Intersexuell

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Intersexualitätssymbol

Intersexualität ist eine Bezeichnung, die gemeinhin für Menschen mit nicht eindeutig weiblichen oder männlichen körperlichen Geschlechtsmerkmalen verwendet wird, welche umgangssprachlich auch „Zwitter“ genannt werden oder sich selbst so bezeichnen.

Der Begriff wurde 1916 vom Genetiker Richard Goldschmidt geprägt. Er wollte deutlich machen, dass phänotypisch vielfältige Merkmale dennoch zumeist auf binäre chromosomale Zustände zurückzuführen seien.[1][2] Dieser Bezug zu Chromosomen ließ sich in der Folge aber nicht aufrechterhalten; vielmehr vermischte sich diese Nomenklatur mit der vorher gebräuchlichen, in der „Hermaphroditismus“, „weiblicher“ und „männlicher Pseudohermaphroditismus“ zur Einteilung von Menschen uneindeutigen Geschlechts, insbesondere an Hand der Keimdrüsen, genutzt wurde (eine entsprechende Kritik an der „willkürlichen Begriffsverwendung“ findet sich bereits bei Goldschmidt (1931).[3]) Heute werden sowohl Hermaphroditismus und Pseudohermaphroditismus, Intersexualität als auch der neue medizinische Terminus Sexualdifferenzierungsstörungen, DSD (engl. Disorders of sex development)[4] zur Bezeichnung von Menschen uneindeutigen Geschlechts verwendet (für eine erste Kritik an der Bezeichnung „DSD“ vgl. Silva.[5])

Inhaltsverzeichnis

Biologische und medizinische Aspekte

Unterschied zu Transgender und Transsexualität

Abzugrenzen ist die Definition der Intersexualität von Transgender und Transsexualität: Transgender sind Menschen, die sich mit ihrem zugewiesenen Geschlecht falsch oder unzureichend beschrieben fühlen oder auch jede Form der Geschlechtszuweisung- bzw. -kategorisierung grundsätzlich ablehnen. Manche, aber keineswegs alle, intersexuellen Menschen sind Transgender. Während in einigen Organisationen und Bündnissen Transgender und intersexuelle Menschen zusammenarbeiten, da viele Gemeinsamkeiten gesehen werden, lehnen andere intersexuelle Menschen jede Zusammenarbeit mit Transgendern ab.

Für die medizinische Diagnose „Transsexualität“ hingegen ist Intersexualität formal ein Ausschlusskriterium. Die Diagnose „Intersexualität“ kann nur durch Chromosomenanalyse erfolgen. Dennoch kommt es immer wieder vor, dass intersexuelle Menschen, welche die Geschlechtsrolle wechseln, gar nicht erfahren, dass sie eigentlich intersexuell sind, und daher medizinisch und auch juristisch (Transsexuellengesetz, kurz TSG) wie transsexuelle Menschen behandelt werden.

Ursachen

Uneindeutigkeiten des Körpergeschlechts können verschiedene Ursachen haben:

  • Chromosomale Variationen: Statt den häufigsten Karyotypen 46,XX (weiblich) und 46,XY (männlich) gibt es unter anderem auch die Varianten 45,X, bekannt als Turner-Syndrom mit einem weiblichen Phänotypus und einem weiblichen Identitätsgeschlecht, und 47,XXY, das Klinefelter-Syndrom mit männlichem Phänotypus und meist männlichem Identitätsgeschlecht, sowie Mosaike mos45,X/46,XX, mos45,X/46,XY und den Chimerismus chi46,XX/46,XY. Das chromosomale Geschlecht ist die Basis aller weiteren Geschlechtsausprägungen.
  • Gonadale Variationen: Fehlende (Agonadismus), ganz oder partiell zu sog. Streifengonaden nicht oder nur teilweise ausgebildete (Gonadendysgenesien), ovarielle und testikuläre Gewebeanteilen in entweder denselben (Ovotestes) oder getrennten Gonaden.
  • Hormonelle Variationen: Auffällige Serumspiegel bei Geschlechtshormonen und deren Vorläufern, teils mit Folgen wie Gynäkomastie (Brustentwicklung bei Männern) oder Hirsutismus bei Frauen, teils aber auch die sexuelle Differenzierung insgesamt betreffend. Diese kann unterschiedliche Ursachen (chromosomale, gonadale und nephrologisch bedingte Varianten, Enzymdefekte) haben.
  • Anatomische Variationen: von Syndromen mit unspezifischen Ursachen bis zu eher kulturell bedingten Einschätzungen (Grundlage des sozialen Geschlechts) wie „zu kleiner“ Penis oder „zu große“ Klitoris sind sehr viele Variationen bekannt.

Viele intersexuelle „Syndrome“ bestehen nicht nur aus einer einzigen nachweisbaren Variation, sondern entstehen im Zusammenspiel mehrerer Faktoren, so zum Beispiel beim Androgenrezeptor-Defekt (AIS, Androgenresistenz). Hier sind komplette Androgenresistenz bzw. vollständiger AIS (CAIS, von complete AIS), partielle Androgenresistenz bzw. partieller AIS (PAIS) und minimale Androgenresistenz bzw. minimaler AIS (MAIS) zu unterscheiden. Bei kompletter Androgenresistenz bzw. vollständigem AIS (CAIS) entwickeln sich zum Beispiel bei einem Fötus mit XY-Chromosomen Hoden, die im Körper verbleiben können. Die Rezeptoren für Testosteron fehlen jedoch, so dass sich ein „weiblich aussehendes“ äußeres Genital (allerdings ohne weibliche innere Organe) entwickelt; das Erziehungsgeschlecht ist dann meist weiblich. Intersexuelle Menschen mit CAIS werden – anders als bei PAIS – oft erst in der Pubertät auffällig. Bei weniger ausgeprägter Resistenz kommt es laut dem medizinischen Wörterbuch Pschyrembel Wörterbuch Sexualität zu unterschiedlichen Ausbildungen der männlichen Sexualorgane (Hypospadie, Kryptorchismus, Azoospermie) und körperlicher Feminisierung (z. B. Gynäkomastie, siehe Reifensteinsyndrom).

Bei einem XY-chromosomalen Menschen mit Swyer-Syndrom mit Deletion des SRY sind auch Vagina und Uterus ausgebildet, in Gewebeproben findet sich allerdings kein Barrkörperchen, was bei jeder XX-chromosomalen Frau zu finden ist. Bei einem XY-chromosomalen Swyer-Syndrom ist also von einer männlichen Vagina und einem männlichen Uterus zu sprechen. Auch Menschen mit Swyer-Syndrom werden oft erst in der Pubertät auffällig.

Bei Menschen mit 5α-Reduktase-Mangel entwickelt der Körper erst ab der Pubertät ausreichende Mengen an Dihydrotestosteron, um ein männliches Genital auszubilden und sich zum fortpflanzungsfähigen Mann zu entwickeln.

Zu berücksichtigen ist auch das Vorhandensein einer Prostata bei fast allen XY-chromosomalen Menschen mit intersexuellen Syndromen.

Die Häufigkeit von Intersexualität wird äußerst unterschiedlich geschätzt – von 1:100 bis 1:5000,[6] was auf Deutschland umgerechnet etwa 16.000 bis 800.000 Menschen wären. Um Intersexualität auszuschließen, ist eine ausführliche körperliche Untersuchung einschließlich Chromosomenanalyse notwendig.

Medizinische Geschlechtsfestlegung

Medizinische Geschlechtsfestlegungen umfassen vor allem geschlechtsangleichende Operationen (oder „chirurgische Anpassungen“). Dazu gehören die Anlage einer Neovagina im Kleinkindalter, die Beschneidung des Genitals auf eine eindeutige, meist weibliche Größe (insbesondere Klitorisverkleinerung) oder die Kastration, letztere in der Regel mit anschließender contra-chromosomaler Hormonersatztherapie.

Eingriffe erfordern zum Teil langfristige Nachbehandlungen. Neben der Hormonersatztherapie betrifft das auch die Anlage einer Neovagina im Kleinkindalter, da sie noch mindestens bis zum Abschluss des körperlichen Wachstums gedehnt (bougiert) werden muss. Medizinische Spätfolgen bei alten intersexuellen Menschen sind bisher noch weitgehend unerforscht; so hat sich die Gerontologie beispielsweise noch nicht mit der Pflege einer Neovagina oder mit der Dosierung und Anwendung einer Hormonbehandlung contra- bzw. chromosomal auseinandergesetzt.

Geschlechtsfestlegungen können, abgesehen von der kurzfristigen Schmerzhaftigkeit der Eingriffe, auch mittel- und langfristig zu physischen und psychischen Komplikationen und dauerhaften Schäden führen. Viele intersexuelle Menschen haben aufgrund der schmerzhaften Eingriffe körperliche Schäden davongetragen – etwa wenn sie aufgrund einer Verkleinerung die Sensibilität der Klitoris verlieren, wenn vernarbte Stellen bei sexueller Erregung zu Schmerzen führen oder wenn schon bei Kleinkindern die angelegte Neovagina – zum Teil bis ins hohe Alter – bougiert werden muss. Auch werden durch die contra-chromosomale Hormontherapie oft multiple Stoffwechselstörungen hervorgerufen. Erschwerend kommt die bisherige Praxis hinzu, derzufolge die Betroffenen und deren Angehörige nicht über das chromosomale Geschlecht informiert wurden; dadurch werden den Betroffenen vielfach die Unterlagen (Aufbewahrungzeit 30 Jahre) vorenthalten, mit der Folge falscher medizinischer Behandlungen (z. B. weibliche Krankenkassenkarte trotz Kerngeschlecht xy-chromosomal). Zu den psychischen Schäden gehören starke Traumatisierungen durch die Operationen und ihre Folgen. Zudem sind die Reaktionen des auf eine Geschlechtsfestlegung dringenden sozialen Umfeldes und die Tabuisierung für Intersexuelle oft belastend (siehe soziale Aspekte).

Intersexuelle Aktivisten kritisieren aus diesen Gründen die Zwangsfestlegung insbesondere im Kindesalter und fordern, die Genitaloperationen erst dann durchzuführen, wenn der intersexuelle Mensch die Operation aus eigenem Willen möchte und ihr zustimmen kann. Einige Aktivisten setzen chirurgische Anpassungen im Kindesalter mit der (von den Aktivisten abgelehnten) Beschneidung weiblicher Genitalien gleich. Außerdem sei z. B. XY-chromosomalen intersexuellen Menschen eine adäquate Testosteron-Hormonsubstitution auf Wunsch angedeihen zu lassen.

Aufgrund von Protesten haben sich erste Anzeichen gezeigt, dass die Praxis der Geschlechtsfestlegungen sich ändert. Bei manchen Syndromen zeichnet sich eine Abkehr von der Zwangszuweisung und den damit verbundenen medizinischen Eingriffen ab.

Soziale Aspekte in westlichen Kulturen

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In den westlichen Kulturen der Neuzeit wurde (und wird teilweise noch heute) der Umgang mit Intersexualität von zwei zentralen Annahmen geprägt: Zum einen wird angenommen, dass es wissenschaftlich möglich sei, das „wirkliche“ Geschlecht eines jeden Menschen zu bestimmen; aufgrund dieser Annahme wurde die überwiegende Zahl der Intersexuellen zu Pseudohermaphroditen („Scheinzwittern“) „hinwegerklärt“. Daneben bestand und besteht die Annahme, dass es im Interesse des intersexuellen Menschen liege, seinen Körper einem „wirklichen“ Geschlecht anzupassen; begründet wird das meist mit der geschlechtlichen Vereindeutigung sowie sonst fehlender sozialer Akzeptanz („Mit so 'was bekommt das Kind doch nie einen Partner ab und kann sich nicht mal in der Sportumkleide umziehen!“). In der Praxis wird eine Geschlechtsfestlegung auch in vielen Alltagssituationen (diverse Formulare für Geschäftsabschlüsse, Mitgliedschaften usw.) oder aus bürokratischen Gründen gefordert („standesamtliches Geschlecht“ auf dem Personalausweis).

Aufgrund der von ihnen befürworteten Geschlechtsfestlegung üben Eltern auf ihre intersexuellen Kinder – im Gegensatz zur Erziehung der meisten nicht-intersexuellen Kinder – in der Regel bewusst besonders starken Druck aus, sich dem zugewiesenen Geschlecht entsprechend zu verhalten. Die Diagnosen der häufigen medizinischen Untersuchungen werden den Kindern oft routinemäßig verschwiegen, aus Schamgründen zum Teil bis ins Erwachsenenalter hinein.

Viele intersexuelle Menschen, Transgender sowie einige kritische Wissenschaftler argumentieren hingegen, dass die westliche Vorstellung von genau zwei sauber unterscheidbaren Geschlechtern (siehe Heteronormativität) falsch sei. Sie sind der Ansicht, dass die Festlegung auf eines der beiden gegenpoligen Geschlechter oft zweifelhaft sei und zu starken physischen und psychischen Beeinträchtigungen führen könne. In der Regel handele es sich bei einer Festlegung um einen durch sozialen Druck entstandenen Wunsch des Umfeldes und nicht um ein Bedürfnis der Betroffenen selbst. Die Folgen für die Kindererziehung werden abgelehnt, da sie bei den Kindern zu unmäßigem Druck führten und durch das Verschweigen der Hintergründe die psychische Verwirrung noch verstärkten.

Kritisiert wird auch die Entscheidungsfindung bei der Geschlechtsfestlegung. Da die entsprechenden medizinischen Eingriffe (siehe oben) oft im Säuglings- und Kleinkindalter vorgenommen würden, werde der für die Betreffenden wichtigste Faktor, nämlich ihr psycho-emotionales „Identitätsgeschlecht“, nicht berücksichtigt. Stattdessen reiche die Entscheidungsfindung, so die Kritiker, oft von subjektiver Willkür (Eltern wünschten oft in selbst unplausibelsten Fällen eine männliche Zuweisung, nur wegen des uneindeutigen Genitals wird allerdings seit fünfzig Jahren meist weiblich zugewiesen) über medizinische Machbarkeit (John P. Gearharts zynisches: „Es ist einfacher, ein Loch zu machen als einen Pfahl zu bauen“[7]) bis zu Ehrgeiz der Mediziner („Urologen basteln gerne Jungen“). Beleg für den kulturhistorisch bedingten Einfluss bei der Geschlechtsfestlegung sei, dass man von männlichen Zuweisungen in drei Viertel aller Fälle in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert spricht.

Weiterhin ist die Tabuisierung der Intersexualität kritisiert worden. Das Motto „Sage es niemand anderem!“ übt auf die Betroffenen einen starken sozialen Druck aus.

Einige intersexuelle Menschen nutzen in ihren Bemühungen um gesellschaftliche Akzeptanz die Begriffe „Zwitter“ oder „Hermaphrodit“, um sich zu benennen, da der Begriff „Intersexueller Mensch“ gesellschaftlich wenig bekannt sei, und für sie zudem nur eine medizinische Kategorie darstelle, der sie äußerst kritisch gegenüber stünden.

Juristische Aspekte

In Deutschland können intersexuelle Menschen ihren Personenstand (und damit auch den Vornamen) nach dem § 47 Personenstandsgesetz ändern, was in der Praxis häufig mit Verweis auf das Transsexuellengesetz verweigert wird. Im Gegensatz zum TSG, ist es nach dem PStG nicht möglich nur den Vornamen zu ändern und eine evtl. bestehende Ehe aufrechtzuerhalten.

Kulturelle Aspekte

Die Idee, dass eine strikte Aufteilung aller Menschen in zwei Geschlechter den natürlich vorhandenen Gegebenheiten nicht gerecht werde, ist nicht neu. In einigen Kulturen und Religionen werden Intersexuelle (oft zusammen mit Transgender-Personen) als Angehörige eines dritten Geschlechts betrachtet, wie die Two-Spirit vieler nordamerikanischer Indianerstämme, indische Hijras, die Khanith Omans oder thailändischen Katoys.

So nehmen sie in vielen Stämmen der amerikanischen Ureinwohner wie auch bei den Ureinwohnern rund um den nördlichen Polarkreis die Position eines Schamanen ein. Weil sie beide Geschlechter in sich vereinigten, hätten sie eine direktere Verbindung zum geschlechtslosen Göttlichen. Intersexuellen und transgender Menschen wird etwa das Potenzial übernatürlicher Wahrnehmung zugeschrieben, sie sind verantwortlich für Heilungen und Rituale. Die übernatürliche Wahrnehmung dient vielfach der Ausgrenzung aus der „Normal-Gesellschaft“.

Intersexuelle Gottheiten finden sich unter anderem in den buddhistischen und hinduistischen Hochkulturen. Die bekannteste ist Bodhisattva Avalokiteshvara, Gottheit des Mitgefühls (japan. „Kannon“). Auch hier wird das Transzendieren der Geschlechtergrenzen als spirituelle Überwindung der Dualität interpretiert.

In christlichen, patriarchalisch geprägten Gesellschaften wird dagegen häufig auf die Bibel verwiesen. Gott habe laut Schöpfungsgeschichte die Menschen ausschließlich als Mann und Frau geschaffen. Daher wurden Intersexuelle gerade hier immer wieder gezwungen, sich einem dieser beiden Geschlechter anzupassen. 1999 hat die intersexuelle Theologin Sally Gross in Bezug auf zwei Bibelstellen (Gen 1,27 GNB und Num 5,3 GNB) darauf hingewiesen, dass – dem Buchstaben nach – die Grammatik dieser Texte auf mehr als zwei Geschlechter hinweisen könnte. Dabei berief sich Gross auch auf einige talmudische Glossen, die einen anekdotischen Charakter haben.[8]

Einige Intersexuelle mit Wunsch nach spirituellem Wachstum haben – ebenso wie Schwule, Lesben und Transgender – der christlichen Kultur aufgrund ihrer mangelnden Akzeptanz den Rücken gekehrt.[9] Seit der Etablierung undogmatischer spiritueller Strömungen wie etwa der westlichen Satsang-Bewegung wenden sie sich dorthin, wo sie willkommen sind. Lehrer wie Samarpan oder Gangaji etwa legen großen Wert darauf, den Bewertungen des westlich geprägten Verstandes bezüglich Sexualität keinen Raum zu geben.

Historische Aspekte

Die Bandbreite des historisch belegten Umgangs mit intersexuellen Menschen reicht von Verehrung bis Ermordung.

Die Assimilierung von Hermaphroditen oder Zwittern, wie intersexuelle Menschen vor der Einführung dieses Begriffes meist genannt wurden, in die beiden Geschlechter „Mann“ und „Frau“ erhielt mit der modernen Medizin eine völlig neue Qualität. So stellte in Preußen das Allgemeine Landrecht Hermaphroditen noch frei, sich ab dem vollendeten 18. Lebensjahr entweder für das männliche oder für das weibliche Geschlecht zu entscheiden. Bis dahin hatten die Eltern dieses Recht. Ein Dritter konnte jedoch, wenn seine Rechte vom Geschlecht eines "vermeintlichen Zwitters" abhängig waren, die Begutachtung durch einen Sachverständigen beantragen, der auch gegen die Wahl des Zwitters oder seiner Eltern entscheiden konnte.[10] Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahmen Mediziner jedoch zunehmend für sich in Anspruch, anhand willkürlicher und sich über die Zeit hinweg verändernder Kriterien das „wahre“ Geschlecht von „Pseudo“-Hermaphroditen unabhängig von deren Willen zu bestimmen; mit oft traumatischen Folgen für diejenigen, die plötzlich aus ihrem angestammten Leben gerissen und einem ihnen fremden Geschlecht zugewiesen wurden. Dies lässt sich unter anderem an der Autobiographie (Anfang des 19. Jahrhunderts) und dem Selbstmord von Herculine Barbin ablesen. In anderen "Fällen" nahmen allerdings auch zahlreiche Mediziner Abstand davon, ein an Hand von Keimdrüsen "erkanntes" Geschlecht zuzuweisen; auch wurde oftmals keine Operation vorgenommen um im Körperinneren vermutetes Keimdrüsengewebe zu bestimmen, da solche Operationen gefährlich waren; zudem nahmen auch PatientInnen Einfluss auf die Diagnose.[11]

Anfang des 20. Jahrhunderts wurden „Pseudo“-Hermaphroditen darüber hinaus als „missgebildet“ und „krank“ klassifiziert. Ihre Genitalien wurden nicht selten von Ärzten abfotografiert und öffentlich zur Schau gestellt. Doch erst in den 1950er Jahren war die Medizin so weit, ihr Heilungsinteresse auch praktisch geltend zu machen. Zu diesem Zeitpunkt begann der amerikanische Arzt und Psychiater John Money, mit frühkindlichen Operationen an Intersexuellen zu experimentieren. Das Ziel war es, die fehlende Geschlechtseindeutigkeit spätestens bis zum zweiten Lebensjahr durch massive chirurgische und hormonelle Eingriffe zu beheben. Die Empfehlung Moneys, das künftige Geschlecht des Kindes einfach nach Machbarkeit auszuwählen, setzte sich schließlich 40 Jahre lang als internationaler Standard durch, wird jedoch seit Mitte der 1990er Jahre sowohl durch die Proteste von intersexuellen Menschen als auch durch die Kritik von renommierten Medizinern wie Milton Diamond zunehmend in Frage gestellt (vergleiche auch David Reimer).

Intersexualität – Begriffe und Syndrome

M = männlich / W = weiblich / IS = Intersexuell / ( ) = wird wahrgenommen als

Fachbegriff Geschl. Erklärung Wirkung

„Normalität“

versus

Intersexualität

Gesamthäufigkeit ca. 1 : 50

wahrgenommene Häufigkeit

ca. 1 : 1000

W
M
IS
Abweichung von normierten Geschlechtsmerkmalen und/oder Geschlechtseigenschaften und dem typischen Körperbau Weiblich: Genotyp 46,XX; Brustwachstum; äußere Genitalien, Eierstöcke, Eileiter, Gebärmutter, Menstruation und gebärfähig; Fettverteilung, Hauteigenschaften, Behaarung weich und gering am Körper, typisches Kopfhaar, typische Schambehaarung.

Männlich: Genotyp 46,XY; Bartwachstum, Stimmbruch; Penis, Hoden, Prostata, Samenleiter, Samenblase, Ejakulation und zeugungsfähig; typische Körperbehaarung, Glatzenbildung und Geheimratsecken.

Jede Abweichung im Phänotyp (Erscheinungsbild) oder Genotyp kann im weitesten Sinn der Intersexualität zugerechnet werden.

Turner-Syndrom

Häufigkeit ca. 1 : 12 500

IS
W
Das Geschlechtschromosomenpaar enthält nur ein X, also 45,X0 oder als Mosaik 45,X0 46,XX Die äußeren und inneren Geschlechtsorgane werden weiblich ausgebildet, die Geschlechtsreife tritt jedoch nicht ein;
überwiegend Kleinwuchs und die Gefahr weiterer körperlicher Entwicklungsstörungen ohne med. Behandlung
Klinefelter-Syndrom
Häufigkeit ca. 1 : 590
IS
M
(W)
Beim Trennungsvorgang der Chromosomen während der Teilungsphase entsteht ein dreifach gepaartes Geschlechtschromosom vom Typ 47,XXY Das äußere und innere Erscheinungsbild ist überwiegend männlich, durch verringerte Testosteronproduktion kommt es aber in der Pubertät nicht zu den typisch männlichen Ausprägungen, die Spermienproduktion ist meist erheblich vermindert.
Pseudohermaphroditismus=„Scheinzwitter“ IS
M/W

Ein Sammelname für viele der bisher aufgeführten Syndrome

Hermaphroditismus verus = „echte“ Zwitter IS Gleichzeitige Entwicklung der inneren und äußeren weiblichen und männlichen Geschlechtsmerkmale Gebärfähigkeit kann erreicht werden, die Spermienproduktion ist jedoch für eine Eigenbesamung nicht ausreichend. (Hoden produzieren zwar ausreichend Hormone, aber keine leistungsfähigen Spermien.)

Es ist aber auch bekannt, dass männlich lebende Hermaphroditen Kinder gezeugt haben.

Syndrome mit geschlechtsuntypischen Auswirkungen
Die folgenden Begriffe sind nur im erweiterten Sinne IS zuzuordnen, was auch aus der Geschlechtsangabe ersichtlich ist.
Weibliche Scheinzwitter W Verschiedene angeborene Mangelerscheinungen oder Gen-Defekte führen zur Verhinderung der Sexualentwicklung oder Vermännlichung;
z.B. Aromatasemangel

3β-HSD

ein Enzym, das die Bildung von Estrogenen fördert; es kommt zu Mangel an Estrogenen und erhöhter Testosteronproduktion.

Das Enzym fördert die Bildung von Sexualhormonen, bei Mangel kommt es zu einer leichten Vermännlichung.

Männliche Scheinzwitter M Verschiedene angeborene Mangelerscheinungen oder Gen-Defekte führen zur Verhinderung der Sexualentwicklung oder Verweiblichung;
z.B. 17β-HSD-Mangel

5α-Reduktase-Mangel

Androstendion kann nicht in Testosteron umgewandelt werden, und es fehlt bei der Entwicklung in der Schwangerschaft der androgene Einfluss, es kommt zur Zuordnung weiblich trotz 46,XY und Hoden, in der Pubertät jedoch leichte Vermännlichung.

Das im Hoden neben Testosteron gebildete Estradiol führt in der Pubertät zu einem weiblichen Brustwachstum, wenn das Enzym nicht ausreichend vorhanden ist.

Sexualhormone produzierende Tumore

bei männlichen und weiblichen Scheinzwittern

M/W Diese Tumore sind meist gutartig und können schon vor der Pubertät entstehen, ohne dass sie erkannt werden oder selbst Beschwerden hervorrufen. Je nach „Wirt“, Art, Zeitpunkt und Menge der Hormonausschüttung kommt es zu geschlechtsuntypischen Entwicklungen oder zu Beschleunigung/Hemmung von geschlechtstypischen Entwicklungen.

Die Tumore treten in der Nebennierenrinde auf, in den Eierstöcken oder Hoden, selten im Bereich der Hypophyse.

Neurologische Syndrome, welche manchmal eingeordnet werden
Hirnorganische Intersexualität = „Transsexualität“ „Transidentität“ oder „Transgender

besser Transmann, Transfrau

Häufigkeit ca. 1 : 200 [12]

(auch Harry Benjamin Syndrom)

W
M
Die Geschlechtsprägung im Gehirn ist bipolar.

Es ist zu vermuten, dass die Geschlechtskodierung im Gehirn von der Geschlechtszuweisung abweicht. Es entstehen psychosomatische Störungen (sekundär) der Geschlechtsidentität bei eindeutigem Phänotyp und Genotyp.

Verhältnis m/w ca. 1 : 1

Die psychisch/seelische Entwicklung und das natürliche Rollenverhalten des heranwachsenden Kindes steht im Widerspruch zu den biologischen Vorgaben und den Erwartungen des Umfeldes. Die Identifikation mit dem bei der Geburt aufgrund der biologischen Vorgaben zugewiesenen Geschlecht gelingt nicht.
Transvestismus

(obwohl völlig unerforscht, halten sich in der Literatur Thesen aus dem frühen 20. Jahrhundert – die hier nicht wiedergegeben werden)

W
M
Annahme des typischen Geschlechtsrollenverhaltens des Gegengeschlechtes (aus individuell verschiedensten Gründen); vgl. auch Cross-Dressing. Weiblicher Transvestismus bleibt meist unbehelligt, von Ausnahmen bei restriktiver Erziehung abgesehen; vergl. Drag King.

Männlicher Transvestismus wird als „pervers“ oder sexuelle „Entgleisung“ betrachtet oder in Form von Travestie, auf der Bühne oder in der Öffentlichkeit akzeptiert, nicht jedoch im Alltag.

Psychoneurologische Intersexualität M/W Annahme des Sexualverhaltens des Gegengeschlechtes (weitgehend unerforscht). Es handelt sich um die Geschlechtsorientierung. Wenn Phänotyp und Genotyp eindeutig und erkennbar sind sprechen wir von Homosexualität, lesbisch oder schwul. Bei einer gleichzeitig vorliegenden (biologischen) Intersexualität kann der Eindruck von Heterosexualität entstehen.

Dieser Eindruck entsteht auch bei gleichzeitig vorliegender „Transsexualität“, wenn im zugewiesenen Geschlecht gelebt wird.

In der Literatur

Jeffrey Eugenides beschreibt in seinem Roman Middlesex, für den er mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde, die Lebensgeschichte der hermaphroditen Hauptfigur Calliope und über die Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens mit ihrem Schicksal.

In der S.F.-Literatur wird Hermaphrodismus oft als Kennzeichnung aliener Spezies verwendet oder auch als (absichtlich hervorgerufener) „fremdartiger“ Zustand zukünftiger Menschen(kulturen) eingeführt (z.B. die Herm vom Planeten Beta in: Barrayar-Zyklus von Lois McMaster Bujold).

In Gustav Meyrinks Roman Der Golem spielt der Hermaphroditismus ebenfalls eine wichtige Rolle.

Im Roman Die Galerie der Lügen von Ralf Isau sind gleich mehrere Figuren echte Hermaphroditen. Der Autor behandelt in seinem Buch nicht nur das „Hin- und Hergestoßensein zwischen den Geschlechtern“, sondern geht auch auf unkonventionelle Weise der Frage nach, ob intersexuelle Menschen der nächste Schritt der Evolution sind (ISBN 3431036368).

Im Film

Der argentinische Film XXY[13][14] behandelt das Thema Intersexualität und die damit verbundenen Probleme anhand der Geschichte der 15-jährigen Alex.

Der österreichische Film Tintenfischalarm[15][16] zeigt die Geschichte des Intersexuellen Alex/Jürgen, der geschlechtsuneindeutig geboren wurde, im Kindesalter geschlechtsangleichende Operationen und Hormonbehandlungen zur Verweiblichung erhält und im Erwachsenenalter die Entscheidung zur operativen und hormonellen Veränderung zum Mann trifft.

Literatur

  • Großer Brockhaus
  • Onans Kinder. Abadi Verlag, 2000, ISBN 3-00-006497-4.
  • AGGPG, Bremen (archivierte Version des Internet Archive vom Juni 2001)
  • Ulla Fröhling: Leben zwischen den Geschlechtern. Intersexualität – Erfahrungen in einem Tabubereich. Berlin 2003, ISBN 978-3-86153-290-3

Siehe auch

Weblinks

unter Mitarbeit von

Linklisten

Selbsthilfe- und Kontaktgruppen, Foren, Infos, Organsiationen, Projekte, Forschung und Wissenschaft, Seiten von intersexuellen Menschen

Einzelnachweise

  1. Richard Goldschmidt: A Preliminary Report on Further Experiments in Inheritance and Determination of Sex. In: Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America 2, Heft 1. 1916, S. 53–58, S. 54
  2. Richard Goldschmidt: Die biologischen Grundlagen der konträren Sexualität und des Hermaphroditismus beim Menschen. in: Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie einschließlich Rassen- und Gesellschaftshygiene 12, Heft 1. 1916, S. 1–14, S. 6
  3. Richard Goldschmidt: Die sexuellen Zwischenstufen. Verlag von Julius Springer, Berlin 1931, S. 12
  4. DSD: en:Intersexuality#Disorders of sex development
  5. A. de Silva: Physische Integrität und Selbstbestimmung: Kritik medizinischer Leitlinien zur Intersexualität. In: Zeitschrift für Sexualforschung 20 (2). 2007, S. 176–185.
  6. Bericht der Online-Zeitschrift focus.de
  7. vgl. Melissa Hendricks: "Is it a Boy or a Girl?", in: Johns Hopkins Magazine November (1993), S. 15
  8. „Intersexuality and Scripture“ von Sally Gross (englisch, archivierte Version des Internet Archive vom Juni 2006)
  9. „Vielfalt der Geschlechter & Christentum“ – Deutsche Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität e.V. (2003)
  10. Erster Theil, §§ 19-23 PrALR, http://www.smixx.de/ra/Links_F-R/PrALR/PrALR_I_1.pdf
  11. Heinz-Jürgen Voß (2008): Wie für Dich gemacht: die gesellschaftliche Herstellung biologischen Geschlechts. In: Coffey, J., Köppert, K., mAnN*, L., Emerson, J., Klarfeld, R., Müller, D., Huber, J., Emde, V.D. (Hrsg.): Queer leben – queer labeln? (Wissenschafts-)kritische Kopfmassagen. fwpf Verlag, Freiburg, S. 153–167, ISBN 9783939348146
  12. Deutsche Übersetzung: „Wie häufig tritt Transsexualität auf?“ Englisch: „How Frequently Does Transsexualism Occur?“ von Lynn Conway (17. Dezember 2002)
  13. Der argentinische Film XXY in der imdb
  14. Der argentinische Film XXY: Filmwebsite
  15. Der österreichische Film Tintenfischalarm: Filmwebsite
  16. Der österreichische Film Tintenfischalarm in der imdb
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