Ethnologie

Ethnologie

Ethnologie (gr. ἔθνος ethnos „Volk“, „Stamm“ und -logie) oder Völkerkunde ist eine Kultur- und Sozialwissenschaft, die seit Ende des 19. Jahrhunderts (zunächst in Deutschland, dann in Großbritannien, und schließlich in den USA) als eigenständiges Fach an Universitäten gelehrt wird.[1] Zunächst standen außereuropäische, schriftlose und nicht-staatenbildende Gesellschaften und ethnische Gruppen im Mittelpunkt. Heute sind alle Formen sozialer Lebensbewältigung, -führung und -gestaltung Gegenstand ethnologischer Forschung. Das Fachgebiet ist auch nicht mehr auf bestimmte Regionen der Welt beschränkt, auch die stark industrialisierten Länder, sowie urbane Räume,[2] sind Gegenstände des Fachs geworden. Bis vor kurzem wurden kultur/ethnohistorische Studien kaum mehr als zum Beruf des Faches gehörend betrieben, sie dienten meist nur als Vehikel des Verstehens zeitgenössischer Phänomene.[3] Heute umfasst die Ethnologie auch wieder kulturhistorische Studien, sie fokussiert aber nach wie vor hauptsächlich auf das Spektrum der ethnologischen Erforschung der Gegenwart. Dazu gehören neben den nach wie vor mühsamen und entbehrungsreichen Forschungen bei traditionellen Gesellschaften in Übersee auch relativ junge Bereiche wie etwa die Erforschung transnational zusammengesetzter Online-Gemeinschaften[4] und Themen wie die technische Erweiterung des menschlichen Körpers.[5]

Inhaltsverzeichnis

Begriff

Die klassische Völkerkunde wandte ihr Augenmerk vornehmlich der Kultur außereuropäischer und schriftloser Völker zu, die überwiegend in die Gruppe der indigene Völker fallen oder sich selbst als solche verstehen. Heute widmet die Ethnologie sich allen Kulturen. In anderen Ländern haben sich andere Bezeichnungen für das Fach entwickelt. Das Feld der ethnologischen Forschung wird vor allem in der angelsächsischen Sprache mit den Begriffen cultural anthropology (USA) und social anthropology (Vereinigtes Königreich) beschrieben. Der bedeutende französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss nannte sein Programm auch strukturale Anthropologie. Die Fachorganisation der deutschen Ethnologen ist die Deutsche Gesellschaft für Völkerkunde.

Eine deutsche Besonderheit ist die Volkskunde (Europäische Ethnologie). Die Volkskunde untersucht das Andere in der eigenen (deutschen bzw. europäischen) Kultur.

Definitionen einzelner Wissenschaftler:

  • Thomas H. Eriksen: „Anthropologie ist das vergleichende Studium des kulturellen und sozialen Lebens. Ihre wichtigste Methode ist die teilnehmende Beobachtung, welche aus lange andauernder Feldforschung in einem besonderen sozialen Umfeld besteht.“* Clifford Geertz: „Wenn wir entdecken wollen, was den Menschen ausmacht, können wir das nur finden in dem, was die Menschen sind: Und was die Menschen sind, ist höchst unterschiedlich. Indem wir die Verschiedenheiten verstehen – ihr Ausmaß, ihre Natur, ihre Basis und ihre Implikationen – können wir ein Konzept der menschlichen Natur erstellen, mehr ein statistischer Schatten als ein primitivistischer Traum, das beides beinhaltet: Substanz und Wahrheit.“
  • Tim Ingold: „Anthropologie ist Philosophie mit den Menschen darinnen.“
  • Claude Lévi-Strauss: „Die Anthropologie hat die Menschheit zum Subjekt ihrer Forschung, aber anders als andere Wissenschaften vom Menschen, versucht sie ihr Objekt mittels unterschiedlichster Manifestationen zu erfassen.“

Gegenstand

Im 19. Jahrhundert entwickelte sich Ethnologie als ein Nischenfach. Sie hatte vor allem jene Völker und Kulturen zum Gegenstand, die von bereits länger etablierten Wissenschaften (Soziologie, Geschichte, Philologie, Indologie, etc.) nicht erforscht wurden, mit denen aber vor allem europäische Kolonisatoren, Missionare und Reisende sehr oft zu tun hatten.

Seitdem das Fach gegen Ende des 19. Jahrhunderts Einzug in die Universitäten hielt, erweist sich die Definition des Gegenstandes dieser neuen Wissenschaft als schwierig, weil sie ursprünglich meist defensiv in Abgrenzung zu anderen Wissenschaften geschah und die erforschten Gesellschaften oft nur durch das bestimmt wurden, was ihnen im Gegensatz zu großen staatlichen Kulturen fehlte. Deshalb wurden vor allem folgende Negativ- bzw. Mangeldefinitionen des Gegenstandes gewählt:

  • nicht entwickelte (=primitive) Kulturen,
  • schriftlose Kulturen
  • nicht-industrielle Kulturen
  • nichtstaatliche Kulturen
  • „savages“, „sauvages“, „Wilde“ also nicht zivilisierte, nicht erzogene bzw. im Naturzustand befindliche Kulturen
  • geschichtslose und damit der Tradition verhaftete unmoderne Kulturen
  • nicht entfremdete oder von der eigenen westlichen Zivilisation unberührte Kulturen
  • nichteuropäische Kulturen

Als Zusammenfassung dieser Aspekte wurde Ethnologie auch als die „Wissenschaft vom kulturell Fremden“ oder dem Anderen an sich gefasst, dem quasi grundsätzlich Nicht-Eigenem.

Oft wurden besonders auch diejenigen Gesellschaften untersucht, bei denen man davon ausging, dass sie vom Aussterben bedroht seien.

Zusammenfassend und positiv gewendet lässt sich sagen, dass sich mit der Ethnologie eine Wissenschaft herausbildete, die zum aller größten Teil stabile, überschaubare Kleingruppen im Zentrum hat, die sich durch hohe Kommunikationsdichte aller abhängigen Gesellschaftsmitglieder auszeichnen (Face to Face -Beziehungen) und sehr oft verwandtschaftlich oder quasi-verwandtschaftlich organisiert sind. Auch wenn sich Kleingruppen innerhalb von größeren gesellschaftlichen Verbänden organisieren, sind sie öfter ein Gegenstand ethnologischer Erforschung (Urbanethnologie, Unternehmensethnologie).

Vor allem in Kleingruppen kann man mit der Methode der teilnehmende Beobachtung zu sinnvollen und modellhaften Aussagen gelangen, ohne dabei statistische und quantitative Verfahren anwenden zu müssen. Durch die weitgehende und oft lange währende Unabhängigkeit der untersuchten Gruppen wurde einerseits eine holistische Perspektive möglich, in der ähnlich der Soziologie das Ganze einer Gesellschaft in den Blick genommen werden kann, während sie andererseits breiteste Vergleichsmöglichkeiten bietet, da in den Ethnographien ein riesiger Erfahrungsschatz unterschiedlichster menschlicher Lebensformen ausführlich verschriftlicht wurde. Sie eignet sich damit besonders gut für den Test von Generalisierungen.

Ethnologie hat so gut wie sämtliche gesellschaftswissenschaftlichen Einzeldisziplinen als Unterdisziplin: Religions- Rechts-, Politik-, Wirtschaftsethnologie, Ethnolinguistik, Kognitionsethnologie, Ethnopädagogik, Kunst- und Musikethnologie oder Ethnophilosophie und Oral History. Aber auch naturwissenschaftliche Aspekte wie Ethnomedizin, Ethnobotanik oder Ethnomathematik erregen wachsendes Interesse. Interessant ist die große Rolle der Verwandtschaftsethnologie, die in anderen Fächern nur in der Familiensoziologie Entsprechung findet.

Die Ethnologie erhebt damit den Anspruch einer interdisziplinären Grund- oder Leitwissenschaft[6], da die erforschten Gesellschaften, aufgrund ihrer großen historischen bzw. räumlichen Trennung sehr weitreichende Vergleiche erlauben und andererseits einen besonders guten Blick auf die Interdependenzen gesellschaftlicher Subsysteme, die sonst meist nur einzeln untersucht werden.

Methoden

Bis in das frühe 20. Jahrhundert ließen Ethnologen ihre Daten auf Expeditionen durch Reisende, Kolonialbeamte oder Missionare erheben, seit den 1920er Jahren erheben sie diese Daten zumeist selbst. Die Ethnologie gewann früher vor allem materielle Daten, es wurden ethnographische Objekte und Felsbildzeichnungen und weniger die orale Kultur (Erzählungen, Mythen) ausgewertet. Der materielle Schwerpunkt ergab sich aus der Tatsache, dass die meisten Ethnologen nicht wie heute an Universitäten tätig waren, sondern an Museen.

Heute ist das bedeutendste Verfahren zur Datenerhebung die ethnologische Feldforschung. Die charakteristischste Methode während des Feldaufenthaltes ist die teilnehmende Beobachtung, worunter die Integration des Forschers in das Leben einer Gruppe gefasst wird, um ihren Alltag wirklich zu verstehen. Die langanhaltende Augenzeugenschaft vor Ort ist für alle Ethnologen - sofern sie sich nicht kulturhistorischen Fragestellungen (einer der Feldforschungsethnologie gleichwertigen Ausrichtung) verschrieben haben - eine unabdingbare Grundlage der Forschung. Dies unterscheidet die Ethnologie auch von anderen Disziplinen wie den Cultural Studies, die sich zumeist der Analyse von Medienerzeugnissen zuwenden, und von der qualitiv arbeitenden Soziologie, die allenfalls Interviews durchführt. In der Zeit der Feldforschung leben Ethnologen und Ethnologinnen eng mit der örtlichen Bevölkerung zusammen und lernen deren Alltag kennen. Die Besonderheit dieser Methode ist das kommunikationsgeleitete Vorgehen, um sich bei der Arbeit von den Begegnungen vor Ort leiten zu lassen. Dies führt im Übrigen dazu, dass das Fach weniger theoriegeleitet arbeiten kann als etwa die Nachbardisziplinen: aus dem Felde selbst ergeben sich und häufig erst die letztendlich relevanten theoretischen Fragestellungen - und die Forschungsergebnisse.

Neben dieser sehr zeitaufwändigen Forschung kommen verschiedene weitere qualitative Techniken der Datengewinnung zum Einsatz: ethnographische Interviews, die strukturiert, halbstrukturiert und offen sein können, Experten- und Fokusgruppengespräche, systematische Beobachtungen, biographische Methoden. Das Erlernen der im Forschungsgebiet gesprochenen Sprache(n) wird als unabdingbar angesehen. Entsprechend der Ausrichtung aktueller Fragestellungen auf die Verbindungen und Verflechtungen zwischen unterschiedlichen Orten hat sich auch die Forschung an mehreren Orten (multi-sited ethnography) als eine mögliche Vorgehensweise etabliert.

Perspektiven

Das Fach pflegt bestimmte Perspektiven, mit denen es sich von anderen Disziplinen unterscheidet. Klassischerweise spielte vor allem der Blickwinkel von unten (d. h. der Machtlosen und Unterprivilegierten) eine wesentliche Rolle (etwa von Minderheitengruppen, Kolonisierten oder Marginalisierten). Heute werden dagegen zunehmend auch vorherrschende Gruppen (z. B. gesellschaftliche Eliten) untersucht.

Ein weiterer wichtiger Blickwinkel ist die Perspektive von innen (auch emische Perspektive), d. h. der Versuch, die innere Wirklichkeit einer Kultur und ihrer Mitglieder zu würdigen, zu verstehen und zu erklären.

Drittens wird klassischer Weise v. a. das Fremde untersucht, während das Eigene erst langsam ins Blickfeld der Völkerkunde rückt. Dabei wurde häufig angenommen, dass das Fremde wie das Eigene und die Grenze dazwischen als gegeben und als selbstverständlich vorliegen. Heute wird, in Anlehnung an Fredrik Barths Ethnizitätstheorie, zunehmend auch auf den Grenzziehungsprozess zwischen dem Eigenen und dem Fremden hingewiesen.

Theorien

Die Ethnologie arbeitet heute eher theorieexplorierend und -generierend als theorieprüfend: während die meisten anderen Disziplinen Theorien entwickeln und diese dann auf die empirische Realität anwenden, geht die Ethnologie den entgegengesetzten Weg und entwickelt ihre Theorien aus dem empirischen Material heraus. Bedeutende Theorien in der Fachgeschichte: Analytische Ethnologie, Evolutionismus, Funktionalismus, Strukturfunktionalismus, Strukturalismus, Neoevolutionismus, Kulturrelativismus, Kulturmaterialismus, Kognitive Ethnologie, Kulturökologie, Interpretative Ethnologie.

Forschungsbereiche

Visuelle Anthropologie, Verwandtschaftsethnologie, Ethnosoziologie, Ethnoökologie, Religionsethnologie, Friedens- & Konfliktforschung, Action Anthropology, Wirtschaftsethnologie, Genderforschung, Rechtsethnologie, Interkulturelle Kommunikation

Bekannte Ethnologen

Adolf Bastian, Franz Boas, Mary Douglas, Edward E. Evans-Pritchard, Leo Frobenius, Clifford Geertz, Claude Lévi-Strauss, Bronisław Malinowski, Marcel Mauss, Margaret Mead, Alfred Radcliffe-Brown, Victor Turner
(Liste von Ethnologen)

Geschichte

Antike bis frühe Neuzeit

Ethnologie – in einem weiteren Sinn Ethnographie (d. h. die Beschreibung fremder Völker) – wurde schon in der griechischen und römischen Antike betrieben. Im 5. Jahrhundert v. Chr. gab Herodot von Halikarnassos bereits eine ausführliche und empirisch gestützte Darstellung der Völker der damals bekannten Welt und ihrer Sitten. Beschreibungen anderer Kulturen finden sich auch bei Platon, Aristoteles und anderen.

Herodot (490–425 v. Chr.) war ein Geschichtsschreiber, der Reisen in den anatolischen, syrisch-irakischen und arabischen Raum unternahm. Seine Schriften gelten als wichtige Quelle für die Geschichte der Antike. Herodot schrieb im fünften Jahrhundert vor Christus in den Historiai über die „barbarischen“ Stämme im Norden und Osten der griechischen Halbinsel, im Vergleich zu den Gewohnheiten und Vorstellungen der Athener.

Cornelius Tacitus (ca. 56- ca. 120): De origine et situ Germanorum

Marco Polo (1254–1324): Le divisament dou monde/ Il Milione

Ibn Chaldun (1332–1406): Muqaddima

Zwei theologische Schulen prägten Universalideen:

a. Die augustinische Schule: Augustinus (354–430) setzt alle Probleme des Lebens in Rückverbundenheit zu Gott in Beziehung. Die unmittelbare Macht der Kirche – „deus et anima“ – schafft einen Weg zur theokratischen Gesellschaftsordnung. Aegidius Humanus denkt, jeder Ungläubige lebe in Feindschaft mit Gott. Dieses „Heidenproblem“ spricht Ungläubigen jeden Besitz ab, weil alles „von Gott“ sei. Papst Innozenz IV. legitimiert Gewalt gegen „Heiden“, erkennt den Nicht-Christen die Staatenbildung ab, meint aber, dass der freie Wille ein Naturgesetz sei. Durch die Unterordnung unter die Gewalt des Papstes sei den Menschen Wille und Menschsein zuerkannt. So verlasen die Entdecker entsprechende Texte, die für indigene Kulturen als Handlungsvorlage dienen sollten. Wenn die Entdeckten nicht nach christlichen Vorgaben handelten, war Gewalt legitimiert.

b. Die thomistische Schule: Thomas von Aquin (1225–1274) sah Gott als Ursache der Welt, die Macht der Kirche als mittelbar. Gott existiere im aristotelischen Denken, das auf Erfahrung beruht, aufgrund der Existenz der Welt. Die Bewegung der Welt und die Rechtsordnung fußten auf Erfahrung. Persönliche Freiheit, Eigentumsrecht und Eigenstaatlichkeit galten ihm als Naturrechte.

1537: Die Bulle Sublimus Dei des Papstes Paul III. bezeichnet die Entdeckten als „veri homines“, als Menschen also, die für die Christenheit gewonnen und missioniert werden können. Die absolute Stellung der Kirche, die alle Entdeckungen sowie herrschaftliche Entscheidungen für sich beansprucht, führt nach dem Investiturstreit zu einer Konfrontation der kirchlichen und weltlichen Macht.

José de Acosta (1540–1600): Auf der Grundlage einer umfassenden humanistischen Bildung schuf der Jesuit José de Acosta mit seiner Historia natural y mortal de las Indias ein herausragendes Werk, das unvoreingenommen über die „neue Welt“ und ihre Bewohner informiert und die amerikanischen Kulturen mit den europäischen vergleicht und in Beziehung setzt.

c. Neben den oben genannten abendländischen Schulen müssem auch Traditionen bedacht werden, die in anderen Kulturkreisen wurzeln. Dazu gehört die Wahrnehmung des Fremden durch jene Kulturen, denen sich die Ethnologie traditionellerweise zuwendet. Fritz W. Kramers Arbeit "Der rote Fes" über die Wahrnehmumg europäischer Invasoren durch afrikanische Stämme ist ein Werk, das sich solchen Spiegelungen exemplarisch zuwendet.

Frühe Neuzeit bis heute

15. bis 17. Jahrhundert

Europa war eine religiöse, aber keine politische Einheit. Die Wertegemeinschaft des Christentums wirkte der politischen Uneinigkeit Europas entgegen. Daher hat Glaube auch heute noch politische Bedeutung. Die spanische Inquisition stellte das Christentum als den rechten Glauben dar und hoffte auf diese Weise das Maurenproblem zu lösen. 1492 wurde das letzte maurische Königreich zerstört, Amerika von Christoph Kolumbus wiederentdeckt, und 1610 erfolgten die letzten Vertreibungen von Mauren aus Spanien. Spanier und Portugiesen reisten nach Afrika, Indien, Mittel- und Südamerika, um Rohstoffe, Gold und Reichtümer zu rauben. Das Christentum sollte verbreitet werden. Nach den Entdeckungen überwog eine eurozentristische Sichtweise, die bis ins 20. Jahrhundert von Forschern und Kolonialisten nur wenig hinterfragt wurde.

Bernardino de Sahagún (1499–1590) thematisiert in der Historia general de las cosas de Nueva Espana Bräuche, Praktiken, Promiskuität und Kannibalismus.

Hans Staden (ca. 1525 – ca. 1576) schrieb 1557 die Wahrhaftige Historia und unterstützte das feindliche Verhalten gegenüber Wilden, die mit brutaler Härte als Nicht-Menschen angesehen wurden. Staden stand auf Seiten der Kirche. Verzerrte Darstellungen aus dieser Zeit schilderten Nacktheit, Kannibalismus und Promiskuität. Aus Vermutungen und Phantasien entstanden nachteilige Darstellungen, zum Beispiel auch auf Stichen. Kannibalen in Naturvölkern seien nicht missionierbar, Wilde nicht für das Christentum gewinnbar. Die weltanschauliche Botschaft verhinderte eine gegenseitige Achtung und überwand die Tötungshemmung.

Thomas Hobbes (1588–1679) Leviathan (1649/1651), Antonio de Oliveira de Cadornega (1610–1690), Joseph-Francois Lafiteau (1681–1746), Jean-Jacques Rousseau über den Contrat Social (1762).

19. bis 21. Jahrhundert

Für die Neuzeit hat zunächst die Epoche der großen Entdeckungsreisen zu neuen Kontakten mit fremden Völkern geführt, die sich vielfältig in Reiseliteratur und anderen Texten widerspiegeln (z. B. bei Montaigne (Über Kannibalen), bei Montesquieu und vielen anderen).

Im 19. Jahrhundert war die Völkerkunde vom Evolutionismus bestimmt, dessen Anliegen der Entwurf einer kulturellen Abfolge war. Oftmals stützten sich die Theorien nicht auf eigene Forschungen, sondern auf Berichte von Missionaren (Lehnstuhlethnologie).

In Deutschland arbeiteten die meisten Ethnologen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts kulturhistorisch, d.h. man versuchte, die Geschichte der schriftlosen Völker zu rekonstruieren. Dieses Interesse wurde in anderen akademischen Nationen nicht geteilt – so fragten die britischen Social Anthropologists, die das Interesse an Geschichtlichem unwissenschaftlich empfanden, eher nach der Funktionsweise von Gesellschaften.

Neben den Kulturhistorikern (insbesondere die Wiener Schule um Pater Wilhelm Schmidt, aber auch weniger dogmatische, an Geschichte ausgerichtete Forscher) arbeiteten in Deutschland bis in die 1950er Jahre hinein v.a. kulturmorphologisch ausgerichtete Ethnologen (in der Tradition von Leo Frobenius). Die ethnosoziologische Ausrichtung Richard Thurnwalds, die seit den 1960er Jahren durch seinen Schüler Wilhelm Emil Mühlmann so einflussreich geworden ist, spielte bis dahin in Deutschland eher eine geringe Rolle.

Die Geburt der Ethnologie als wissenschaftliche Disziplin fand im Schatten des Kolonialismus seit der Mitte des 19. Jahrhunderts statt. Häufig wird die Entstehung auf diesen kolonialen Bezug eingeengt. Insofern ist es nicht falsch, wenn man sie als eine Art verwissenschaftlichten schlechten Gewissens der Kolonialpolitik der europäischen Staaten bezeichnet – aber darin erschöpft sich die Fachgeschichte nicht. Nicht alle Ethnologen haben für die Kolonialregierungen gearbeitet. Es existieren auch Fachtraditionen, die gerade den Unterdrückten und Ausgebeuteten auch der Kolonien eine Stimme und damit eine Ermächtigung zu verleihen beabsichtigten oder sich einer humanistischen, rein beschreibenden Forschungstradition verpflichtet fühlten.

In der Zeit des Nationalsozialismus war die deutschsprachige Ethnologie rassistisch und teilweise esoterisch ausgerichtet.[7]

Obwohl schon frühere Ethnologen feldforschend tätig waren, begründete erst Bronisław Malinowski (1884–1942) die Forschungsmethode der teilnehmenden Beobachtung, die auch heute noch für das Fach wesentlich ist, als zentrale Zugangsweise des Faches.

Die Ethnologie war lange eine westeuropäisch geprägte Wissenschaft und hat ihre wichtigsten Exponenten in einigen jener Staaten gefunden, die rund um die Welt Macht beansprucht haben, vor allem England und Frankreich. Somit trägt sie beispielhaft den Vorwurf des Eurozentrismus aus. Heute wird das Fach maßgeblich von der amerikanischen Kulturanthropologie beeinflusst, so dass man eher von einem Amerozentrismus als einem Euozentrismus sprechen könnte. Längst haben sich in den Ländern außerhalb Europas (z. B. in Indien, Brasilien und Japan) z. T. starke Ethnologien entwickelt. Völkerkundler aus der Dritten Welt werden in der weltweiten fachlichen Auseinandersetzung immer gegenwärtiger. Als Gegenkonzept zum Ethnozentrismus wurde die Interkulturalität entwickelt.

Literatur

Grundlagen und Einführungen
  • Christoph Antweiler: Ethnologie lesen. Ein Führer durch den Bücher-Dschungel (Arbeitsbücher, Kulturwissenschaft; 1). 3. überarb. u. erg. Auflage. LIT Verlag, Münster 2004, ISBN 3-8258-5608-9 (mit CD-ROM).
  • Thomas Hylland Eriksen: Small Places, large Issues. An introduction to social and cultural anthropology. Pluto Press, London 2001, ISBN 0-7453-1773-1.
  • Hans Fischer, Bettina Beer: Ethnologie. Einführung und Überblick. Reimer, Berlin 2003, ISBN 3-496-02757-6.
  • Dieter Haller (Text), Bernd Rodekohr (Illustrationen): Dtv-Atlas Ethnologie. Dtv, München 2010 (2. Aufl.), ISBN 3-423-03259-6.
  • Marvin Harris: Kulturanthropologie. Ein Lehrbuch („Cultural Anthropology“). Campus Verlag, Frankfurt/M. 1989, ISBN 3-593-33976-5.
  • Frank Heidemann: Ethnologie. Eine Einführung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2011, ISBN 978-3-8252-3467-6
  • Karl-Heinz Kohl: Ethnologie, die Wissenschaft vom kulturell Fremden. Eine Einführung. Beck, München 1993, ISBN 3-406-37733-5.
  • Friedrich Ratzel: Völkerkunde. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885.
Zur Geschichte und theoretischen Strömungen
  • Sibylle Alsayad, Adelheid Seyler (Hrsg.): Ethnologen-Lexikon. Biographien, Werke, Theorien. Weissensee-Verlag, Berlin 2006, ISBN 3-89998-070-0.
  • Alan Barnard: History and Theory in Anthropology. UP, Cambridge 2007, ISBN 0-521-77333-4.
  • Alan Barnard, Jonathan Spencer: Encyclopaedia of Social and Cultural Anthropology. Routledge, London 2007, ISBN 978-0-415-28558-2.
  • Fredrik Barth, Andre Gingrich, Robert Parkin, Sydel Silverman: One Discipline, four Ways. British, German, French, and American Anthropology. UP, Chicago, Ill. 2005, ISBN 0-226-03828-9.
  • Robert Borofsky: Assessing Cultural Anthropology. McGraw-Hill, New York 1994, ISBN 0-07-006578-0.
  • Christian Feest, Karl-Heinz Kohl (Hrsg.): Hauptwerke der Ethnologie. Alfred Kroener Verlag, Stuttgart 2001, ISBN 3-520-38001-3 (Kröners Taschenausgabe; 380).
  • Andre Gingrich: Erkundungen. Themen der ethnologischen Forschungen. Boehlau Verlag, Wien 1999, ISBN 3-205-98992-9.
  • Marvin Harris: The Rise of Anthropological Theory. A History of Theories of Culture. Updated Edition. AltaMira Press, Walnut Creek, Cal. 2001, ISBN 0-7591-0132-9.
  • Hans-Jürgen Hildebrandt: Bausteine zu einer wissenschaftlichen Erforschung der Geschichte der Ethnologie. Zugleich eine exemplarische Anleitung für die Historiographie wissenschaftlicher Disziplinen. Mit einem ausführlichen bibliographischen Anhang. Utz, München 2003, ISBN 3-8316-0298-0.
  • Jürgen Jensen: Die Geschichte der Ethnologie – eine Serie von Lehrmeinungen einiger weniger Fachvertreter? Ein Literaturbericht zu Rössler (2007). Hamburg 2008 ([1])
  • Alexander Knorr: Cyberanthropology, Wuppertal: Peter Hammer Verlag, 2011, ISBN 978-3-7795-0359-0
  • Adam Kuper: Anthropology and Anthropologists. The modern British school. Routledge, London 2002, ISBN 0-415-11895-6.
  • Stephan Moebius: Marcel Mauss. UVK, Konstanz 2006, ISBN 3-89669-546-0.
  • Klaus E. Müller: Geschichte der antiken Ethnographie. Reinbek, Rowohlt 1997, ISBN 3-499-55589-1.
  • Werner Petermann: Die Geschichte der Ethnologie. Hammer, Wuppertal 2004, ISBN 3-87294-930-6.
  • Martin Rössler: Die deutschsprachige Ethnologie bis ca. 1960. Ein historischer Abriss (Kölner Arbeitspapiere zur Ethnologie; 1). Institut für Völkerkunde, Köln 2007 (Volltext)

Siehe auch

 Portal:Ethnologie – Übersicht zu Wikipedia-Inhalten zum Thema Ethnologie


Weblinks

 Wikisource: Ethnologie – Quellen und Volltexte

Einzelnachweise

  1. Martin Rössler: Die deutschsprachige Ethnologie bis ca. 1960: Ein historischer Abriss (= Kölner Arbeitspapiere zur Ethnologie, Band 1), Institut für Völkerkunde, Köln 2007, S. 5–6.
  2. Christoph Antweiler: Urbanität und Ethnologie: aktuelle Theorietrends und die Methodik ethnologischer Stadtforschung. In: Zeitschrift für Ethnologie. Band 129, Heft 2, 2004, S. 285–307.
  3. Arjun Appadurai: Modernity at large. Cultural dimensions of globalization. University of Minnesota Press, London, Minneapolis, 1996, S. 17–18.
  4. Samuel M. Wilson und Leighton C. Peterson: The anthropology of online communities. In: Annual Review of Anthropology. Band 31, 2002, S. 449–467.
  5. Linda F. Hogle: Enhancement technologies and the body. In: Annual Review of Anthropology. Band 34, 2005, S. 695–716.
  6. Klaus E. Müller: Das magische Universum der Identität: Elementarformen sozialen Verhaltens; ein ethnologischer Grundriss. Frankfurt/Main 1987, ISBN 3-593-33855-6 S.386f.
  7. Jürgen Jensen: Die Geschichte der Ethnologie – eine Serie von Lehrmeinungen einiger weniger Fachvertreter? Ein Literaturbericht zu Rössler (2007)

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