Ernst Fraenkel (Politikwissenschaftler)

Ernst Fraenkel (Politikwissenschaftler)

Ernst Fraenkel (* 26. Dezember 1898 in Köln; † 28. März 1975 in Berlin) war ein deutscher Politikwissenschaftler.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Biographie bis 1933

Fraenkel wuchs als Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie zunächst bei den Eltern in Köln auf. Nach deren frühem Tod zog er zu seinem Onkel Wilhelm Epstein nach Frankfurt am Main. 1915 wurde der 18jährige Fraenkel zum Kriegsdienst eingezogen. Die Tatsache, dass er an der Front eingesetzt war, ermöglichte es ihm im späteren Nationalsozialismus, bis 1938 als Rechtsanwalt tätig zu bleiben. 1918 wurde er Mitglied eines Soldatenrates, verstand sich aber nicht als Revolutionär. Nach seiner Entlassung hatte Fraenkel zunächst vor, Geschichte zu studieren, entschied sich nach Einwirken seines Onkels aber für das Jurastudium (mit Geschichte im Nebenfach). Bei seinem Studium in Frankfurt lernte er Franz Neumann und Leo Löwenthal kennen; gemeinsam gründeten sie 1919 eine Gruppe sozialistischer Studenten. 1921 trat Fraenkel in die SPD ein.

Sein politisches und berufliches Vorbild war der Jurist Hugo Sinzheimer. Als Sinzheimer, der an der Erarbeitung der Weimarer Verfassung mitwirkte, 1919 in Frankfurt die erstmals vergebene Arbeitsrechtsprofessur erhielt, mussten Fraenkel und seine Freunde dessen Antrittsvorlesung gegen protestierende völkische und antisemitische Studentengruppen verteidigen.

Bei Sinzheimer studierte Fraenkel zusammen mit Neumann, Hans Morgenthau, Otto Kahn-Freund und Carlo Schmid und promovierte zum Thema Der nichtige Arbeitsvertrag. Das Studium des modernen Arbeitsrechts bot Fraenkel wichtige Erkenntnisse über das Verhältnis von Recht und Staat, die unter anderem für seine spätere Analyse des Nationalsozialismus grundlegend waren.

In der Zeit der Weimarer Republik arbeitete Fraenkel, teilweise in Sozietät mit Neumann, in Berlin als Anwalt für Arbeitsrecht sowie als Syndikus des Deutschen Metallarbeiterverbands. Außerdem war er weiterhin wissenschaftlich aktiv.

Ehrengrab, Hüttenweg 47, in Berlin-Dahlem

Exilszeit und spätere Jahre

In den ersten Jahren des NS-Staates ermöglichte es ihm das sogenannte „Frontkämpferprivileg“ noch eingeschränkt advokatisch arbeiten zu können. Fraenkel hielt Verbindungen zu mehreren Widerstandsgruppen wie dem Internationalen Sozialistischen Kampfbund (ISK). 1938 sah er sich schließlich gezwungen zu emigrieren und wanderte nach Großbritannien und wenig später in die USA aus. An der New School for Social Research konnte er Vorlesungen halten.

1941 veröffentlichte Fraenkel The Dual State (deutsch: Der Doppelstaat), in dem er noch vor Franz Neumanns Behemoth das politische System des NS-Staates analysierte. Dieser war danach gleichzeitig „Normenstaat“, der das Weiterfunktionieren des kapitalistischen Wirtschaftssystems für den nicht verfolgten Teil der Bevölkerung sicherstellte, und „Maßnahmenstaat“, der mit Rechtsvorschriften, aber auch mit blanker Willkür gegen die als Feinde des Regimes definierten Bevölkerungsgruppen vorging.

Ab 1945 diente Fraenkel der US-Regierung als Berater in Südkorea, war aber schnell unzufrieden mit der seiner Meinung nach schlechten Besatzungspolitik, die die Ausbildung eigener südkoreanischer Strukturen unmöglich machte.

1951 kehrte er nach Deutschland zurück. Er wurde Dozent an der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin, später Professor an der FU Berlin.

In den letzten Jahren vor seinem Tod beschäftigte sich Fraenkel kritisch mit der 68er-Studentenbewegung, der er demokratiefeindlichen Dogmatismus vorwarf. Wie einige andere jüdische Wissenschaftler, z.B. Helmut Kuhn, zog Fraenkel auch eine erneute Emigration in Erwägung.[1]

Fraenkel wurde auf dem Waldfriedhof Dahlem in Berlin-Dahlem beigesetzt. Die Grabstätte gehört zu den Ehrengräbern des Landes Berlin.

Bedeutung

Fraenkels Studie über den „Doppelstaat“ gehört zur Standardliteratur über das nationalsozialistische Deutschland.

Zusammen mit Eric Voegelin, Ferdinand Hermens und Arnold Bergstraesser prägte Fraenkel die deutsche Politikwissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg. Er gab ihr eine interdisziplinäre Ausrichtung und gilt als Vater der Pluralismustheorie in Deutschland. Diese hatte auch wesentlichen Einfluss auf die politische Philosophie des Grundgesetzes.

Fraenkel baute das Otto-Suhr-Institut an der Freien Universität Berlin (FU Berlin) mit auf und gründete 1963 das John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien.

Einzelnachweis

  1. Hartmuth Becker, Felix Dirsch, Stefan Winckler: Die 68er und ihre Gegner. Der Widerstand gegen die Kulturrevolution. Stocker-Verlag, ISBN 3-7020-1005-X, S. 10.

Veröffentlichungen

  • Zur Soziologie des Klassenjustiz, 1927.
  • „Chronik“, in: Die Justiz. Organ des Republikanischen Richterbundes 1931 bis 1933
  • The Dual State, 1941 (deutsch: Der Doppelstaat)
  • Das amerikanische Regierungssystem, 1960
  • Deutschland und die westlichen Demokratien, 1964
  • Gesammelte Schriften, Nomos Verlag, Baden-Baden 1999ff.
    • Band 1: Recht und Politik in der Weimarer Republik. (hrsg. v. Alexander von Brünneck u.a.) 1999
    • Band 2: Nationalsozialismus und Widerstand. (hrsg. v. Alexander von Brünneck) 1999
    • Band 3: Neuaufbau der Demokratie in Deutschland und Korea. (hrsg. v. Gerhard Göhler unter Mitarbeit v. Dirk Rüdiger Schumann) 1999
    • Band 4: Amerikastudien (hrsg. v. Hubertus Buchstein & Rainer Kühn unter Mitarbeit v. Cord Arendes, Peter Kuleßa) 2000
    • Band 5: Demokratie und Pluralismus. (hrsg. v. Alexander von Brünneck u.a.) 2007

Weitere, zum Teil pseudonym veröffentlichte Texte:

  • Hugo Sinzheimer, Aufbau. Jg. 11. 1945, Nr. 40 (5. Oktober 1945), S. 7
  • Christentum, Marxismus, Judentum, Jüdische Revue. Mai 1937, S. 269.
  • Die rechtsphilosophische Bedeutung des Mythos, Ebd., August 1937, S. 475.
  • Mythos und Ratio, Ebd., Mai 1938, S. 291 / Juni 1938, S. 354 / Juli 1938, S. 418.
  • [Fritz Dreher] Der Sinn illegaler Arbeit, Sozialistische Warte. Jg. 10. 1935, Nr. 11 (November 1935), S. 241
  • [Max Gerber] Hitler und die Labour-Party, Ebd., Jg. 11. 1936, Nr. 4 (15. März 1936), S. 95
  • [Max Gerber] Presse-Reform?, Ebd., Jg. 11. 1936, Nr. 20 (15. November 1936), S. 484
  • [Conrad Juerges] Das Dritte Reich als Doppelstaat, Ebd., Jg. 12. 1937, Nr. 2,3 und 4 (15. Januar 1937)

Literatur

  • Alexander von Brünneck: Ernst Fraenkel 1898-1975. Soziale Gerechtigkeit und pluralistische Demokratie. In: Kritische Justiz (Hrsg.): Streitbare Juristen. Eine andere Tradition. Nomos, Baden-Baden 1988, S. 415–425, ISBN 3-7890-1580-6
  • Hubertus Buchstein, Gerhard Göhler (Hrsg.): Vom Sozialismus zum Pluralismus. Beiträge zu Werk und Leben Ernst Fraenkels. Nomos, Baden-Baden 2000, ISBN 3-7890-6869-1
  • Simone Ladwig-Winters: Ernst Fraenkel. Ein politisches Leben. Campus, Frankfurt 2009, ISBN 978-3-593-38480-1 (Rezension bei H-Soz-u-Kult.)
  • Robert Chr. van Ooyen, Martin H. W. Möllers (Hrsg.): (Doppel-)Staat und Gruppeninteressen. Pluralismus, Parlamentarismus, Schmitt-Kritik bei Ernst Fraenkel. Nomos, Baden-Baden 2009, ISBN 978-3832946692
  • Alfons Söllner: Ernst Fraenkel und die Verwestlichung der politischen Kultur in der Bundesrepublik Deutschland (2002). In: Alfons Söllner, Fluchtpunkte. Studien zur politischen Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Nomos, Baden-Baden 2006, S. 201-223
  • Michael Wildt: Die politische Ordnung der Volksgemeinschaft. Ernst Fraenkels "Doppelstaat" neu betrachtet. in: Mittelweg 36, 12. Jg. 2003, H. 2, S. 45–61

Weblinks


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