Hungerjahr 1816

Hungerjahr 1816
Die Entwicklung der globalen Durchschnittstemperatur während der letzten 1.000 Jahre, nach verschiedenen Quellen rekonstruiert und seit dem 19. Jahrhundert direkt gemessen.

Als das Jahr ohne Sommer wird das vor allem im Nordosten Amerikas und im Westen und Süden Europas ungewöhnlich kalte Jahr 1816 bezeichnet. In den USA bekam es auch den Spitznamen „Eighteen hundred and frozen to death“ (zu deutsch etwa „Achtzehnhunderttotgefroren“). Weitere „Jahre ohne Sommer“ ereigneten sich in Mitteleuropa etwa 1529, 1588, 1601, 1618, 1628, 1675 und 1813 (nach Pfister 1999). Die Ursache für „Jahre ohne Sommer“ wird in besonders schwefelreichen oder besonders heftigen und aschereichen vulkanischen Eruptionen gesehen.

Inhaltsverzeichnis

Details

Anfang Juli und Ende August 1816 gab es im Nordosten der USA Nachtfrostperioden. Im Osten Kanadas und in Neuengland fiel Schnee, der in Québec eine Höhe von 30 cm erreichte. Die Fröste führten zu schweren Ernteeinbußen und in der Folge zu stark gestiegenen Getreidepreisen, eine ausgesprochene Hungersnot gab es in diesem Jahr jedoch noch nicht. Der Getreidepreis erreichte erst im Folgejahr (1817) das Anderthalbfache des Niveaus von 1815.[1]

In Mitteleuropa kam es zu schweren Unwettern; zahlreiche Flüsse – unter anderem der Rhein – traten über die Ufer. In der Schweiz schneite es jeden Monat mindestens einmal bis auf 800 m Meereshöhe. Die Folge der niedrigen Temperaturen und anhaltenden Regenfälle in Teilen Europas waren katastrophale Missernten. Am stärksten betroffen war das Gebiet unmittelbar nördlich der Alpen: Elsass, Deutschschweiz, Baden, Württemberg, Bayern und das österreichische Vorarlberg. Hier erreichte der Getreidepreis im Juni 1817 das Zweieinhalb- bis Dreifache des Niveaus von 1815.[1] An einzelnen abgelegenen Orten wurde auch das Vierfache erreicht. Durch die geringere Schneeschmelze im Vorjahr und die angesammelten zusätzlichen Schneefälle zum Beispiel in den Alpen führte die Schneeschmelze nun örtlich erneut zu katastrophalen Überschwemmungen. Hungersnöte brachen aus. Tausende der zusätzlich noch unter den Folgen der Napoleonischen Kriege leidenden Europäer wanderten schließlich in die USA aus.

In Skandinavien und Osteuropa waren dagegen kaum Auswirkungen feststellbar. So stieg in Polen der Getreidepreis von 1815 bis 1817 wegen der verstärkten Exportnachfrage um lediglich ein Viertel.[1]

Zur Erinnerung an diese Zeit wurden in Deutschland mancherorts sogenannte Hungertaler geprägt, doch auch andere Formen von Erinnerungsstücken sind bekannt [2].

Ursache

Erst 1920 fand der US-amerikanische Klimaforscher William Humphreys eine Erklärung für das „Jahr ohne Sommer“. Er führte die Klimaveränderung auf den Vulkanischen Winter in Folge des Ausbruchs des Vulkans Tambora auf der Insel Sumbawa im heutigen Indonesien zurück. Dieser war im April 1815 mit einer Stärke von 7 auf dem Vulkanexplosivitätsindex ausgebrochen und hatte neben ungefähr 150 km³ Staub und Asche Schwefelverbindungen, die auf ein Schwefeldioxidäquivalent von 130 Mt geschätzt werden[3], in die Atmosphäre geschleudert, die sich in den oberen Luftschichten wie ein Schleier um den gesamten Erdball legten. Die Abkühlung des Weltklimas durch den Ausbruch hielt noch bis 1819 an.

Wirkungen

Die Hungersnot von 1817 war Anlass für verschiedene Maßnahmen zur Förderung der Landwirtschaft, darüber hinaus auch für Organisationsreformen im staatlichen Bereich, die auch im Zusammenhang von Restauration und Verfassungsdiskussion zu sehen sind, sowie für die Stiftung karitativer Organisationen. Im stark betroffenen Württemberg beispielsweise initiierte Wilhelm I. 1817 die Gründung eines landwirtschaftlichen Vereins, dessen Centralstelle ab 1818 jährlich ein landwirtschaftliches Fest mit Wettbewerben veranstaltete, das heutige Cannstatter Volksfest. Königin Katharina plante und leitete den Wohltätigkeitsverein, der ab 1817 als halbstaatliche Organisation Funktionen vergleichbar einer innerstaatlichen Entwicklungshilfe, außerdem der Hunger- und Katastrophenhilfe übernahm und durch den wiederum 1818 die Württembergische Sparkasse gegründet wurde[4]. Ebenfalls 1818 gründete Wilhelm eine landwirtschaftliche Unterrichts-, Versuchs- und Musteranstalt, heute die Universität Hohenheim.

Der Chemiker Justus von Liebig wurde durch die Erinnerung an die Hungersnöte zu seinen Untersuchungen über die Bedingungen des Pflanzenwachstum angeregt. Dazu entwickelte er die Organische Chemie und führte die Mineraldüngung ein, die zu einer Steigerung der Erträge der Landwirtschaft führten.

Auch die Entwicklung der Draisine, eines Vorläufers des Fahrrades, geht auf die Hungersnot und das Pferdesterben nach der Tambora-Eruption zurück.

In den USA bewogen Missernten viele Farmersfamilien aus Neuengland und anderen Küstenstaaten in den Nordwesten, an die frontier zu ziehen, so dass innerhalb weniger Jahre die Staaten Ohio, Indiana und Illinois besiedelt wurden.

Die britische Schriftstellerin Mary Wollstonecraft Shelley verbrachte den Sommer 1816 mit Freunden in der Nähe des Genfersees. Sie besuchten öfters Lord Byron in der nahegelegenen Villa Diodati. Aufgrund des extrem schlechten Wetters konnten die Anwesenden oft das Haus nicht verlassen. So beschlossen sie, jeweils eine Schauergeschichte zu schreiben und den anderen vorzutragen. Shelley schrieb die Geschichte Frankenstein und Byrons Leibarzt John Polidori (1795–1821) verfasste Der Vampyr – eine Vampirgeschichte lange vor dem Entstehen von Bram Stokers Dracula. Lord Byron vollendete seine Geschichte nicht, doch hat er die Eindrücke dieses Sommers in dem Gedicht Die Finsternis verarbeitet.

Quellen

  1. a b c John D. Post: A Study in Meteorological and Trade Cycle History: The Economic Chrisis Following the Napoleonic Wars. In: The Journal of Economic History 34 (1974), S. 315–349.
  2. Volker Kennemann: Das Hungerjahr 1816/17. In: An Bigge, Lenne und Fretter, Heft 25, Dezember 2005, S. 124 ff.
  3. Hans Graf: Klimaänderungen durch Vulkane. – Forschungsbericht 2002 des MPI für Meteorologie
  4. Landesarchiv Baden-Württemberg: Findbuch zum Bestand E 191. Zentralleitung des Wohltätigkeitsvereins bzw. für Wohltätigkeit – Einführung

Literatur

  • Jelle Zeilinga de Boer und Donald T. Sanders: Das Jahr ohne Sommer, Essen 2004. ISBN 3-88400-412-3
  • Keith Briffa: Influence of volcanic eruptions on Northern Hemisphere summer temperature over the past 600 years, in: Nature 393 (Juni 1998), 450–455. (engl.)
  • Charles R. Harington (Hrsg.): The Year Without a Summer? World Climate in 1816, Ottawa 1992. ISBN 0-660-13063-7 (engl.)
  • William J. Humphreys: Volcanic dust and other factors in the production of climatic changes, and their possible relation to ice gases, in: J Franklin Inst (August 1913), 131–172. (engl.)
  • Christian Pfister: Wetternachhersage. 500 Jahre Klimavariationen und Naturkatastrophen. Bern 1999.
  • Henry und Elizabeth Stommel: Volcano Weather. The Story of 1816, the Year Without a Summer, Newport (R. I.) 1983. ISBN 0-915160-71-4 (engl.)
  • R. B. Stothers: The great Tambora eruption in 1815 and its aftermath, in: Science 224 (1984), 1191–1198.
  • Hans Peter Treichler: Als ob das Ende käme: Die Hungerjahre 1816/17. In: Hans Peter Treichler: Die bewegliche Wildnis. Biedermeier und ferner Westen. Schweizer Verlaghaus AG, Zürich 1990, S. 27–50. ISBN 3-7263-6523-0
  • L. Specker: Die große Heimsuchung. Das Hungerjahr 1816/17 in der Ostschweiz. 2 Bd., Historisches Museum St. Gallen: 1. Teil 1993, 2. Teil 1995.
  • Volker Kennemann: Das Hungerjahr 1816/17. in: An Bigge, Lenne und Fretter Heft 25, Dezember 2005. S. 124 ff. (bezieht sich vorwiegend auf das südliche Westfalen)

Siehe auch

Weblinks


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