Grundrechtsverwirkung

Grundrechtsverwirkung

Unter Grundrechtsverwirkung versteht man den Verlust einzelner Grundrechte in einem bestimmten Verfahren gemäß Art. 18 Grundgesetz.

Erläuterungen

Nur die in Art. 18 GG abschließend genannten Grundrechte (Recht auf freie Meinungsäußerung, die Pressefreiheit; Lehrfreiheit; Asylrecht; Recht auf Eigentum; Versammlungsfreiheit; Vereinigungsfreiheit und das Postgeheimnis) können verwirkt werden. Aus dem Wortlaut der Vorschrift ergibt sich daher, dass das allgemeine Menschenrecht nach Art. 1 GG, die Würde des Menschen, weiter unantastbar bleibt. Auch die Religionsfreiheit ist ausgenommen, was ihren hohen Stellenwert im Verfassungsgefüge verdeutlicht.

Die Grundrechtsverwirkung kann auch zeitlich beschränkt oder wieder zurückgenommen werden.

Da das Bundesverfassungsgericht die Grundrechtsverwirkung aussprechen muss, kommt es zu sehr langen Verfahrensdauern. Zudem stellt das Gericht strenge Anforderungen. Da Art. 18 GG der Abwehr von Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung diene, bedürfe es einer Prognose, nach der vom Antragsgegner weiterhin eine Gefahr für die verfassungsmäßige Ordnung ausgehe. Diese Gefahr war in den bisherigen Fällen nicht bewiesen oder wegen der bis zur Entscheidung bereits ergangenen strafrechtlichen Sanktionen gar nicht mehr vorhanden. Dies hat dazu geführt, dass dieses Instrument der sog. streitbaren Demokratie in der Praxis bedeutungslos blieb.

Das Grundrechtsverwirkungsverfahren nimmt unter den übrigen Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht einen geringen Stellenwert ein. Die Verfahrensvorschriften sind in § 36 bis § 42 BVerfGG festgelegt.

Das Grundrechtsverwirkungsverfahren kann nur beim BVerfG durchgeführt werden. Ein Antrag für eine Grundrechtsverwirkung kann nur von dem Bundestag, der Bundesregierung oder einer Landesregierung gestellt werden. Zunächst wird in einem Vorverfahren geprüft, ob der Antrag zulässig und hinreichend begründet ist. Danach ergeht der Beschluss, ob eine mündliche Verhandlung (das Hauptverfahren) durchzuführen ist. Das BVerfG ist befugt, Ermittlungen einzuleiten und auch Zwangsmaßnahmen wie Hausdurchsuchungen oder Beschlagnahmen anzuordnen. Das Grundrechtsverwirkungsverfahren kann sich gegen jeden Grundrechtsträger (natürliche oder juristische Personen) richten.

Das BVerfG untersucht in einer mündlichen Verhandlung, ob eine Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung vorgelegen hat bzw. in Zukunft fortbestehen wird.

Entsprechen die Tatsachen dem Antrag, so stellt das BVerfG fest, welche Grundrechte verwirkt wurden. Der Entzug der Grundrechte erfolgt mit dem Zeitpunkt der Entscheidung. Eine Verwirkung kann nach § 40 BVerfGG auch wieder aufgehoben werden.

Bisher (Stand 2005) wurden vier Verfahren beim Bundesverfassungsgericht angestrengt. Die Anträge wurden aber sämtlich zurückgewiesen; es wurde demnach noch keine Grundrechtsverwirkung ausgesprochen. Antragsgegner waren jeweils Deutsche, die in besonderer Weise nationalsozialistisches Gedankengut verbreitet hatten:

  • In BVerfGE 11, 282[1] der zweite Vorsitzende der (vom BVerfG kurz zuvor verbotenen) Sozialistischen Reichspartei.
  • In BVerfGE 38, 23[2] der Herausgeber der Deutschen National-Zeitung.
  • In 2 BvA 1/92 und 2 BvA 2/92 waren bereits die Freiheitsstrafen der Antragsgegner wegen positiver Prognose zur Bewährung ausgesetzt worden.

Struktur und Probleme der Verwirkungsklausel

Artikel 18 liegt der eigentümliche Gedanke der Verfassungsstörung durch legalen Gebrauch der Freiheit zu Grunde: Grundrechte werden zu Waffen im "Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung" (Artikel 18). Mit Hilfe einer Verwirkungsklausel lässt sich der "an sich" legale Gebrauch der Freiheit in einen funktionswidrigen "Missbrauch" uminterpretieren: Was zunächst legal ist, wird unter Berufung auf den Schutz der "freiheitlichen demokratischen Grundordnung" im nachhinein für illegitim erklärt.[3]

Dem herkömmlichen Verständnis des demokratischen Verfassungsstaats ist solch ein Verwirkungsdenken fremd; die Verfassung der USA zum Beispiel kennt keine dem Grundgesetz entsprechende Klausel. Politische Betätigung, die den Schutz der Grundrechte genießt, ist legal und bleibt das normalerweise auch - selbst wenn "Extremisten" und Radikale, welcher Couleur auch immer, als Grundrechtssubjekte handeln. Artikel 18 statuiert dagegen eine Verfassungstreuepflicht für jedermann. Damit bekommen Staatsorgane die Macht in die Hand, zwischen dem "richtigen", verantwortungsbewußten, staatstragenden Gebrauch der Grundrechte und ihrem "falschen", unverantwortlichen, staatsgefährdenden Mißbrauch zu unterscheiden. Aus Sicht der Bürgerrechte kann man es daher als positiv bewerten, dass das Verfassungsgericht bislang noch keine einzige Grundrechteverwirkung ausgesprochen hat.[4]

Einzelnachweise

  1. Az. 2 BvA 1/56
  2. Az. 2 BvA 1/69
  3. Vgl. Sebastian Cobler, Grundrechtsterror. In: Kursbuch 56 (Juni 1979).
  4. Zur Kritik und zu den bisherigen Verfahren gegen Remer, Frey, Dienel und Reisz, die vom Verfassungsgericht allesamt eingestellt wurden, vgl. Claus Leggewie/ Horst Meier, Republikschutz. Maßstäbe für die Verteidigung der Demokratie. Rowohlt: Reinbek 1995.
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