instanz:

  • Die Apagoge (griech. „apagogische Logik“ ist der Schluss aus der Falschheit des Gegenteils): Man nehme den Satz zunächst als wahr an. Dann sucht man einen beliebigen anderen wahren Satz, den man mit dem ersten, also der These, in Zusammenhang bringen kann. Diese beiden bilden dann eine neue Prämisse und aus dieser wiederum entwerfe man nun eine Konklusion, die augenscheinlich falsch ist – und weil jene Folgerung falsch war, muss die Prämisse auch falsch gewesen sein (siehe auch: Implikation).
  • Die Instanz: Man zeige, dass die allgemeine Hauptaussage der These auf ein beliebigen speziellen Fall nicht anwendbar ist, somit wäre die These auch als falsch entlarvt.

Es müssen die einzelnen Steine der Grundmauern der These (einzelne in der Aussage begriffene Fälle) herausgehauen werden, damit das ganze Gerüst einbricht.

„Dies ist das Grundgerüst, das Skelett jeder Disputation: wir haben also ihre Osteologie. Denn hierauf läuft im Grunde alles Disputieren zurück: aber dies alles kann wirklich oder nur scheinbar, mit echten oder mit unechten Gründen geschehn; und weil hierüber nicht leicht etwas sicher auszumachen ist, sind die Debatten so lang und hartnäckig. Wir können auch bei der Anweisung das wahre und scheinbare nicht trennen, weil es eben nie zum voraus bei den Streitenden selbst gewiß ist: daher gebe ich die Kunstgriffe ohne Rücksicht, ob man objektive Recht oder Unrecht hat; denn das kann man selbst nicht sicher wissen: und es soll ja erst durch den Streit ausgemacht werden. Übrigens muß man, bei jeder Disputation oder Argumentation überhaupt, über irgend etwas einverstanden sein, daraus man als einem Prinzip die vorliegende Frage beurteilen will: Contra negantem principia non est disputandum. [mit einem, der die Anfangssätze bestreitet, ist nicht zu streiten].“

Schopenhauer[1]

Zusammenfassung

Dies ist das Grundgerüst einer jeden Disputation (Redestreit). Dies alles kann wirklich oder nur scheinbar geschehen, also mit echten oder unechten Gründen. Darüber ist so leicht nichts sicher auszumachen, daher sind die Debatten oft so lang und hartnäckig. Wir können bei der Anweisung auch nicht das Wahre und das Scheinbare sauber trennen, weil es im Voraus bei den Streitenden eben nicht gewiss ist. Deswegen kommt es auf die dialektische Auseinandersetzung an. Das muss geschehen erstmal unberücksichtigt dessen, ob man „objektiv“ Recht oder Unrecht hat, da man ja nicht weiß, mit welchen Mitteln mein Gegner mich übers Ohr hauen will. Deswegen ist diese eristische Dialektik ja notwendig, eben für den Fall, dass sie arg missbraucht wird, da ja mein Gegner vermutlich versucht, diese Dialektik arg zu missbrauchen, mir Unrecht zu geben, obwohl ich objektiv recht habe.

„Die einzig sichere Gegenregel ist daher die, welche schon Aristoteles im letzten Kapitel der Topica gibt: Nicht mit dem Ersten dem Besten zu disputieren; sondern allein mit solchen, die man kennt und von denen man weiß, dass sie Verstand genug besitzen, nicht gar zu Absurdes vorzubringen und dadurch beschämt werden zu müssen; und um mit Gründen zu disputieren und nicht mit Machtsprüchen, und um auf Gründe zu hören und darauf einzugehen, und endlich, dass sie die Wahrheit schätzen, gute Gründe gern hören, auch aus dem Munde des Gegners, und Billigkeit genug haben, um es ertragen zu können Unrecht zu behalten, wenn die Wahrheit auf der anderen Seite liegt. Daraus folgt, dass unter Hundert kaum Einer ist, der es wert ist, dass man mit ihm disputiert.“

Schopenhauer[1]

Weiterführende Konzepte

Im Gegensatz dazu dient die Dialektik der Wahrheitsfindung durch Abwägen und die Logik, die Lehre vom schlüssigen und folgerichtigen Argumentieren, der Überzeugung durch Beweisführung in der Rhetorik. Im besonderen Gegensatz steht die Eristik zur sog. gewaltfreien Kommunikation.

Siehe auch

Weblinks

Einzelnachweise

  1. a b c d e Zitate sind der heutigen Ausdrucks- und Schreibweise angepasst

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