Historisch-kritische Exegese

Historisch-kritische Exegese

Historisch-kritische Methode ist die Bezeichnung für einen in der Neuzeit entwickelten Methodenapparat zur Untersuchung von historischen Texten. Bekannt ist sie vor allem als Bibelkritik, eine Methode der Biblischen Exegese. Tatsächlich werden historisch-kritische Methoden aber überall dort angewandt, wo schriftlich überlieferte Traditionen in mehreren, voneinander abweichenden Varianten vorliegen oder wo ein Prozess der Verschriftlichung von paralleler mündlicher Überlieferung begleitet wird.

Inhaltsverzeichnis

Allgemeines

Wissenschaftliches Arbeiten ist dadurch gekennzeichnet, dass es sich nicht über seine Ergebnisse definiert, sondern darüber, dass alle in Frage kommenden Fakten mit intersubjektiv nachvollziehbaren Methoden geprüft werden. Sofern Wissenschaftlichkeit beansprucht wird, ist es daher notwendig, über die angewandten Methoden Rechenschaft abzulegen. Seit der Aufklärung hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass der Sinn eines Textes herausgearbeitet werden müsse, den der Verfasser in seinem historischen Umfeld zum Ausdruck bringen wollte, bevor eine weitergehende Interpretation erfolgen könne. Diese Herangehensweise ist der Kern der historisch-kritischen Methode.

Die Bezeichnung Historisch-kritisch verweist auf eine Kombination zweier Grundannahmen dieser hermeneutischen Methoden:

  • Historisch ist diese Exegese, weil sie davon ausgeht, dass die zu untersuchende Textgestalt eine Geschichte hat. Dies gilt zum Beispiel für Sagen. So kann eine Sage über Jahrhunderte mündlich überliefert worden sein und dabei zahlreiche Veränderungen erlebt haben. Diese Sage wird vielleicht von zwei verschiedenen Schriftstellern notiert. Die Drucklegung erlebt mehrere Auflagen, bei denen korrigierend oder aus anderen Gründen in den Text eingegriffen wurde. Der Text, der aktuell in einer Sagensammlung erscheint, ist nicht in dieser Form ursprünglich, sondern er hat eine Geschichte.
  • Kritisch ist die Methode nicht im umgangssprachlichen Sinn. Ihr Ziel ist nicht, einen Text zu kritisieren. Kritisch ist die Methode, weil sie davon ausgeht, dass es allgemein einsichtige Kriterien für die wissenschaftliche Untersuchung der historischen Textgestalt gibt. Das bedeutet keineswegs, dass jeder Wissenschaftler mit seinen Untersuchungen zum gleichen Ergebnis kommen muss. Jeder einzelne Untersuchungsschritt muss vielmehr für andere nachvollziehbar sein; ob er tatsächlich nachvollzogen wird, ist eine Frage der Qualität des Argumentes. Unterschiedliche Bewertungen von Details zeitigen wie in anderen wissenschaftlichen Disziplinen unterschiedliche Resultate.

Die Methodenschritte der historisch-kritischen Methode

Die historisch-kritische Methode ist die bekannteste Form der biblischen Exegese. Sie hat zum Ziel, einen biblischen Text in seinem damaligen historischen Kontext auszulegen, wobei die Rekonstruktion der vermuteten Vorgeschichte des Textes eine besondere Rolle spielt. Historisch gesehen ist sie eigentlich keine einheitliche Methode, sondern ein buntes Gemisch aus verschiedenen Fragestellungen, die v.a. seit der Aufklärung von wissenschaftlicher Seite her an die Bibel gestellt wurden. Sie gilt bis heute in der evangelischen und katholischen Theologie als Standardmethode der Bibelauslegung, auch wenn die exegetische Fachdiskussion sich seit den 1970er Jahren immer stärker auch anderen Auslegungsansätzen zuwendet (vgl. Biblische Exegese). Die Anwendung der historisch-kritischen Methode auf die Bibel setzt voraus, dass biblische Exegese „ein Stück Geschichtswissenschaft“ (Rudolf Bultmann) sei, da es sich beim Bibeltext um ein geschichtliches Dokument handele. (Bisweilen wird diese Texttheorie als einseitig kritisiert, daher neuerdings auch die Beschäftigung mit anderen Ansätzen.) Die Auslegung von Bibelabschnitten in ihrem historischen Kontext macht einem zum Beispiel bewusst, dass Jesus Jude war, oder dass die Regel „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ zum damaligen Zeitpunkt ein menschenrechtlicher Fortschritt war.

Die Schritte der historisch-kritischen Methode orientieren sich an der Entstehungsgeschichte des heute überlieferten Textes. Gewisse Taten und Worte (z. B. von Jesus) sind zunächst mündlich gesammelt und tradiert/überliefert worden, dann in Einzelschriften verschriftlicht und zusammengefasst worden. Diese Schriften wurden über einen Zeitraum von vielen Jahrhunderten immer wieder abgeschrieben, wobei Schreibfehler, Ergänzungen u. ä. sich eingeschlichen haben. Die historisch-kritische Methode versucht, diese Entwicklungsgeschichte „rückgängig“ zu machen, um sich dem ursprünglichen Text/Wort in seinem historischen Kontext wieder zu nähern.

Um Abschreibfehler und Ergänzungen herauszufiltern, betreibt man den Schritt Textkritik (1), an dessen Ende die Übersetzung (2) des vermeintlich ursprünglichen Textes steht. Dieser kann dann in seiner vom damaligen Schreiber erstellten Form mit Hilfe der Textanalyse (3) auf seine Aussageintention hin untersucht werden. Im größeren Kontext kann man auch mit Hilfe der Redaktionskritik/-geschichte (4) nach der Intention der gesamten Einzelschrift fragen. Als nächstes versucht man, ausgehend vom vermeintlich ursprünglichen Text die verschiedenen schriftlichen Quellen zu erarbeiten. Dies kann mit Hilfe der Literarkritik (5) gelingen. Die Formkritik (6) und die Traditionsgeschichte (7) setzen sich daraufhin zum Ziel, aus den rekonstruierten schriftlichen Quellen die mündlichen Traditionen zu erschließen. Unterstützend werden die Schritte Motivgeschichte (8) und Religionsgeschichte (9) herangezogen, die versuchen, die historische Kontextsituation des gesprochenen Wortes zu erhellen. Den Abschluss jeder historisch-kritischen Herangehensweise bildet eine zusammenfassende Interpretation (10).

Textkritik: Vergleich der Handschriften

Bevor man sich der Auslegung eines biblischen Textes widmen kann, stellt sich zunächst die Frage: Welcher Text ist überhaupt gemeint? Bis zur Druckfassung von Gutenberg wurde der Text handschriftlich überliefert und war daher im Laufe der Jahrhunderte manchen Änderungen aus unterschiedlichen Motiven unterworfen wie auch reinen Abschreibfehlern. Der in der Reformationszeit bekannte Bibeltext, der Textus Receptus, unterschied sich daher vom heute rekonstruierten Bibeltext an einigen Stellen, wenn auch meist nur in Details. Als Textgrundlage gelten heute Handschriften und Handschriftenfragmente aus dem 2.-4. Jahrhundert n. Chr. für das Neue Testament, und für das Alte Testament ein vollständiges hebräisches Manuskript um 1000 n. Chr., dessen Texttreue jedoch durch die Funde von Qumran bestätigt ist. Unsere neueren Bibelübersetzungen berücksichtigen bereits die jeweils aktuellen Forschungsergebnisse. Auch die hebräische Textausgabe des Alten Testaments (Biblia Hebraica Stuttgartensia) und die griechische Textausgabe des Neuen Testaments (Eberhard Nestle/Kurt Aland, Novum Testamentum Graece) enthalten Anmerkungen, an welchen Stellen des Bibeltextes unterschiedliche Textvarianten in den ältesten Handschriftenfunden existieren. Die erste Aufgabe des Exegeten ist es also, die Handschriften nach Quantität und Qualität sowie nach weiteren Kriterien abzuwägen und zu entscheiden, welche Lesart die ursprüngliche ist. Wissenschaftliche Kriterien für die Textkritik wurden zuerst von Johann Albrecht Bengel (1687-1752) entwickelt, einem bekannten Vertreter des Pietismus. Fast immer kann man heute aus guten Gründen entscheiden, warum eine bestimmte Lesart in einem Manuskript einer anderen Lesart vorzuziehen ist, eine „absolute“ Gewissheit gibt es jedoch nicht.

Siehe auch: Textkritik, Textkritik des Alten Testaments, Textkritik des Neuen Testaments

Literatur (s. u.): Söding 1998, 86-101; Conzelmann/Lindemann 1998, 25-35; Steck 1999, 37-45; Meiser/Kühneweg 2000, 36-50; Utzschneider/Nitsche 2001, 35-58; Becker 2005, 14-38; Heininger/Ebner 2005, 25-51; Schnelle 2005, 33-52.

Übersetzung aus dem Hebräischen bzw. Griechischen

Nachdem der ursprüngliche hebräische bzw. griechische Text festgestellt worden ist, kann er ins Deutsche übersetzt werden. Das erfordert vom Exegeten möglichst gute Kenntnisse in Althebräisch und Altgriechisch (einige Kapitel des Alten Testaments sind außerdem in Aramäisch verfasst) - weswegen Theologiestudenten bis heute diese alten Sprachen erlernen müssen -, zum anderen ist auch Grundwissen in Linguistik und Übersetzungswissenschaft nötig. Man muss verstehen, wie Sprachen funktionieren. Es gibt auch im Hebräischen und Griechischen Phänomene wie Polysemie (Mehrdeutigkeit), Stilmittel, sprichwörtliche Wendungen, Poesie usw., die auch als solche verstanden werden sollten. Manche Begriffe müssen im Deutschen durch längere Ausdrücke umschrieben werden. Der Exeget und die Exegetin müssen also eine gute Balance halten können zwischen einer sklavischen Wort-für-Wort-Übersetzung, die aber das tatsächlich Gemeinte nicht erschließt, und zwischen freien Umschreibungen, die zwar den Inhalt gut erfassen, aber sich sehr weit vom Wortlaut des ursprünglichen Textes entfernen. Wer sich eine deutsche Bibel kaufen will, hat die Wahl zwischen formtreuen Übersetzungen (z. B. die Elberfelder Bibel), inhaltstreuen Bibelübersetzungen (z. B. die Gute-Nachricht-Bibel) und den Übersetzungen der „Mitte“ (Lutherübersetzung, Einheitsübersetzung).

Siehe auch Bibelübersetzung, Übersetzungskritik

Literatur (s. u.): Söding 1998, 81-84; Neudorfer/Schnabel 1999, bes. 127-150.

Textanalyse: Die Struktur des Textes

Zwar hat der/die BibelauslegerIn an dieser Stelle bereits eine vorläufige deutsche Übersetzung des Textes zur Hand, doch beziehen sich alle folgenden Schritte um der Exaktheit willen grundsätzlich auf den hebräischen bzw. griechischen Text. Der hier aufgeführte dritte Schritt der Textanalyse gehört zwar eigentlich nicht zur klassischen historisch-kritischen Methode, wird aber in neueren Methodenbüchern schon eigens berücksichtigt. Während die klassische historisch-kritische Methode sich vor allem darauf konzentrierte, die vermutete Entstehungsgeschichte des Bibeltextes zu rekonstruieren („diachron“), geht man in der Exegese neuerdings verstärkt dazu über, den Bibeltext als solchen in seiner Endgestalt zu betrachten („synchron“). Bevor man den Text in seine Vorstufen „zerlegt“, solle er zunächst auch selbst zur Geltung kommen. Dazu wird bei der Textanalyse auf Methoden aus Linguistik und Literaturwissenschaften zurückgegriffen: auf die Erstellung von Wortfeldern aus Begriffen des Textes, auf die Struktur und Entfaltung der „Story“ sowie auf die Zeichnung der Erzählfiguren durch den biblischen Erzähler (Erzähltheorie), auf das Aktantenmodell von Greimas oder auf die Semantische Strukturanalyse (Neudorfer/Schnabel 1999, 69ff), welche den linguistisch-grammatischen Aufbau eines Textes nachzeichnen hilft.

Siehe auch Textanalyse

Literatur (s. u.): Egger 1987, 74-146 (klassisch); Neudorfer/Schnabel 1999, 69-154; Meiser/Kühneweg 2000, 260-275 [Anhang]; Utzschneider/Nitsche 2001, 59-112; Dreytza u.a. 2002, 63-78; Schnelle 2005, 55-63; Heininger/Ebner 2005, 57-130.

Redaktionsgeschichte: der Umgang des Autors mit seinen Quellen

Der Methodenschritt der Redaktionsgeschichte beschreibt, in welcher Weise ein späterer Autor die Quellen der jeweils früheren schriftlichen Überlieferungsstufe verarbeitet hat und mit welcher Intention er seine Schrift abgefasst hat. Auf diese Weise tritt für jeden biblischen Autor dessen spezielles theologisches Profil hervor. Beim Matthäusevangelium und Lukasevangelium beispielsweise, die gemäß der Zweiquellentheorie in vielen Textabschnitten auf das Markusevangelium zurückgegriffen haben sollen, wird untersucht, in welcher Weise sie vom Markusevangelium abweichen. Anhand der redaktionellen Veränderungen wird deren eigenes theologisches Profil bestimmt. Solche redaktionellen Veränderungen können sein: stilistische Anpassungen; Umstellung von Textabschnitten; Kürzungen; Erweiterungen; Zusammenfügung verschiedener Traditionen; theologische Deutungen der literarischen Vorlage. Zum Teil wird auch die Kompositionskritik in diesen Methodenschritt einbezogen, also die Analyse, wie das gesamte Werk strukturiert ist.

Siehe auch Redaktionsgeschichte bzw. Redaktionskritik

Literatur (s. u.): Zimmermann 1982, 217-238; Conzelmann/Lindemann 1998, 115-125; Söding 1998, 208-220; Steck 1999, 76-97; Meiser/Kühneweg 2000, 98-108; Becker 2005, 76-97; Heininger/Ebner 2005, 347-381; Schnelle 2005, 149-163.

Literarkritik: Rekonstruktion der Quellen

Die biblische Exegese sieht es außerdem als eine ihrer Hauptaufgaben an, mittels Literarkritik die schriftlichen Quellen des Bibeltextes zu rekonstruieren. Im Gegensatz zur literaturwissenschaftlichen Textanalyse ist die Literarkritik sehr alt. Die Methode der Literarkritik entstand in der Bibelexegese im 18. und 19. Jahrhundert aus dem Bedürfnis heraus, die Widersprüche, Spannungen, Doppelungen und sprachliche Unterschiede zwischen Bibeltexten zu erklären. Entsprechende Beobachtungen wurden schon zur Zeit der Alten Kirche gemacht, stellten aber damals noch kein echtes Problem dar (für Origenes zeigten die Widersprüche zwischen den Evangelien, dass der Leser auf den geistlichen und nicht den wörtlichen Sinn der Bibel achten müsse; Augustinus dagegen versuchte die Harmonie der Evangelien nachzuweisen). Mit dem Erwachen des historischen Bewusstseins in der Aufklärungszeit musste die Bibelexegese jedoch eine historische Antwort auf das Problem der Widersprüche geben, zum anderen wollte man nun auch die ältesten, ursprünglichsten Quellen herausarbeiten, denen der höchste historische Wert zugemessen wurde.
Die Literarkritik versucht also zu klären, ob der Autor eines Bibeltextes auf schriftliche Quellen zurückgegriffen hat. Vor allem bei alttestamentlichen Texten, aber auch bei einigen neutestamentlichen Texten ist wohl vorauszusetzen, dass der einzelne Bibeltext eine lange Vorgeschichte besitzt, also aus verschiedenen Quellen zusammengesetzt ist und dabei immer wieder überarbeitet wurde. Das Ziel ist letztlich, die Texte der verschiedenen Redaktionsstufen möglichst im Wortlaut zu rekonstruieren. Wie aber findet man Quellen und Bearbeitungen heraus, wenn es keine externen Hinweise gibt? Im Buch Genesis wurde beispielsweise beobachtet, dass einige Textpassagen von Gott als „Jahwe“ sprechen (der israelitische Gottesname), andere Texte beschreiben ihn einfach als „Elohim“ (= Gott), und wieder andere Texte mischen diese Gottesbezeichnungen. In Verbindung mit anderen Beobachtungen wurde daraus geschlossen, dass zwei Quellen zugrunde gelegen haben müssen, die eine sei vom Jahwisten, die andere vom Elohisten geschrieben. Oder aus sprachlichen und inhaltlichen Gründen kann man Jesaja 40-55 und 56-66 anderen Autoren zuweisen als (der Grundtext von) Jesaja 1-39 usw. Um unterschiedliche Quellen voneinander abzugrenzen, achtet man auf das unvermittelte Auftauchen neuer Personen, Orte, Zeitangaben oder anderer Themen, auf Widersprüche oder fehlende Bezüge zwischen einzelnen Versen oder auf Wiederholungen im Text, die einen straffen Erzählablauf stören.

Im Bereich des Neuen Testaments fand man beispielsweise heraus, dass das Matthäusevangelium und das Lukasevangelium in vielen Textabschnitten auf das Markusevangelium zurückgegriffen haben. Die Literarkritik untersucht nun, in welcher Weise Abweichungen bestehen, wo weitere Ergänzungen vorgenommen wurden und wo gänzlich andere Quellen eingebaut worden sind.

Die wichtigsten literarkritischen Hypothesen wurden im 19. Jahrhundert entwickelt und gelten in modifizierter Form bis heute, zum Beispiel die JEDP-Hypothese beim Pentateuch oder die Zweiquellentheorie bei den Synoptischen Evangelien. Allerdings sind viele Exegeten inzwischen vorsichtiger geworden, mehrere Vorstufen eines Bibeltextes wörtlich zu rekonstruieren, weil die Kriterien der Quellenscheidung zum Teil sehr subjektiv sind und die Zahl der - einander widersprechenden - literarkritischen Entstehungshypothesen heute fast unüberschaubar geworden ist.

Siehe auch Literarkritik, Zwei-Quellen-Theorie

Literatur (s. u.): Conzelmann/Lindemann 1998, 64-81.126-130; Söding 1998, 190-207; Steck 1999, 37-45; Meiser/Kühneweg 2000, 51-66; Becker 2005, 38-62; Heininger/Ebner 2005, 157-178; Schnelle 2005, 65-99.

Formgeschichte: Bestimmung der Textgattung

Als nächstes wird die sprachliche Form des Textes untersucht. Beim Endtext (und allen seinen Vorstufen) ist zu klären: Handelt es sich um eine Wundergeschichte? Um ein Gleichnis? Um ein prophetisches Mahnwort? Denn um einen Text zu verstehen, sollte man dessen Textgattung richtig zugeordnet haben. Ein Gleichnis beispielsweise will nicht historisch verstanden werden, sondern als eine vergleichende Erzählung, die in einem bestimmten Punkt eine allgemeine Wahrheit transportieren und veranschaulichen soll. Jesus verwendete diese Erzählgattung sehr häufig (bekannt ist das Gleichnis vom verlorenen Sohn in Lukas 15,11-32). Nach der Zuordnung des Textes zu einer bestimmten Textgattung kann man analysieren, ob und an welchen Punkten die konkrete Textform von der idealtypischen Gattung abweicht, um auch daraus einige Schlüsse zu ziehen. Die Formgeschichte hat in der Bibelexegese zwei Ausprägungen gefunden, die sogenannte „ältere Formgeschichte“ und die „neuere Formgeschichte“.

a) Die „ältere Formgeschichte“ entstand um 1920 mit drei Publikationen von Karl Ludwig Schmidt, Martin Dibelius und Rudolf Bultmann. Die Bestimmung der Textgattung sollte nicht nur als Verstehensrahmen dienen, sondern sollte helfen, die mündliche Überlieferung vor den ältesten schriftlichen Quellen sehr genau nachzuzeichnen. Der Grundgedanke ist folgender: Jede Textgattung hat immer auch einen bestimmten Sitz im Leben, nämlich eine typische Situation, in der sie verwendet wird. So sei der „Sitz im Leben“ von Gebeten oder Lehrtexten der Gottesdienst und die christliche Unterweisung, der von Wundergeschichten dagegen die missionarische Verkündigung. In der typischen Überlieferungssituation wurde dabei in der Regel auch ihr Ursprung gesehen; man konnte nun also sehr einfach bestimmen, in welcher Situation und zu welchem Zweck die frühchristliche Gemeinde Jesuserzählungen „erfand“. Wenn eine - durch die Literarkritik bereits von allen späteren schriftlichen Zusätzen befreite - mündliche Erzählung mehreren Zwecken gedient haben könnte, wird je ein Zielpunkt wiederum einer eigenen mündlichen Überlieferungsstufe zugeordnet (beispielsweise in der Exegese von Jakobs Kampf am Jabbok in Genesis 32,23-33). Die Möglichkeit, dass eine mündliche Überlieferung auch einen historischen „Kern“ besitzen kann, wird durch diese Vorgehensweise zwar nicht ausgeschlossen, aber deutlich minimiert. Die Bibelexegese in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte ihren Schwerpunkt dabei im Differenzkriterium, um den 'historischen Jesus' aus den biblischen Texten herauszuschälen: Der so rekonstruierte Jesus trug im Grunde weder jüdische noch christliche Züge, obwohl Jesus unbestritten Jude war und das Christentum begründete. Daher wird das Differenzkriterium in der heutigen Leben-Jesu-Forschung durch das Kohärenzkriterium ergänzt (Gerd Theißen).

b) Während die Gattungsbestimmung bei der „älteren Formgeschichte“ vor allem den Zweck hatte, die mündliche Vorgeschichte des Textes zu rekonstruieren, bricht die „neuere Formgeschichte“ ganz mit diesem Ziel. Denn „die Möglichkeit diachroner Rückfrage mit Hilfe formgeschichtlicher Forschung wird zunehmend in Frage gestellt“ (Meiser/Kühneweg 87): Man müsse auch mit einem Traditionskontinuum zwischen Jesus und der Gemeinde rechnen, besonders wenn sich die Unterweisung der Jünger durch Jesus an das rabbinische Schulwesen anlehnte und dann die soziale Rolle der Traditionsträger (z. B. Apostel) im Urchristentum beachtet wird. Die Tradition mag in der Urgemeinde geformt worden sein, ist aber nicht notwendigerweise erst von ihr erfunden. Dass am Anfang der mündlichen Überlieferung immer die „reine Form“ gestanden habe, ist nicht zwingend. Außerdem war die ältere Formgeschichte noch sehr selbstgewiss darin, die verschiedenen Stufen der mündlichen Überlieferung im Wortlaut rekonstruieren zu können - dabei zeigen Untersuchungen, dass mündliche Überlieferung im Wortlaut variieren kann.

Die „neuere Formgeschichte“ verzichtet dagegen völlig darauf, aus der Form des Textes Hypothesen über die Textgeschichte zu gewinnen. Stattdessen werden Form und Gattung des Endtextes umso genauer gewürdigt: Zunächst beschreibt man die individuelle Form des Einzeltextes, dann sucht man ähnliche Texte aus biblischer und außerbiblischer antiker Literatur und versucht ein gemeinsames Gattungsschema zu erstellen, um zuletzt die individuellen Abweichungen vom Gattungsschema zu untersuchen sowie die Konsequenzen, die sich daraus für das Verstehen ergeben. Für die Formanalyse gibt es inzwischen sehr ausgefeilte Klassifizierungen von antiken Textgattungen und Untergattungen (K. Berger).

Siehe auch Formgeschichte

Literatur: Conzelmann/Lindemann 1998, 82-114.131-148; Söding 1998, 128-173; Steck 1999, 98-125; Meiser/Kühneweg 2000, 84-101; Utzschneider/Nitsche 2001, 113-149; Dreytza u.a. 2002, 79-99; Becker 2005, 97-115; Heininger/Ebner 2005, 179-204; Schnelle 2005, 100-129.

Traditionsgeschichte: Die zugrunde liegende mündliche Überlieferung

Die Traditionsgeschichte zeichnet - im Verbund mit der Formgeschichte - die Entwicklung der mündlichen Überlieferung nach, die den ersten schriftlichen Vorstufen des Textes voranging. In einigen exegetischen Methodenlehren wird sie auch „Überlieferungsgeschichte“ genannt. (Genaueres in Kürze.)

Siehe auch: Traditionsgeschichte, Traditionskritik bzw. Überlieferungsgeschichte

Literatur (s. u.): Steck 1999, 63-75; Utzschneider/Nitsche 2001, 187-212; Becker 2005, 63-76; Heininger/Ebner 2005, 325-346; Schnelle 2005, 130-133.

Begriffs- und Motivgeschichte: wie sich Vorstellungen entwickelten

(Dieser Methodenschritt wird manchmal auch als Traditionskritik bezeichnet.)

Während die Literarkritik, Form- und Traditionsgeschichte an den mündlichen und schriftlichen Vorstufen des Bibeltextes insgesamt interessiert sind, versucht der/die ExegetIn in diesem Methodenschritt nun die Vorgeschichte von einzelnen Ausdrücken des Bibeltextes nachzuzeichnen. Wenn beispielsweise in neutestamentlichen Texten vom „Sohn Davids“, von „Gerechtigkeit“, vom „Heiligen Geist“, von „Gesetz“, von „Evangelium“ oder vom „Lamm Gottes“ die Rede ist, so muss für diese Ausdrücke der damalige Vorstellungshintergrund des antiken biblischen Autors rekonstruiert werden. Das geschieht anhand von früheren und zeitgleichen biblischen und außerbiblischen Texten, in denen ähnliche Begriffe und Anschauungen gesucht werden. Ob ein Begriff eher in seiner frühjüdischen (inklusive alttestamentlichen) Verwurzelung oder eher auf römisch-hellenistischem Hintergrund gedeutet werden soll, ist jedoch häufig umstritten. Ähnliches gilt für die Deutung von Ausdrücken in alttestamentlichen Texten. Die Erkenntnis, dass Begriffe in ihrem historischen Kontext zu deuten sind, reicht bis in die Anfänge der Textauslegung zurück, die Methode der Motivgeschichte wurde in den letzten Jahrhunderten in der Exegese jedoch noch weiter verfeinert. Die Ergebnisse der Motivgeschichte findet man in den großen theologischen Lexika (ThWAT, ThWNT) oder für den Bibelleser in Bibellexika zusammengefasst.

Siehe auch Motivgeschichte

Literatur (s. u.): Söding 1998, 173-190; Steck 1999, 126-149; Becker 2005, 115-128; Schnelle 2005, 134-138.

Religionsgeschichte: Vergleich mit außerbiblischen Texten

Die biblischen Texte haben sich nicht im luftleeren Raum entwickelt, sondern standen in Beziehung und Austausch zu anderen Denkweisen in ihrem kulturellen Umfeld. Es geht bei diesem Methodenschritt speziell darum, Formulierungen oder Gedanken des biblischen Textes und seiner hypothetischen Vorstufen in die allgemeine altorientalische Geschichte, Religion und Kultur bzw. in den hellenistisch-römischen und frühjüdischen geschichtlichen und religiös-kulturellen Hintergrund einzuzeichnen. Im Theologiestudium wird daher auch Grundwissen aus benachbarten historischen Disziplinen vermittelt. So kann man beispielsweise herausarbeiten, dass Sprüche 22,17-23,11 zum Teil wörtliche Anklänge an einen ägyptischen Text um 1100 v. Chr. besitzt, die Lehre des Amenemope. Die Sintflut-Erzählung (Genesis 6-8) hat aufschlussreiche Parallelen im sumerischen Gilgamesch-Epos. Paulus verwendet nach der Schilderung in Apostelgeschichte 26,14 eine Formulierung aus Aischylos, Agamemnon („Schwer ist es dir, gegen den Stachel auszuschlagen“); oder der Schreiber des Titusbriefs zitiert den griechischen Dichter Epimenides, De oraculis: „Die Kreter sind immer Lügner…“ (Titus 1,12). Noch viel zahlreicher sind indirekte gedankliche Bezüge, wobei man jedoch auch nicht der „Parallelomanie“ erliegen sollte, die bei jeder geringen Ähnlichkeit sofort eine Abhängigkeitsbeziehung zu außerbiblischen Texten vermutet. Der religionsgeschichtliche Vergleich wird in der Bibelexegese seit dem Ende des 19. Jahrhunderts (vgl. Religionsgeschichtliche Schule, Bibel-Babel-Streit) intensiv betrieben.

Siehe auch Religionsgeschichtlicher Vergleich

Literatur (s. u.): Söding 1998, 250-267; Fenske 1999, 122-140; Becker 2005, 119-121; Schnelle 2005, 139-148.

Zusammenfassende Interpretation und theologische Aussage(n)

Zum Schluss wird die Entstehung des Bibeltextes in seinen einzelnen mündlichen und schriftlichen Überlieferungsstufen noch einmal knapp zusammengefasst; dabei sollten auch die theologischen Beweggründe für die textlichen Veränderungen deutlich werden. Außerdem kann - das geht jedoch über die historisch-kritische Methode hinaus - danach gefragt werden, welche Rolle das Thema des Textes innerhalb der Bibel (Biblische Theologie) oder der christlichen Theologie spielt.

Literatur (s. u.): Söding 1998, 268-273; Steck 1999, 159-177; Meiser/Kühneweg 2000, 109-111; Utzschneider/Nitsche 2001, 286-295; Becker 2005, 128-136.

Kritik an der historisch-kritischen Methode

  • Das Theorie-Praxis-Problem: Von wissenschaftlicher Seite wird häufig kritisiert, dass die Priester oder Pastoren in der Praxis nur noch selten die historisch-kritische Methode anwenden, obwohl jeder Vorbereitung von Predigt oder Bibelstunde eine wissenschaftliche Exegese des Bibeltextes vorausgehen solle. Viele „Praktiker“ jedoch beklagen ihrerseits, dass die historisch-kritische Methode nicht besonders hilfreich für die Predigtvorbereitung sei. Das Theorie-Praxis-Problem wird von manchen als Krise der klassischen Exegese gedeutet: Auf der einen Seite besitzt die biblische Exegese eine sehr ausgefeilte Methode der Auslegung (die historisch-kritische Methode), auf der anderen Seite wird sie in der nichtuniversitären Praxis kaum angewendet, offenbar weil in diesem Kontext noch andere Fragen und Anforderungen an die Bibelauslegung gestellt werden. Zwar ist in der aktuellen exegetischen Fachdiskussion vieles in Bewegung gekommen, seit den 1970er Jahren wächst die Zahl der in der Bibelexegese verwendeten Auslegungsmethoden rasant (vgl. Biblische Exegese). Allerdings umfasst die exegetische Ausbildung der Theologen weiterhin meist nur die historisch-kritische Methode, da sich andere Methoden erst noch etablieren müssen.
  • Distanzierung: Die Anwendung der historisch-kritischen Methode bewirkt eine geschichtliche Distanzierung des Auslegers vom Bibeltext. Die historisch-kritische Methode allein kann nicht klären, wie der Bibeltext für die Gegenwart Bedeutung erlangen kann. Außerdem verstelle die historisch-kritische Methode durch die aufwändige Detailarbeit den Blick auf das Ganze. Doch es wird auch nicht als Aufgabe der historisch-kritischen Methode angesehen, unmittelbar eine Basis für das christliche Leben zu geben, sondern nur die historische Bedeutung eines Bibeltextes herauszuarbeiten, wobei die Auslegenden im Sinne der Hermeneutik ihre Voraussetzungen und Methoden reflektieren.
  • Die innerwissenschaftliche Debatte:
    • Die Notwendigkeit eines Methodenpluralismus
    • Das Primat der Synchronie vor der Diachronie
    • Das Verhältnis von Geschichte und Literatur
    • Die Unangemessenheit historisch-kritischer Fragestellungen zur Ermittlung der Intention der biblischen Autoren und ihrer Texte
  • Während er die historisch-kritische Methode in keiner Weise völlig ablehnt, sieht der Neutestamentler Klaus Berger in der historisch-kritischen Methode, wie sie heute praktiziert wird, einige unhaltbare Grenzüberschreitungen. [1]
    • nicht überzeugende Kriterien für Echtheit und Unechtheit von Jesusworten
    • die Erklärung, dass das Johannes-Evangelium historisch wertlos sei, hält er für bodenlos
    • Leugnung der Wunder sieht er als modernes weltanschauliches Diktat
    • den Ostergraben (Jesus sei ein einfacher Mensch gewesen und erst nach Ostern als Messias gesehen worden) hält er für ein plattes Postulat.

Literatur

  • Udo Schnelle: Einführung in die neutestamentliche Exegese. 6. neubearb. Aufl., UTB 1253, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2005, ISBN 3-525-03230-7 (knappe Übersicht; wird im ev. Theologiestudium häufig verwendet)
  • Georg Fohrer: Exegese des Alten Testaments. 6. Auflage, Heidelberg 1993 (gute Übersicht; Standardwerk)
  • Gerhard Maier Das Ende der historisch-kritischen Methode. R. Brockhaus Verlag, Wuppertal, 1974, ISBN 3-7974-0050-0

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Klaus Berger, Das kranke Herz der Theologie in Widerworte, 2005

Weblinks


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