Alternanz (Verslehre)

Alternanz (Verslehre)

Alternanz (von mittellateinisch alternantia, französisch alternance) bezeichnet allgemein einen regelmäßigen Wechsel zwischen zwei Zuständen und wird in der Verslehre speziell auf den regelmäßigen Wechsel metrischer Einheiten der Versfüllung oder auf den regelmäßigen Wechsel zwischen männlichen (endbetonten) und weiblichen (auf eine unbetonte Silbe endenden) Reimen bezogen.

Alternanz der Versfüllung

In akzentuierender Versdichtung wie der deutschen, wo das Versmaß durch die Verteilung betonter und unbetonter Silben bestimmt ist (silbenwägendes Prinzip), bezeichnet man mit Alternanz der Versfüllung eine regelmäßig abwechselnde Folge jeweils einer betonten und einer unbetonten Silbe, wobei einsilbige Wörter und nebentonige Silben je nach Bedarf metrisch betont oder unbetont ausfallen können:

  • „Es schlug mein Herz, geschwind zu Pferde“ (Goethe)
  • Fest gemauert in der Erden“ (Schiller)

Beginnt der regelmäßig alternierende Vers mit Auftakt, d.h. mit unbetonter Silbe, wie im ersten Beispiel, so spricht man in der Terminologie der klassisch-antiken Metrik, die sich ihrerseits quantitierend auf die Verteilung von langen und kurzen Silben bezieht (silbenmessendes Prinzip), von einem jambischen oder jambisch gefüllten Vers.

Beginnt er dagegen auftaktlos (mit betonter erster Silbe: - u), wie im zweiten Beispiel, so spricht man von trochäischer Füllung.

Regelmäßige Alternanz, im mittelhochdeutschen Vers noch nicht angestrebt, ist das vorherrschende Prinzip der neuhochdeutschen Versdichtung bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie kommt der natürlichen Betonung des Einzelwortes entgegen, da das Deutsche auch sprachlich, wie alle indogermanischen Sprachen, keine direkte Aufeinanderfolge zweier betonter oder unbetonter Silben innerhalb eines Worts kennt (bei aufeinanderfolgenden unbetonten Silben ist eine der beiden „nebentonig“, d. h. sie trägt einen Nebenakzent des Wortes). Nicht-alternierende Füllung, in der bei Aufeinanderfolge unbetonter Silben eine der beiden nebentonig, ein unbetonter Anlaut oder ein einsilbiges Wort ist, während bei Aufeinanderfolge betonter Silben eine Wortgrenze zwischen den Silben liegen oder eine metrisch erforderliche unbetonte Silbe weggelassen werden muss, tritt in nachmittelalterlicher deutscher Versdichtung vor allem in folgenden Fällen auf:

  • In freien Versen, die nicht auf ein regelmäßig wiederkehrendes metrisches Prinzip festgelegt sind.
  • Bei der Nachahmung bestimmter außereuropäischer Formen wie dem japanischen Haiku, der durch eine Abfolge von fünf, sieben und wieder fünf Silben ohne festgelegtes Betonungsmuster definiert ist.
  • Bei der Nachahmung bestimmter klassisch-antiker Metren, die eine direkte Aufeinanderfolge zweier langer oder kurzer Silben verlangen und deshalb akzentuierend durch eine ebensolche Aufeinanderfolge betonter oder unbetonter (ggf. nebentoniger) Silben nachgeformt werden. So besonders in den Versfüßen Daktylus (- u u) und Anapäst (u u -) und in den Versmaßen Hexameter und Pentameter, Beispiel: „Im Hexameter steigt des Springquells flüssige Säule / Im Pentameter drauf fällt sie melodisch herab“ (Schiller)
  • In volkstümlichen oder altertümelnden Formen, bei denen primär die Anzahl der Hebungen (der betonten Silben) pro Vers festgelegt ist, während die Anzahl der unbetonten Silben variieren darf, so besonders in der jüngeren Variante des Knittelverses seit dem 18. Jahrhundert: „Habe nun, ach! Philosophie, / Juristerei und Medizin“ (Goethe)
  • Im Blankvers der Bühnendichtung, der im Prinzip zwar ein jambischer Fünfheber ist, aber nach dem Vorbild des englischen Blankverses (Shakespeare) große Freiheit der Füllung erlaubt.
  • In Anwendungen des romanischen silbenzählenden Prinzips, bei dem der Vers nur durch eine bestimmte Anzahl von Silben, durch einen Versakzent (auf der letzten betonten Silbe) und gegebenenfalls durch die Lage der Zäsur, aber nicht durch ein regelmäßiges Verteilungsprinzip betonter und unbetonter (oder langer und kurzer) Silben innerhalb des Verses festgelegt ist. Dieses Prinzip begegnet im frühneuhochdeutschen Vers, besonders im Meistersang, wobei dann allerdings oft mindestens eine Tendenz zu regelmäßiger Alternanz oder zur Wiederkehr einer festen Anzahl von Hebungen festzustellen ist, Beispiel: "Wer sich der kunst verpflichte, / der nem alte getiht nit her, / ainem tihter gepürt, daz er / nur hab aigene tihte" (Martin Beheim)

Alternanz des Reimgeschlechts

Die Alternanz „männlicher“ und „weiblicher“ Reime ist ein Erbe der französischen Dichtung, wie schon die Terminologie zeigt: weil bei der Entwicklung vom Vulgärlateinischen zum Altfranzösischen in den beiden wichtigsten Deklinationstypen, der männlichen o-Deklination (Typ servus) und der (meist) weiblichen a-Deklination (Typ rosa), die Vokale der Endsilben der o-Deklination früh verstummt sind, während die der a-Deklination als unbetontes, im Alt- und Mittelfranzösischen noch gesprochenes /e/ fortgesetzt wurden, besitzen grammatisch weibliche Formen im Französischen in der Regel (wenn auch nicht immer und nicht ausschließlich) eine unbetonte und erst im Neufranzösischen ebenfalls verstummte Endsilbe. Zwar lässt sich schon im Französischen nicht vom Reimgeschlecht auf das grammatische Genus schließen – bereits das Maskulinum homme („Mensch, Mann“) ist dem Reimgeschlecht nach weiblich, und auch Verbindungen ohne Genus wie parle, parlent reimen weiblich –, aber trotzdem hat es sich in Frankreich seit dem 16. Jahrhundert – dort gelegentlich mit der charmanten Begründung, dass das /e/ so schwach, so imbezil und doch für den Dichter so schwer zu beherrschen sei wie eine Frau (Thomas Sébillet, 1512-1589) – und in Deutschland seit Opitz weithin eingebürgert, endungsbetonte Reime und ebenso Halbverskadenzen vor der Zäsur als männlich und nicht endungsbetonte als weiblich zu bezeichnen, wobei im Deutschen wegen der gänzlich fehlenden Beziehung zwischen grammatischem Genus und Silbenbetonung seit dem 19. Jahrhundert auch die alternativen Bezeichnungen „stumpf“ (männlich) und „klingend“ (weiblich) eingeführt wurden.

Gemäß der allgemeinen Definition von (End- und Voll-) Reim als Gleichklang zweier Wörter ab dem letzten betonten Vokal bei Ungleichklang des vorhergehenden Silbenanlauts sind weibliche Reime mindestens zweisilbig, mit einer betonten und einer nachfolgenden unbetonten Silbe, die im modernen Französischen sprachlich verstummt ist, dort aber noch die Aussprache des nachfolgenden Versanlauts beeinflussen kann. Da im Deutschen die letzte betonte Silbe nicht notwendig haupttonig ist, kann der weibliche Reim hier auch proparoxytonal auf zwei unbetonte (bzw. eine unbetonte und eine nebentonige) Silben ausklingen, Beispiel: schüttelte / rüttelte, ebenso im Italienischen die rima sdrucciola und im Spanischen die rima esdrújula. Regelmäßige Alternanz von männlichen und weiblichen Reimen ist in der französischen Dichtung bereits seit dem Ausgang des Mittelalters häufiger anzutreffen und wurde dann von Pierre de Ronsard zu einem Leitprinzip seiner dichterischen Praxis gemacht und im Art poétique françois (1565) auch als poetische Vorschrift dekretiert. Seinem Vorbild sind dann auch die deutschen Dichter und Poetiker seit Opitz gefolgt, während im Englischen wegen des Überwiegens, im Italienischen und Spanischen hingegen wegen der Seltenheit endbetonter Wörter der französische Usus sich nicht durchgesetzt hat.

Hinweis: Die der Herkunft nach französische Unterscheidung von männlichen (stumpfen) und weiblichen (klingenden) Reimen oder Kadenzen ist nicht gleichzusetzen mit den komplizierteren, in der Altgermanistik entwickelten Klassifikationssystemen, wo in Anknüpfung an Heusler unter rhythmischen Gesichtspunkten und unter Einbeziehung der Silben- und Pausenlängen männliche Kadenzen als stumpf oder voll und dann jeweils einsilbig oder zweisilbig, weibliche Kadenzen wiederum als zweisilbig voll und zwei- oder dreisilbig klingend unterschieden werden.

Siehe auch


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