Gynozentrismus

Gynozentrismus

Der Gynozentrismus ist ein Konzept, das „die Frau“ in den Mittelpunkt stellt und tendenziell „den Manndiskriminiert. Der Begriff ist abgeleitet aus dem Altgriechischen γυνη gyne = Frau und dem Lateinischen centrum = Mittelpunkt. Er geht zurück auf Iris Marion Young, welche 1985 [1] die bis 1970 vorherrschenden liberalen, radikalen und sozialistischen Feminismustheorien als „humanistic feminism“ (dt.: Humanistischer Feminismus) kennzeichnete und davon die aufkommenden Theorien als Gynozentrismus oder gynozentrischen Feminismus benannte.[2] Eine weitere Vordenkerin dieser Theorie ist die Soziologin Dorothy Smith, die ihren Ansatz für einen weiblich zentrierten Feminismus auf die gemeinsamen Erfahrungen aller Frauen in einer männlich dominierten Welt fußt.[3] Die Theorien des gynozentrischen Feminismus werden der zweiten Welle der Frauenbewegung zugeordnet, die sogenannte Second Wave.

Inhaltsverzeichnis

Gynozentrismus als Theorie

Aus der getrennten Betrachtung der beiden Geschlechter ergibt sich sowohl der Androzentrismus, bei dem der Mann im Mittelpunkt steht, als auch der Gynozentrismus, bei der die Frau die zentrale Rolle einnehmen soll. Gynozentrismus ist eine spezifische Form von Sexismus, in der das Männliche häufig als minderwertig bezeichnet wird. Stillschweigend wird dabei Mensch als Frau und die weibliche Sicht der Dinge als die Allgemeingültige gesetzt. Im Modell des Gynozentrismus sind Frauen der Mittelpunkt des religiösen, wirtschaftlichen und sozialen Lebens und haben innerhalb dieser Theorie bestimmte geschlechtstypische Eigenschaften, die die Entwicklung der Menschheit im Gesamten voranbringen oder positiv beeinflussen. Dazu gehören Einfühlsamkeit, sogenannte emotionale Intelligenz, Pazifismus und andere Eigenschaften, die im gynozentrischen Feminismus der Frau zugeschrieben werden. Diese Eigenschaften werden jedoch durch etliche internationale Studien widerlegt, aus denen hervor geht, dass Frauen fast genau so oft wie Männer zu Gewalt neigen. Dennoch ist dies häufig immer noch ein Tabuthema, grade bei häuslicher Gewalt. Aus dieser unreflektierten und positiveren Betrachtung der Frau im Vergleich zum Mann, begründen gynozentrische Feministinnen die Notwendigkeit der gesellschaftlichen Kontrolle durch Frauen und einer matriarchalen Gesellschaftsordnung. Diese unter dieser Betrachtung entstehende ethische Vormachtstellung der Frau ist Kern einiger gynozentrischen Theorien.[4]

Verbreitung, Vorgehen und Ziele

Gynozentrismus tritt häufig in Zusammenhang mit radikalfeministischen Theorien auf. Diese Theorien werden überwiegend im Zusammenhang mit Gender Studies und dem Feminismus in den Vereinigten Staaten untersucht.

Im europäischen postmodernen Feminismus spielt Gynozentrismus kaum eine Rolle, hier liegt der Schwerpunkt auf der Aufhebung der geschlechtsspezifischen Einschränkungen in der Gesellschaft.[4]

In der gynozentrisch beeinflussten Archäologie und Geschichtsforschung spielen die Suche, die Erforschung und der Nachweis von matriarchalen Kulturen eine wesentliche Rolle. Außerdem wird die Geschichte auf die Rolle der Frau, beispielsweise als Förderin der Kultur, der gesellschaftlichen Entwicklung und auch als Opfer männlicher Vormachtstellungen, hin untersucht.[5]

Ein weiterer Bereich des Gynozentrismus ist die weiblich orientierte Spiritualität. Verschiedene Göttinnenkulte vertreten die symbolische Ebene, während andere Ansätze beispielsweise die Entwicklung, den Androzentrismus und auch die Sprache der christlichen Kirchen und der Weltreligionen kritisch beleuchten.[6] Zielsetzung ist unter anderem die Anerkennung der weiblichen Rolle in den christlichen Kirchen. Häufig vermischt sich der Gynozentrismus auch mit dem magischen oder esoterischen Ansatz des Feminismus.

Kritik

Als problematisch und nicht beweisbar gilt der beanspruchte Vorrang des Weiblichen; das Prinzip der bloßen Umkehrung des patriarchalen Systems ist umstritten, ebenso die kritiklose Übernahme von als wesensimmanent (d.h. unveränderlich, biologisch gegeben) geglaubten weiblichen und männlichen Eigenschaften. Darüber hinaus widersprechen manche Vertreterinnen des Gynozentrismus manchen kaum bestreitbaren archäologischen und geschichtlichen Beweisen über die hauptsächlich männlich bedingte Entwicklung der Kulturen, der Schrift und technologischer Errungenschaften. Weiterhin kritisch betrachtet wird die, von einigen Seiten als bewusst betrachtete, Missachtung der Existenz historisch wichtiger weiblicher Persönlichkeiten, die in diesem Weltbild als typisch männliche angesehene Motivationen und Verhaltensweisen an den Tag legten, beispielsweise Erzsébet Báthory und Margaret Thatcher.

Ein weiterer Einwand gegen den radikalen und gynozentrischen Feminismus ist die Missachtung der statistisch betrachteten positiven Entwicklung für Frauenrechte in den letzten Jahrzehnten, beispielsweise ist über die Hälfte des Privatvermögens in den Vereinigten Staaten in weiblicher Hand und mehr Mädchen als Jungen besuchen weiterführende Schulen.[7] Der Gynozentrismus betrachtet dies zwar als Fortschritt, bewegt sich jedoch kaum aus der klassischen Opferrolle, ein verbreitetes Beispiel hierfür ist Carol Gilligans Mythos des „schrumpfenden Mädchens“ (engl. Myth of the shrinking Girl). Eine eventuelle Notwendigkeit das Geschlechterverhältnis auszugleichen, um ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Frauen und Männern zu schaffen oder neu entstehende negative Stereotypen zu verhindern, wird im Gynozentrismus vernachlässigt.[8]

Einzelnachweise

  1. Iris Marion Young, Humanism, Gynocentrism and Feministic Politics, in: Women´s Studies International Forum, Vol. 8, No.3, 1985, S.173
  2. Neue feministische Tendenzen und das Problem der Identifikation, S. 14 (Seitenabruf 6. Juli 2008)
  3. Steven Seidman: Contested Knowledge: Social Theory Today, Blackwell Publishing, Seite 211 ff., ISBN 0-631-22671-0
  4. a b Pamela Abbott, Claire Wallace, Melissa Tyler: An Introduction to Sociology: Feminist Perspectives., Routledge, 2005, Seite 30 ff., ISBN 0-415-31258-2
  5. Vgl. Nelson, Kapitel 12: "Benjamin Alberti: Archaeology, Men and Masculinities"
  6. Vgl. beispielsweise Tina Beattie: God's Mother, Eve's Advocate: A Gynocentric Refiguration of Marian Symbolism., Centre for Comparative Studies in Religion and Gender, 1999, ISBN:086292488X oder Pamela Sue Anderson, Beverley Clack: Feminist Philosophy of Religion: Critical Readings, Routledge, 2004, ISBN 0-415-25750-6
  7. Blair MacRae: Operation: Gender War: Divide and Rule., BookSurge Publishing, 2005, Kapitel 24, ISBN 1-59457-694-7
  8. Christina Hoff Sommers: The WAR AGAINST BOYS: How Misguided Feminism Is Harming Our Young Men., Simon & Schuster, 2001, ISBN 0-684-84957-7

Literatur

  • Iris Marion Young: On Female Body Experience: "Throwing Like a Girl" and Other Essays (Studies in Feminist Philosophy), Oxford University Press, 2005, ISBN 0-19-516193-9
  • Jane Caputi: Goddesses and Monsters: Women, Myth, Power, and Popular Culture., Popular Press, 2004, ISBN 0-299-19624-0
  • Sarah M. Nelson: Handbook of Gender in Archaeology, Rowman Altamira, 2006, ISBN 0-7591-0678-9

Weiterführende Literatur

Christina Hoff Sommers: Who Stole Feminism?: How Women Have Betrayed Women, Simon & Schuster, 1995, ISBN 0-684-80156-6


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