GSG-9-Einsatz in Bad Kleinen

GSG-9-Einsatz in Bad Kleinen

Der GSG-9-Einsatz in Bad Kleinen war ein Polizeieinsatz am 27. Juni 1993, bei dem die RAF-Mitglieder Birgit Hogefeld und Wolfgang Grams im mecklenburgischen Bad Kleinen festgenommen werden sollten. Die Festnahme von Birgit Hogefeld verlief erfolgreich. Bei einem anschließenden Feuergefecht kamen Wolfgang Grams und der GSG-9-Beamte Michael Newrzella ums Leben.

Inhaltsverzeichnis

Vorbereitung

Dem seit 1985 als V-Mann des Verfassungsschutzes tätigen Klaus Steinmetz war es Anfang der 90er Jahre gelungen, in das Umfeld der Rote Armee Fraktion vorzudringen. Steinmetz nahm an diversen nichtmilitanten Aktionen teil und drang im Laufe der Zeit immer tiefer in die Szene ein. Ende Februar 1992 gelang es ihm, Birgit Hogefeld in Paris zu treffen. Im April 1993 traf Steinmetz erstmals auf Grams, allerdings ohne ihn sofort zu identifizieren. Der Verfassungsschutz beschloss, Hogefeld und Grams festnehmen zu lassen. Die Aktion sollte so durchgeführt werden, dass Steinmetz weiter als V-Mann eingesetzt werden konnte.

Am 24. Juni 1993 trafen sich Hogefeld und Steinmetz in Bad Kleinen, fuhren weiter nach Wismar, mieteten ein Zimmer und warteten ab. Steinmetz trug während der ganzen Zeit einen Peilsender und ein Abhörgerät bei sich, so dass er jederzeit zu orten war und die Gespräche mitgehört werden konnten.

Ausführung

Während des Schusswechsels fiel Grams rücklings in das Gleisbett auf Bahnsteig 4[1]
Das Bahnhofsgebäude von Bad Kleinen. Im Vordergrund die Gleise 3 und 4 (August 2011)
"Gleis 4" aus Sicht der GSG-9-Beamten (August 2011)

Am 27. Juni 1993 fuhren Hogefeld und Steinmetz zurück nach Bad Kleinen, um sich dort mit Grams zu treffen. Am Bahnhof und in der Umgebung waren zu diesem Zeitpunkt 38 Beamte des MEK des Bundeskriminalamtes, 37 Beamte der GSG 9 und 22 weitere Beamte im Einsatz.

Grams traf um 14:00 Uhr ein. Um 15:15 Uhr verließen Hogefeld, Grams und Steinmetz die Bahnhofsgaststätte Billard-Café. Wenig später erfolgte in der Bahnhofsunterführung der Zugriff durch sieben GSG-9-Beamte. Die Festnahme von Grams misslang und er floh zum Bahnsteig hinauf. Bei dem folgenden, wenige Sekunden dauernden Schusswechsel verletzte Grams den Beamten Michael Newrzella so schwer, dass dieser später im Krankenhaus starb. Die Beamten verletzten sowohl Grams als auch eine Bahnangestellte. Grams fiel auf die Gleise und blieb liegen.

Tod von Wolfgang Grams

Nach den Ermittlungsergebnissen der Staatsanwaltschaft Schwerin hat Grams, nachdem er Newrzella durch Schüsse aus einer mitgeführten Pistole getötet hatte, Suizid begangen, indem er sich einen tödlichen Kopfschuss zufügte.[2] Gegenpositionen besagen, Newrzella sei durch Querschläger aus den Waffen seiner Kollegen umgekommen und ein Beamter habe Grams mit einem aufgesetzten Schuss in den Kopf getötet. Ein durch Bernd Brinkmann[3] angefertigtes Gutachten der Universität Münster kommt zu dem Schluss, dass ein solcher Schuss aufgrund der Blutspuren auf Waffe und Kleidung der Polizisten unmöglich sei und hält gleichzeitig eine „Selbstbeibringung“ für plausibel.[4] Ein Gutachten der Stadtpolizei Zürich bestätigt ebenfalls einen „typischen Selbstmord-Einschußkanal“.[3]

Zu den ungeklärten Geschehnissen zählt auch, dass sich die Mitglieder der GSG-9 in ihren Aussagen widersprachen. Das Projektil, welches für den tödlichen Kopfschuss bei Grams verantwortlich war, wurde nicht gefunden. Grams Körper wurde vor der Obduktion gewaschen. Das hat evtl. Spuren vernichtet, die hätten belegen können, ob Grams wirklich erst Newrzella in einem Schusswechsel tödlich verletzte und sich dann, getroffen und in der geschilderten auswegloser Situation, selbst zu erschießen. Unklar bleibt allerdings, wie Grams, trotz der verwendeten mannstoppenden Munition, innerhalb von Sekunden die Lähmung überwinden und sich selbst hätte erschießen können. Vor allem im linken Spektrum ist der Verdacht verbreitet, dass Grams von einem GSG-9-Mann gezielt getötet worden sei, obwohl er bereits kampfunfähig war, weil ein Zeuge dies gegenüber dem Nachrichtenmagazin Spiegel behauptete. Obwohl diese Theorie in Ermittlerkreisen als widerlegt gilt, wurden auch Jahre nach den Vorfällen Texte oder Bücher veröffentlicht, welche die Ergebnisse der Untersuchung bezweifeln oder angreifen. [5][6]

Hans Leyendecker, der Autor des Spiegel-Artikels, rückte nach Kenntnisnahme der Ermittlungsergebnisse der Staatsanwaltschaft Schwerin von seiner Darstellung wieder ab. 2007 sagte er in einem Interview mit dem Deutschlandfunk, er habe die Aussage eines Polizisten, Grams sei von zwei Kollegen erschossen worden, überbewertet: „Ich hatte dieser Aussage eine zu große Bedeutung gegeben, sie zu wenig relativiert und das Ganze zu stark aufgeblasen. Dadurch entstand der Eindruck, dass das, was dieser Zeuge gesagt hat, auch korrekt gewesen sei. Das kann man so nicht behaupten.“ Diese Titelgeschichte sei für den Spiegel „in der Wirkung verheerend“ gewesen: „eigentlich hätte ich auch gefeuert werden müssen“.[7]

Nachwirkungen

Als die Umstände des Einsatzes genauer untersucht wurden, traten erhebliche Mängel in der Berichterstattung der verschiedenen Ermittlungsbehörden sowie bei der Spurensicherung zu Tage. Aufgrund der öffentlichen Debatte trat der damalige Bundesinnenminister Rudolf Seiters zurück; Generalbundesanwalt Alexander von Stahl wurde später entlassen. Ebenso trat der Leiter des BKAs, Hans-Ludwig Zachert, der sich während der Vorfälle im Urlaub befunden hatte, zurück. BKA-Vize Gerhard Köhler wurde ins Innenministerium versetzt.

Die Eltern des verstorbenen Grams klagten vor der Zivilkammer des Landgerichtes Bonn gegen den Bund und forderten Schadenersatz. Das Gericht kam zu der Erkenntnis, dass die genauen Tathergänge nicht aufklärbar seien. Die Klage wurde abgewiesen. Weitere Klagen, unter anderem vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, blieben ebenfalls ohne Erfolg.

Michael Newrzella (* September 1967) war der erste GSG-9-Beamte, der bei einem Einsatz starb, und zugleich das letzte Opfer der 1998 aufgelösten RAF.

Fingerabdrücke deuten nach Darstellung der FAZ darauf hin, dass auch die RAF-Terroristen Ernst Volker Staub und Daniela Klette am Einsatzort in Bad Kleinen anwesend waren.[8] Unklar bleibt, ob und wie Klette und Staub mit Grams, Hogefeld oder Steinmetz Kontakt aufgenommen haben.

Die RAF nahm am 29. November 1996 in der Zeitschrift Interim Stellung zur Position von Klaus Steinmetz innerhalb der Organisation. Es wird betont, Steinmetz habe keinen Einfluss auf die Entscheidungsprozesse innerhalb der Szene genommen. Als Fehler wird eingeräumt, dass er trotz seiner politischen Nicht-Beteiligung nicht als Spitzel verdächtigt wurde.

„[…]das ist doch ein punkt, an dem wir uns alle, die mit ihm zu tun hatten, an den kopf greifen müßten: er hat nie was entwickelt, nichts eingebracht und trotzdem lief alles mit ihm weiter - erst sein jahrelanges dasein in der scene und dann auch der kontakt zu uns.“

– Erklärung der RAF-Kommandoebene in Interim, Nr. 401 vom 12. Dezember 1996 für die interim[9]

Literarische und musikalische Verarbeitung

In seinem 2005 veröffentlichten Roman In seiner frühen Kindheit ein Garten stellt Christoph Hein die Ereignisse und die Ermittlungen aus der Sicht der Familie eines fiktiven getöteten Terroristen, Oliver Zurek, dar. Auch wenn Hein ausdrücklich betont, dass seine Romanfiguren frei erfunden sind [10], weisen die im Roman geschilderten Ereignisse starke Parallelen zum Fall Wolfgang Grams auf. Auch der Krimi-Autor Wolfgang Schorlau thematisierte in seinem Roman Die Blaue Liste den Einsatz. Andreas Hoppert in seinem Politthriller Der Fall Helms und Michael März im Erzählband Revolte gegen die Zeit griffen das Thema auf.

Die aus der linken Szene stammende Band Dritte Wahl beschäftigt sich in dem Lied Bad K. mit den Ereignissen vom 27. Juni 1993. Das Lied Kopfschuss der Punk-Band WIZO spielt ebenfalls auf das Geschehen in Bad Kleinen an. Auch die Punk-Band Slime erinnert im Lied Gewalt an den gewaltsamen Tod von Wolfgang Grams.

Die Wirren um die Rekonstruktion des Hergangs inspirierten auch Satire und Kabarett. Wiglaf Droste begann sein Was in Bad Kleinen wirklich geschah mit dem Satz: „Am 27. Juni 1993 auf dem Bahnhof in Bad Kleinen, Mecklenburg, erschießt der GSG-9-Beamte Michael Newrzella zunächst sich selbst.“ [11]

Literatur

  • ID-Archiv im IISG (Hg.): Bad Kleinen und die Erschießung von Wolfgang Grams. ID-Verlag, Berlin und Amsterdam 1994 (Volltext zum Download als PDF)
  • Kein Friede (Hrsg.), Die Niederlage der RAF ist eine Niederlage der Linken Bad Kleinen, Steinmetz und der Bruch in der RAF, Frankfurt am Main 1994 (Online)
  • Butz Peters: Der letzte Mythos der RAF. Das Desaster von Bad Kleinen. Ullstein Verlag, Berlin 2006
  • Gerhard Wisnewski, Wolfgang Landgraeber, Ekkehard Sieker: Operation RAF. Was geschah wirklich in Bad Kleinen?. Droemer Knaur Verlag, München 1995

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Das GSG-9-Protokoll. In: FOCUS. Nr. 29, 1993 (http://www.focus.de/politik/deutschland/deutschland-das-gsg-9-protokoll_aid_141736.html, abgerufen am 11. Februar 2010).
  2. Butz Peters: Tödlicher Irrtum. 4. Auflage. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main Januar 2008, ISBN 9783596172658, S. 699 (http://www.raf-geschichte-der-rote-armee-fraktion.de, abgerufen am 8. Oktober 2008).
  3. a b Ludger Hinder (3. Oktober 1993): Bad Kleinen: Verspäteter Freispruch. Focus. Abgerufen am 9. Oktober 2011.
  4. Thomas Kleine-Brockhoff (29. Oktober 1993): Bad Kleinen: Immer mehr spricht für Selbstmord - Noch nicht gewiß. Die Zeit. Abgerufen am 9. Oktober 2011.
  5. Als ausführliches Beispiel kann das Buch „Bad Kleinen und die Erschießung von Wolfgang Grams“ dienen, das in gekürzter Fassung bei nadir.org zu finden ist.
  6. Darstellung der Ereignisse durch den Initiativkreis 10 Jahre nach dem Tod von Wolfgang Grams
  7. Deutschlandfunk - Interview - Leyendecker: Journalisten müssen Zipfel der Wahrheit suchen. www.dradio.de. Abgerufen am 8. Oktober 2008.
  8. Wiedergeburt der Roten Armee Fraktion, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20. Mai 2001
  9. Stellungnahme der RAF zu Steinmetz' Rolle als Spitzel
  10. Bernhardt, Rüdiger: Interpretation zu Christoph Hein In seiner frühen Kindheit ein Garten, 2010. S.31.
  11. Wiglaf Droste - Was in Bad Kleinen wirklich geschah

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