Hunnenrede

Hunnenrede
1900: Verabschiedung des deutschen Ostasiatischen Expeditionskorps durch Kaiser Wilhelm II.
Andere Perspektive

Die sogenannte Hunnenrede hielt Wilhelm II. am 27. Juli 1900 in Bremerhaven bei der Verabschiedung des deutschen Ostasiatischen Expeditionskorps zur Niederschlagung des Boxeraufstandes im Kaiserreich China. Das wohl bekannteste Zitat dieser Rede lautet:

Pardon wird nicht gegeben! Gefangene werden nicht gemacht!“

Dieses Zitat wurde im Ersten Weltkrieg häufig als Bestätigung für das als barbarisch geltende Verhalten der Deutschen herangezogen. In Großbritannien prägte die Rede den Begriff The huns für die Deutschen, der gleichfalls in der britischen Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg eine Rolle spielte.

Inhaltsverzeichnis

Überlieferung und Versionen

Die Rede wurde von Wilhelm II. wenigstens teilweise improvisiert; ein Manuskript ist nicht überliefert. Noch am selben Tag wurden drei Textversionen in Umlauf gesetzt, von denen zwei vom Staatssekretär des Auswärtigen, dem späteren Reichskanzler Bernhard von Bülow stammten. Bülow wollte aufgrund früherer Erfahrungen verhindern, dass erneut eine Rede des Kaisers in das Kreuzfeuer öffentlicher Kritik geriet. Unterstützung fand er darin sowohl beim damaligen Reichskanzler Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst und dem Generaldirektor des Norddeutschen Lloyd Heinrich Wiegand. Bülow verpflichtete daher die anwesenden Journalisten darauf, nur die von ihm redigierte Fassung zu veröffentlichen. Bülow legte am Abend eine stark verkürzte Version in indirekter Rede und nur mit wenigen wörtlichen Zitaten vor. Wenige Stunden später brachte er eine neue Variante heraus, diesmal in wörtlicher Rede.

In dieser zweiten, offiziellen Fassung hat die entscheidende Passage folgenden Wortlaut:

„Ihr wisst es wohl, ihr sollt fechten gegen einen verschlagenen, tapferen, gut bewaffneten, grausamen Feind. Kommt ihr an ihn, so wisst: Pardon wird nicht gegeben. Gefangene werden nicht gemacht. Führt eure Waffen so, dass auf tausend Jahre hinaus kein Chinese mehr es wagt, einen Deutschen nur scheel anzusehen.“

Damit wollte Bülow andeuten, der Kaiser habe die deutschen Truppen nicht zu brutalem Vorgehen aufgefordert. Vielmehr habe er sie vor der Grausamkeit ihrer Gegner warnen wollen. Von konservativer Seite wurde diese Variante noch dadurch unterstützt, dass man den kritischen Satz in „Pardon wird euch nicht gegeben“ umänderte. Entsprechend fehlt in dieser Version der „Hunnenrede“ auch der Verweis auf die Hunnen, somit versucht Bülow der Rechtfertigung ein besseres Argument zu geben, da historische Aspekte die Rechtfertigung für die Aussendung der Truppen argumentativ schwach ausfallen lassen.

Alle Bemühungen Bülows konnten jedoch nicht verhindern, dass eine Reihe lokaler Zeitungen im Raum Bremen-Wilhelmshaven eine fast völlig übereinstimmende, unredigierte Fassung veröffentlichten. Von der offiziellen Version weicht diese Variante deutlich ab[1]:

„Eine große Aufgabe harrt eurer: ihr sollt das schwere Unrecht, das geschehen ist, sühnen. Die Chinesen haben das Völkerrecht umgeworfen, sie haben in einer in der Weltgeschichte nicht erhörten Weise der Heiligkeit des Gesandten, den Pflichten des Gastrechts Hohn gesprochen. Es ist das um so empörender, als dies Verbrechen begangen worden ist von einer Nation, die auf ihre alte Kultur stolz ist. Bewährt die alte preußische Tüchtigkeit, zeigt euch als Christen im freudigen Ertragen von Leiden, mögen Ehre und Ruhm euren Fahnen und Waffen folgen, gebt an Manneszucht und Disziplin aller Welt ein Beispiel [...]
Ihr sollt fechten gegen eine gut bewaffnete Macht, aber Ihr sollt auch rächen, nicht nur den Tod des Gesandten, sondern auch vieler Deutscher und Europäer. Kommt Ihr vor den Feind, so wird er geschlagen, Pardon wird nicht gegeben; Gefangene nicht gemacht. Wer euch in die Hände fällt, sei in Eurer Hand. Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in der Überlieferung gewaltig erscheinen läßt, so möge der Name Deutschland in China in einer solchen Weise bestätigt werden, daß niemals wieder ein Chinese es wagt, etwa einen Deutschen auch nur scheel anzusehen.“

Interpretation

Es kann kein Zweifel bestehen, dass Wilhelm II. in der Hunnenrede die deutschen Truppen zu einem rücksichtslosen Rachefeldzug in China aufgefordert hat. Hierfür gibt es auch weitere Indizien. So hat der Kaiser zur gleichen Zeit für mehrere Truppentransporter das nach seinem Entwurf von dem Maler Hermann Knackfuß ausgeführte Bild „Völker Europas, wahrt eure heiligsten Güter“ gestiftet, eine Allegorie auf die Verteidigung Europas unter deutscher Führung gegen die angebliche Gelbe Gefahr. In mindestens einem Fall versah Wilhelm das Bild zusätzlich mit den Aufschriften „Pardon wird nicht gegeben“ oder „Kein Pardon“.

Auch die nach China abgehenden Soldaten verstanden den Kaiser in diesem Sinne. Zum Beispiel berichtet der Kavallerist Heinrich Haslinde in seinem Tagebuch:

„Er [der Kaiser] hielt eine zündende Ansprache an uns, von der ich mir aber nur folgende Worte gemerkt habe: 'Gefangene werden nicht gemacht, Pardon wird keinem Chinesen gegeben, der Euch in die Hände fällt.“

Andere Soldaten versahen die Eisenbahnzüge, die sie an die Küste transportierten, mit Aufschriften wie „Rache ist süß“ oder „Pardon wird nicht gegeben“.

Zweifellos fühlte sich Wilhelm II. subjektiv zu dieser Aufforderung berechtigt, besonders nach der Ermordung des deutschen Gesandten in China, Freiherr Klemens von Ketteler, am 20. Juni 1900 in Peking. Dass er damit gegen internationales Recht verstoßen haben könnte, dürfte ihn nicht gekümmert haben. Die bereits 1899 vom Deutschen Reich unterzeichnete Haager Landkriegsordnung ächtet ausdrücklich die Aufforderung, im Krieg kein Pardon zu geben. Allerdings war unter den Zeitgenossen umstritten, ob dieses Abkommen auf China anwendbar sei. Denn China hatte zwar an der Haager Friedenskonferenz teilgenommen, gehörte jedoch nicht zu den Unterzeichnern der Landkriegsordnung.

Zudem ist anzumerken, dass auch Politiker und Journalisten in anderen europäischen Staaten, die sich an der Niederschlagung des Boxeraufstandes beteiligten, zur Rache für die Ermordung westlicher Ausländer in China aufriefen. Ein nicht geringer Teil der moralischen Entrüstung des Kaisers geht möglicherweise auf die Mitte Juli zunächst in der britischen Daily Mail und später in der deutschen und internationalen Presse verbreitete, mit grausigen Details ausgeschmückte Falschmeldung zurück, das Pekinger Gesandtschaftsviertel sei erstürmt und ausnahmslos alle Ausländer umgebracht worden.[2] Allerdings ging niemand in seiner Ausdrucksweise so weit wie der deutsche Kaiser. Mit seiner überzogenen Rhetorik trug er zweifellos mit dazu bei, dass der internationale Militäreinsatz in China tatsächlich mit äußerster Grausamkeit geführt wurde – wobei es nicht allein die deutschen Truppen waren, die kein Pardon gaben.

Reaktionen und Folgen

Mit der „Hunnenrede“ stieß Wilhelm II. im In- und Ausland auf Zustimmung, aber auch auf Kritik. Dabei wurde der Vergleich mit den „Hunnen“ auch in Deutschland als Metapher für die grausame Kriegsführung herangezogen. In deutschen Zeitungen abgedruckte Soldatenbriefe, die über Ausschreitungen während des Einsatzes in China berichteten, wurden als „Hunnenbriefe“ bezeichnet. Und der Reichstagsabgeordnete Friedrich Naumann erhielt wegen seiner Verteidigung der Militärintervention in China den Spitznamen „Hunnenpastor“.

Ihre größte Wirkung entfaltete die „Hunnenrede“ allerdings erst während des Ersten Weltkriegs, als die britische Kriegspropaganda die „Hunnen“-Metapher aufgriff und als Synonym für die Deutschen verwendete. Damit sollte die „Barbarei“ der deutschen Kriegsführung angeprangert werden. Von Großbritannien requirierte deutsche Handelsdampfer wurden als Hunnendampfer bezeichnet.

In der Realität war das Verhalten der deutschen Truppen während der Intervention in China nicht besser oder schlechter als das von Truppenteilen der anderen beteiligten Nationen, zumal das deutsche Expeditionskorps erst in China eintraf, als der Aufstand im Wesentlichen bereits niedergeschlagen war. Alle beteiligten Mächte machten sich nach heutigem Verständnis schwerer Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen schuldig. Die Hunnenrede ist allerdings insofern bemerkenswert, weil in ihr ein Staatsoberhaupt seine Soldaten in aller Öffentlichkeit zu diesen auffordert.

Literatur

 Wikisource: Hunnenrede – Quellen und Volltexte
  • Ralph Erbar: Kein Pardon! Die „Hunnenrede“ Wilhelms II. und ihre Geschichte. In: Politische Reden. Deutschland im 20. Jahrhundert. Westermann, Braunschweig 2007, S. 14–17 (Praxis Geschichte. Jg. 20, H. 6, 2007, ISSN 0933-5374).
  • Susanne Kuß, Bernd Martin (Hrsg.): Das Deutsche Reich und der Boxeraufstand. Iudicium-Verlag, München 2002, ISBN 3-89129-781-5 (Erfurter Reihe zur Geschichte Asiens 2), (u. a. mit einem Faksimile der offiziellen, von Bülow redigierten Version).
  • Bernd Sösemann: Die sog. Hunnenrede Wilhelms II. Textkritische und interpretatorische Bemerkungen zur Ansprache des Kaisers vom 27. Juli 1900 in Bremerhaven. In: Historische Zeitschrift 222, 1976, ISSN 0018-2613, S. 342–358 (mit der maßgeblichen Textversion).
  • Ernst Johann (Hrsg.): Reden des Kaisers. Ansprachen, Predigten und Trinksprüche Wilhelms II. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1977, ISBN 3-423-02906-4. (Enthält 60 Texte mit Kommentaren und einer ausführlichen Einleitung.)

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Sösemann, 1976, S. 349
  2. Diana Preston, Rebellion in Peking, Stuttgart/München 2001, S. 232ff.

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