Gleichnis vom barmherzigen Samariter

Gleichnis vom barmherzigen Samariter
George Frederic Watts: Der barmherzige Samariter

Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter zählt zu den bekanntesten Erzählungen Jesu im Neuen Testament. Es wird im Evangelium des Lukas (10,25–37) überliefert und gilt als Appell zur tätigen Nächstenliebe.

Inhaltsverzeichnis

Gattung

In der Exegese wird die Geschichte im Allgemeinen als Beispielerzählung – nicht als Gleichnis – angesehen.[1] Gelegentlich wird davon ausgegangen, dass sie sich aus einem Gleichnis entwickelt habe.[2] Eine Beispielerzählung berichtet wie die Parabel – anders als ein Gleichnis – eine nicht alltägliche Begebenheit und lädt „den Hörer zur Identifikation und zum Verstehen [ein] … Das Bild führt die gemeinte Sache an einem konkreten praktischen Fall vor“.[3]

Inhalt

Codex purpureus Rossanensis: Der barmherzige Samariter

In einem Disput verweist Jesus auf die Frage, was zum Erwerb des ewigen Lebens zu tun sei, auf den Wortlaut der Torah, worauf der Schriftgelehrte die biblische Aufforderung zur Gottesliebe (Dtn 6,5 LUT), die Bestandteil des Schma Jisrael, des zentralen jüdischen Glaubensbekenntnisses, ist, verbunden mit dem Gebot der Nächstenliebe (Lev 19,18 LUT) zitiert:

„Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst.“

Auf Jesu Aufforderung, so zu handeln, um zu leben, fragt ihn der Schriftgelehrte, wer denn sein Nächster sei. Daraufhin entfaltet Jesus das Gleichnis als Beispielgeschichte:

Ein Mann auf dem Weg von Jerusalem hinab nach Jericho geriet unter die Räuber, die ihn ausplünderten und schwerverletzt liegen ließen. Ein vorüberkommender Priester sah ihn und ging weiter, ebenso ignorierte ihn ein Levit. Schließlich sah ihn ein Samaritaner, erbarmte sich, versorgte seine Wunden und transportierte ihn auf seinem Reittier zur Herberge, wo er den Wirt am folgenden Morgen bezahlte und mit der weiteren Pflege beauftragte, verbunden mit der Zusage seiner Wiederkehr und der Erstattung weiterer Kosten.

Im Anschluss an das Gleichnis wendet Jesus die Frage des Mannes um: es ist nicht in dem Sinne, wem ich helfen soll, danach zu fragen, wer mein Nächster ist, sondern im Hilfeakt wird der Helfende dem Bedürftigen zum Nächsten. Anschließend fragt Jesus, wer von den Dreien dem Überfallenen der Nächste gewesen sei. Der Schriftgelehrte erkennt den Sachverhalt und antwortet, dass es der Samaritaner gewesen sei. Daraufhin fordert Jesus, ebenso wie jener zu handeln.

Struktur

Das Gleichnis gehört zum lukanischen Sondergut.

Die Struktur des Gleichnisses entspricht der hebräischen Midrasch-Einleitung:[4]

  • einleitende Frage zu einem Schrifttext (Verse 25–27: Deuternomium 6,5, Leviticus 9,18)
  • zweiter Schrifttext (Vers 28: Leviticus 18,5)
  • Auslegung mittels Beispielerzählung (Verse 28–36)
  • Schlussbemerkung, mit Anspielung auf den Ausgangstext und oft mit Aufforderung zum Tun (Vers 37)

Deutungen

Rembrandt: Der barmherzige Samariter

Zuhörer Jesu

Die Geschichte, erfunden und doch Alltagsdrama, spielt an einem realen Ort: auf jenem beschwerlichen, etwa 27km langen, öden Teilstück des damaligen Haupthandelsweges zwischen Afrika und Asien, der zwischen Jerusalem im Gebirge und Jericho im Jordantal liegt. Der erwähnte Abstieg über mehr als 1000 Höhenmeter macht es Händlern schwer und Räubern leicht. Dennoch: der Weg wird viel genutzt. Zunächst passieren den Tatort Personen, die für Räuber nicht so wichtig sind.[5]

Für Priester gab es in der Torah die Vorschrift, dass sie sich nicht an der Leiche eines Stammesgenossen verunreinigen durften, abgesehen von den nächsten Verwandten (Lev 21,1 ff. EU). Wenn der Mann tot gewesen wäre, hätte sich der Priester durch eine Berührung gegen dieses Gebot entweiht.

Der Levit war, wie auch der Priester, ebenfalls auf dem Weg hinab nach Jericho. Eine allfällige Berührung eines Toten hätte für ihn nach der Torah (Numeri 19,11 EU) sieben Tage Tame (rituelle Unreinheit) bedeutet, er hätte also am Ziel seines Weges, seine Heimat, keine rituellen Handlungen vornehmen dürfen.

Es wird vermutet, dass die damaligen Leute angesichts antiklerikaler Strömungen[6] als nächstes einen israelitischen Laie erwartet hätten, der Barmherzigkeit über eventuelle rituelle Unreinheit gestellt und dem Verletzten geholfen hätte: Die Einzelheiten der Fürsorge für den verwundeten Mann seien nämlich für die damalige Zeit vollkommen realistisch.[4] Allerdings sind antiklerikale Strömungen im Lukasevangelium nicht nachweisbar.[7] Der unerwartete Samaritaner, mehr jedoch: sein Mitgefühl, seine beständige Fürsorge von der Wundversorgung über den Krankentransport (den Berg hinauf), die Unterbringung, die Vorkasse, die Ankündigung wiederzukommen - all diese Ausführlichkeit der Zuwendung gibt dem Gleichnis eine ermunternde bis schockierende Wirkung. Im Vordergrund steht also weder eine Grenzen überwindende Tätigkeit; es wird nicht gesagt, ob der Verwundete Jude war (der Handelsweg war international), noch eine Tempelschelte (Priester/Levit).[8] Liebe zu Gott wird in der Liebe zum Menschen konkret, womit die ernst gemeinte Eingangsfrage des Pharisäers beantwortet ist.

Samaritaner

Die Samaritaner wurden von den damaligen Juden, wie beispielsweise Josephus, einerseits als religiöse Verwandte betrachtet (2 Chr 28,11 EU), aber auch mit den synkretistischen Abkömmlingen des Nordreichs (2 Kön 17,24–41 EU) gleichgesetzt, als Feinde angesehen und zu tiefst verachtet (Sir 50,25–26 EU).[9] Mit dem Nächsten war der Volksgenosse gemeint. Das Volk bildete eine Solidargemeinschaft. Andererseits forderte die Schrift die Liebe zu den Fremden ein im Gedenken daran, dass Israel in Ägypten selbst die Existenz eines Fremdlings gelebt hatte. Die Frage des Schriftgelehrten konnte in der Tradition der halachischen Midrasch schnell beantwortet werden: Es sind alle Israeliten und alle Vollproselyten.[10] Kurz zuvor in den Jahren 6 und 9 n. Chr. hatten die Samaritaner den Tempelplatz zu Jerusalem in den Tagen des Pascha-Festes durch Ausstreuen menschlicher Gebeine verunreinigt, somit konnten sie keine Nächsten sein.[11]

Allegorische Deutungen

Sicard: Der barmherzige Samariter

Bereits in der frühen Christenheit kam dem Gleichnis zentrale Bedeutung zu. Man deutete es allegorisch, wonach man unter dem unter die Räuber Gefallenen den Menschen schlechthin (Adam) verstand. Die Stadt Jerusalem galt als das Paradies, und Jericho als die Welt. Die Räuber waren die feindlichen dämonischen Mächte. Der Priester verkörperte das Gesetz, der Levit die Propheten und der Samariter Christus. In den geschlagenen Wunden sah man den Ungehorsam, im Reittier den Leib des Herrn, unter der Herberge die Kirche, die alle aufnimmt, die hinein wollen, im Herbergswirt das Haupt der Kirche, dem Schutz und Pflege der Gäste oblag. In der zugesagten Wiederkehr des Samariters das verheißene Wiedererscheinen Christi.[12]

Wirkungsgeschichte

Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter verließ auf Grund seiner Dramatik bald seinen frühchristlich-innerjüdischen Zusammenhang. Nächstenliebe wurde nicht zuletzt durch diese Erzählung zu einer universellen Tugend; Nächstenliebe und Samariterdienst wurden bis ins Sprichwortgut zu Synonymen.

Der Arbeiter-Samariter-Bund wie der Schweizerischer Samariterbund erscheinen als ein prominentes Erbe dieses Namens im deutschen Sprachbereich.

Das im angelsächsischen Rechtsbereich auch sprachlich entlehnte Good Samaritan law findet im Deutschen lediglich unter Strafrecht seinen Niederschlag.

Beim Vatikan ist die Gute Samariter Medaille die höchste Medaille für Arbeit im Gesundheitswesen.[13]

Bildende Kunst

Vincent van Gogh: Der barmherzige Samariter

In der Kathedrale von Chartres stellt das dritte rechte Fenster des Hauptschiffs das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter dar.[14]

Der Barmherzige Samariter ist ein sehr beliebtes Thema in der religiösen Malerei. Er wurde unter anderem dargestellt im Codex purpureus Rossanensis und im Evangeliar Heinrichs des Löwen[15], von Jost Ammann[16], Rembrandt van Rijn (1632/33)[17], Johann Karl Loth 1676[18], von Luca Giordano, George Frederic Watts, Gustave Doré, Gustave Moreau, Van Gogh (1890), Maurice Denis (1898), Aimé-Nicolas Morot (1850–1913) und Paula Modersohn-Becker[19]. Eine Statue von François Sicard steht im Garten der Tuilerien in Paris.

Literatur

→ siehe auch die Abschnitte in den einschlägigen Kommentaren (Bovon, Bock, Eckey u.a.) und der allgemeinen Literatur zu den Gleichnissen Jesu.

  • Joachim Jeremias: Die Gleichnisse Jesu. Göttingen 1956
    Die Gleichnisse Jesu. Kurzausgabe. Göttingen 19849.
  • Hans Klein: Barmherzigkeit gegenüber den Elenden und Geächteten. Studien zur Botschaft des lukanischen Sonderguts. BThSt 10; Neukirchen-Vluyn 1987.
  • Leonhard Ragaz: Die Gleichnisse Jesu. Seine soziale Botschaft. Gütersloh 19853.
  • Walter Schmithals: Das Evangelium nach Lukas. Zürcher Bibelkommentare. Neues Testament 3.1; Zürich 1980.
  • Gerhard Schneider: Das Evangelium nach Lukas. Kapitel 1–10. Ökumenischer Taschenbuch-Kommentar 3/1, Gütersloh 19842.
  • Luise Schottroff: Die Gleichnisse Jesu. Gütersloh 2005, ISBN 3-579-05200-4.
  • Hermann L. Strack, Paul Billerbeck: Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch.
    Band 1: Das Evangelium nach Matthäus erläutert aus Talmud und Midrasch. München 19869 (= 19262), ISBN 3-406-02723-7
    Band 2: Das Evangelium nach Markus, Lukas und Johannes und die Apostelgeschichte erläutert aus Talmud und Midrasch. München 19899 (= 19231)

Weblinks

Einzelnachweise

  1. So zum Beispiel Jürgen Roloff: Arbeitsbuch zum Neuen Testament; Berlin: Evangelische Verlagsanstalt, 1984; S. 101; Heinrich Zimmermann: Neutestamentliche Methodenlehre. Darstellung der historisch-kritischen Methode; Stuttgart: Katholisches Bibelwerk, 19827; ISBN 3-460-30027-2; S. 146.
  2. Hans Klein, S. 76
  3. Roloff, S. 101
  4. a b Craig Blomberg: Die Gleichnisse Jesu. Ihre Interpretation in Theorie und Praxis, Die zehn Jungfrauen; Witten: R. Brockhaus, 1998; ISBN 978-3-417-29428-6; S. 167–170
  5. Jeremias: Gleichnisse, S. 135
  6. Dietfried Gewalt: Der „Barmherzige Samariter“: Zu Lukas 10,25–37; EvTh 38 (1978), S. 403–417
  7. Schottroff: Gleichnisse, S. 174.
  8. Schottroff: Gleichnisse, S. 173f
  9. Vgl. auch Strack/Billerbeck I, S. 538 f.
  10. Strack/Billerbeck I, S. 353: „Indem dann das AT Lv 19,34 u. Dt 10,19 nur noch den Fremdling (גֵּר, der unter Israel Wohnsitz genommen) in den Kreis derer miteinschließt, dem Israel mit Liebe begegnen soll, zeigt es, daß mit der Liebe zum Nächsten רֵעַ nicht die allgemeine Menschenliebe gefordert ist, sondern lediglich die Liebe zum Volksgenossen.“
  11. Joachim Jeremias: Die Gleichnisse Jesu; Göttingen:Vandenhoeck & Ruprecht, 1956
  12. Homilie 34.3, Joseph T. Lienhard, trans., Origenes: Homilies on Luke, Fragments on Luke (1996), 138.
  13. Vatican Medal Awarded to English Bishop
  14. Vitraux de Chartres
  15. Räuber überfallen den Samaritaner, Auf dem Weg ins Gasthaus
  16. Jost von Ammann
  17. Rembrandt
  18. Johann Karl Loth
  19. Pauls Modersohn-Becker

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