Etty Hillesum

Etty Hillesum

Etty Hillesum (* 15. Januar 1914 als Esther Hillesum in Middelburg; † 30. November 1943 im KZ Auschwitz-Birkenau) war eine niederländisch-jüdische Lehrerin. Ihre postum veröffentlichten Tagebücher aus den Jahren 1941–1943 machten sie international bekannt.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Seit 1924 lebte Esther („Etty“) Hillesum in Deventer und besuchte dort das städtische Gymnasium. Ihr Vater Louis, der zunächst in Middelburg als Lehrer für Latein, Griechisch und andere Fächer arbeitete, war damals Rektor dieser Schule. Ettys Mutter Rebecca geb. Bernstein stammte aus Russland. Etty wuchs in einer säkularen bzw. christlichen Atmosphäre ohne jüdische Erziehung auf. Ab 1932 studierte sie in Amsterdam Slavistik; später auch Jura. Etty hatte zwei Brüder: Mischa, der ein begabter Pianist war, und Jaap (Jacob), der Arzt wurde. Im Jahr 1941 lernte sie den aus Deutschland geflohenen Julius Spier, einen „Chiropsychologen“, kennen, und es entstand ein Liebesverhältnis.

Auf Rat von Spier fing Etty Hillesum an, ein Tagebuch zu schreiben. Dessen Zweck sei, dass Etty, indem sie frühere Abschnitte des Tagebuchs mit neueren Einträgen vergleiche, die eigene seelische Entwicklung untersuchen könne. In diesem literarisch bedeutsamen Werk beschrieb sie selbstanalytisch ihre Gefühle, Alltagserlebnisse und Denkstrukturen. Ihr Geliebter Julius Spier wird im Tagebuch mit dem Buchstaben S. erwähnt.

Im Jahr 1942 erhielt Etty Hillesum, die schon längere Zeit jüdischen Mitmenschen, vor allem Studierenden, geholfen hatte, eine Stellung beim „Joodsche Raad“ („Judenrat“), einer von den deutschen Besatzern eingerichteten Beratungs-, Auskunfts- und Verwaltungsstelle für die jüdische Bevölkerung der Niederlande. Da dessen Mitarbeiter/innen selbst jüdisch sein mussten, empfanden diese zunächst eine gewisse Sicherheit. Schon bald stellte sich aber heraus, dass die Deutschen dem Rat eine vorbereitende Funktion im Ablauf von Verfolgung und Vernichtung aufgezwungen hatten. Bereits nach zwei Wochen kündigte Etty Hillesum diese von ihr als „Hölle“ empfundene Tätigkeit.

Im August 1942 kam ihr „Aufruf“ zur Deportation zum Durchgangslager Westerbork. Da ihr Sonderausweis des Judenrats noch gültig war, fuhr sie von dort noch mehrmals nach Amsterdam zurück. Ihr Tagebuch konnte sie bei der befreundeten Familie Smelik in Sicherheit bringen; unterzutauchen lehnte sie allerdings ab. Am 7. September 1943 musste sie von Westerbork auf einen Transport zum Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, wo sie ihren 1940 von den Nazis entlassenen Vater und andere Verwandte wiedersah. Am 30. November 1943 wurde Etty Hillesum dort ermordet.

Im Jahr 1981 erschien ihr Tagebuch unter dem Titel Het verstoorde leven (‚Das zerstörte Leben‘, dt. Übersetzung 1985 unter dem Titel: „Das denkende Herz“). Später wurden auch ihre zahlreichen Briefe, u. a. aus der Zeit in Westerbork, veröffentlicht. Es war der ausdrückliche Wunsch Etty Hillesums, dass ihre Schriften veröffentlicht würden. Familie Smelik schenkte die Originale 1986 dem Joods Historisch Museum te Amsterdam (Jüdischen Historischen Museum).

In Deventer wurde 1995 in der ehemaligen Synagoge ein Etty-Hillesum-Centrum (Erinnerungszentrum) eingerichtet.

André Bossuroy veröffentlichte 2009 einen Film, in dem die Tagebücher Anstoß und Inspiration für eine Reise durch Europa geben.[1]

Hildegard Elisabeth Keller integrierte Etty Hillesum als eine von fünf weiblichen Hauptfiguren in die Trilogie des Zeitlosen (2011). Der dritte Band Der Ozean im Fingerhut enthält ein Hörspiel mit ausgewählten Passagen aus Etty Hillesums Tagebüchern und Briefen.[2]

Zitate aus dem Tagebuch

„Und wenn nur noch ein anständiger Deutscher existieren würde, da wäre dieser es wert, gegen die ganze barbarische Bande in Schutz genommen zu werden, und diesem einzigen anständigen Deutschen zuliebe sollte man es dann unterlassen, seinen Hass über ein ganzes Volk auszugießen. […]
Gott ist nicht verantwortlich für das sinnlose Leid, das wir einander zufügen. Wir sind vor Gott dafür verantwortlich.“

15. März 1941

Literatur

  • Etty Hillesum: Das denkende Herz. Die Tagebücher von Etty Hillesum 1941–1943. Rowohlt ISBN 3-499-15575-3
  • The original handwritten letters and diaries of Etty Hillesum. Amsterdam: Jewish Historical Museum, 1941–1943.
  • Twee brieven uit Westerbork van Etty; mit einer Einführung von David Koning. Den Haag: Bert Bakker/Daamen N.V., 1962.
  • Het Verstoorde leven: Dagboek van Etty Hillesum 1941–1943. Edited with an introduction by Jan Geurt Gaarlandt. Haarlem: De Haan, 1981.
  • Het Verstoorde leven is translated in at least fourteen languages: England: Etty – A Diary (1983) Germany: Das denkende Herz der Baracke (1983) Denmark: Et kraenket liv (1983) Norway: Det tenkende hjerte (1983) Sweden: Det förstörda livet (1983) Finland: Päiväkirja, 1941–1943 (1984) America: An Interrupted Life (1984) Brasil: Una Vida Interrompida (1984) Italy: Diario 1941–1943 (1985) Argentina: Una Vida Interrompida (1985) Israel: Chajjiem Kerotiem; Jomana sjel (1985) Japan (1985) and Hungary. France: Une Vie Bouleversée. Journal 1941–1943, translation par Philippe Noble. Editions du Sieul. Paris, 1985.
  • Het denkende hart van de barak. Brieven van Etty Hillesum; hrsg. von Jan Geurt Gaarlandt. Haarlem: De Haan, 1982.
  • In duizend zoete armen: Nieuwe dagboekaantekeningen van Etty Hillesum; hrsg. von Jan Geurt Gaarlandt. Haarlem: De Haan, 1984.
  • Etty: A Diary 1941–1943; mit einer Einführung von Jan Geurt Gaarlandt, Übersetzung Arnold J. Pomerans. London: Johathan Cape, 1983.
  • An Interrupted Life: The Diaries and Letters of Etty Hillesum 1941–1943; mit einer Einführung von Jan Geurt Gaarlandt, Übersetzung Arnold J. Pomerans. New York: Pantheon Books, 1984.
  • Letters from Westerbork; mit einer Einführung von Jan Geurt Gaarlandt, Übersetzung Arnold J. Pomerans. New York: Pantheon Books, 1986.
  • Letters from Westerbork; mit einer Einführung von Jan Geurt Gaarlandt, Übersetzung Arnold J. Pomerans. London: Johathan Cape, 1987.
  • An Interrupted Life and Letters from Westerbork. New York: Henry Holt, 1996.
  • An Interrupted Life: The Diaries and Letters of Etty Hillesum; Vorwort von Eva Hoffman; London: Persephone Books, 1999.
  • Etty: The Letters and Diaries of Etty Hillesum 1941–1943; hrsg. von Klaas A. D. Smelik, Übersetzt von Arnold J. Pomerans. Ottawa, Ontario: Novalis Saint Paul University – William B. Eerdmans Publishing Company, 2002.
  • Etty: De nagelaten geschriften van Etty Hillesum 1941–1943; hrsg. von Klaas A. D. Smelik. Amsterdam: Uitgeverij Balans, 1986.
  • Ria van den Brandt, Klaas A. D. Smelik: Etty Hillesum in facetten. Nijmegen: Uitgeverij Damon, 2003.
  • Ria van den Brandt, Klaas A. D. Smelik: Etty Hillesum Studies: Etty Hillesum in context. Assen: Gorcum, 2008. ISBN 978-0-8262-1797-4
  • Rachel Feldhay Brenner: Writing as Resistance: Four Women Confronting the Holocaus’t: Edith Stein, Simone Weil, Anne Frank, Etty Hillesum. Pennsylvania State University Press, Pennsylvania 1997. ISBN 978-0-271-02285-7
  • * Meins G. S. Coetsier: Etty Hillesum and the Flow of Presence: A Voegelinian Analysis. Columbia Missouri: University of Missouri Press, 2008. ISBN 978-0-8262-1797-4
  • Meins G. S. Coetsier: God? … Licht in het duister: Twee denkers in barre tijden: de Duitse filosoof Eric Voegelin en de Nederlands- Joodse schrijfster Etty Hillesum; in: Ria van den Brandt, Klaas A.D. Smelik (Red.): Etty Hillesum Studies: Etty Hillesum in context; Assen: Gorcum, 2008. ISBN 978-0-8262-1797-4
  • Denise de Costa: Anne Frank and Etty Hillesum: Inscribing spirituality and sexuality. Translation by Mischa F. C. Hoyinck and Robert E. Chesal. New Brunswick, New Jersey, and London: Rutgers University Press, 1998. ISBN 978-0-8135-2549-5
  • J. Geurt Gaarland (Hrsg.): Men zou een pleister op vele wonden willen zijn: Reacties op de dagboeken en brieven van Etty Hillesum. Amsterdam: Balans, 1989.
  • Hildegard Elisabeth Keller: Der Ozean im Fingerhut. Hildegard von Bingen, Mechthild von Magdeburg, Hadewijch und Etty Hillesum im Gespräch. Mit Beiträgen von Daniel Hell und Jeffrey F. Hamburger. Zürich 2011 (Trilogie des Zeitlosen 3). ISBN 978-3-7281-3437-0
  • Gerrit van Oord (Hrsg.): L’esperienza dell’Altro: Studi su Etty Hillesum. Rome: Sant’Oreste, 1990.
  • Sylvie Germain: Etty Hillesum Pygmalion Watelet, Paris 1999 (frz.) ISBN 2-85704-586-7 (Reihe: Chemins d’éternité)

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Bei mir in Europa: Der Konvoi, 29. September 2009
  2. Der Ozean im Fingerhut

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