Kaste

Kaste

Der Begriff Kaste (portugiesisch/spanisch casta – Rasse, von lateinisch castus – rein) wird in der Völkerkunde und der Soziologie in erster Linie mit einem aus Indien bekannten und religiös abgestützten sozialen Phänomen der Abgrenzung und hierarchische Anordnung von gesellschaftlichen Gruppen assoziiert. Die Einteilung betrifft vor allem Heirat und Arbeitsteilung. Der Begriff wird aber auch umgangssprachlich oder soziologisch allgemein benutzt und auf einzelne Gruppierungen anderer und sogar moderner Gesellschaften angewandt.

Das Kastenwesen im eigentlichen Sinne ist insbesondere in Indien, auf Sri Lanka, in Nepal, auf Bali und bei den kurdischen Jesiden verbreitet.

Inhaltsverzeichnis

Indien

Die Kastenzugehörigkeit hatte in Indien bis vor einigen Jahrzehnten Auswirkungen auf alle Lebensbereiche eines Individuums und auf das Verhalten des Kastenangehörigen.

Beruf und Partner: Noch heute bestimmt sie weitgehend, wenn auch längst nicht mehr ausschließlich, unter anderem die Partnerwahl (vgl. Endogamie) und die Berufswahl. Auf alles, was „roti aur beti“ (Hindi: „Brot und Tochter“) betrifft, hat die traditionelle Gesellschaftsordnung weiterhin Einfluss. Eheschließungen werden zum großen Teil innerhalb der Kaste organisiert.

Gemeinsame Mahlzeiten: Waren früher grundsätzlich keine gemeinsamen Mahlzeiten erlaubt, weil Hochkastige das gemeinsame Mahl mit Niedrigkastigen als verunreinigend empfanden, ist heute besonders in urbaner Umwelt die traditionelle Trennung zwischen den einzelnen Gesellschaftsgruppen auch in diesem Bereich großteils aufgehoben. In ländlichen Gegenden dagegen finden sich die alten Strukturen noch fester verankert, obwohl ihnen auch hier nicht mehr absolute Gültigkeit zukommt.

Bedeutung heute: Das Kastensystem ist eine sehr differenzierte Gesellschaftsordnung, die auch eine gewisse Dynamik aufweist. Die Kriterien werden regional recht unterschiedlich gehandhabt, darum wäre es besser, von „Kastenwesen“ zu sprechen statt von einem „Kastensystem“.

Die Zuordnung einer Person zu einer Kaste sagt wenig über ihren Wohlstand aus. Es handelt sich weitgehend um eine Einteilung nach ritueller Reinheit und Aufgabenbereich, nicht jedoch um „Oberschicht“ oder „Unterschicht“, die sich nach finanziellen Kriterien richtet. Durch jahrhundertelange Ausbeutung findet sich Armut jedoch tendenziell mehr bei Shudras und Unberührbaren, obwohl auch brahmanische Familien, Angehörige der obersten Kaste, wirtschaftlich sehr schlecht gestellt sein können.

Gliederungsebenen: Beim „Kastensystem“ wird unterschieden in:

  1. die vier Hauptkasten (Varna)
  2. diese gliedern sich in Untergruppen (Jatis) auf

Varna

Varna ist Sanskrit und bedeutet wörtlich „Klasse, Stand, Farbe“. Es gibt vier Varnas:

  1. Brahmanen (traditionell die intellektuelle Elite, Ausleger heiliger Schriften (Veda), Priester)
  2. Kshatriyas (traditionell Krieger und Fürsten, höhere Beamte)
  3. Vaishyas (traditionell Händler, Kaufleute, Grundbesitzer, Landwirte)
  4. Shudras (traditionell Handwerker, Pachtbauern, Tagelöhner)

Darunter stehen die „Unberührbaren“, auch als Paria oder Harijans bekannt. Traditionell nimmt man an, dass mit dem Begriff Varna die Hautfarbe gemeint war: je höher die Kaste, desto heller die Haut, worin sich die Rassenzugehörigkeit verschiedener Einwanderer- bzw. Erobererwellen widerspiegele. Diese Theorie ist jedoch umstritten. Andere stellen den Begriff in Zusammenhang mit den „geistigen“ Farben der Gunas, den Qualitäten und Eigenschaften in Mensch und Natur.[1] Diese Ansicht weist jeder Kaste eine bestimmte Farbe zu.

Das System der Varnas lässt sich als die geistig-ideologische Ebene des Kastensystems beschreiben, da es eine Legitimation für die gesellschaftliche Hierarchie bietet. Es ist eine ideale, rein theoretische Ordnung, die jedoch zu keinem Zeitpunkt der Geschichte nachweisbar ist.[2] Im täglichen Leben geht es eher um die Jatis. Die Frage nach dem Ursprung ist ungeklärt, keine Institution und keine Schrift hat die Kastenordnung geschaffen oder verordnet. Historisch ist sie wahrscheinlich durch das Zusammenwachsen verschiedener Völker entstanden, die nun ein Gesamtsystem bilden. Oft wird sie auf den Mythos des Purusha zurückgeführt, dem göttlichen Urmenschen, aus dessen Körperteilen die ersten Kasten entstanden sein sollen (die erste aus dem Kopf, die zweite aus den Armen, die dritte aus den Schenkeln, die vierte aus den Füßen).

„Als sie den Purusha [Urmensch] zerlegten, in wie viele Teile teilten sie ihn? Wie nannten sie seinen Mund, wie seine Arme, wie seine Schenkel, wie seine Füße? Sein Mund wurde zum Brahmanen, seine beiden Arme zum Krieger [Rajanya], seine beiden Schenkel zum Vaishya, aus seinen Füßen entstand der Shudra.“

Rigveda 10,90,11:12

Das Purushasukta ist die einzige Hymne im Rig Veda, in der die vier Varnas erwähnt werden. In den drei anderen Veden und den Upanishaden finden die Varnas nur selten Erwähnung.

Wirklich ausformuliert wurden die Regeln des Kastensystems jedoch erst in der Manusmriti (zwischen 200 v. Chr. und 200 n. Chr. entstanden). Alle anderen Hindu-Schriften akzeptieren das System als erstrebenswerte Tatsache, setzen sich aber auch immer wieder kritisch damit auseinander. Besonders das Mahabharata stellt es einerseits an unzähligen Stellen als wünschenswerte Institution dar, andererseits lehnen andere Aussagen im selben Epos die erbliche Gesellschaftshierarchie eindeutig ab.

Nach hinduistischer Vorstellung sind mit der Kastenzugehörigkeit bestimmte kosmische und soziale Pflichten (Dharma) verbunden. Die traditionelle Pflicht eines Kshatriya ist es, die Gesellschaft zu führen, zu kämpfen und in den Krieg zu ziehen (vgl. Bhagavadgita), wogegen Brahmanen die Schriften studieren, lehren und den Vollzug der Riten sicherstellen sollen.

In der frühen vedischen Zeit war die Restriktion in Bezug auf Beruf und soziale Mobilität deutlich geringer. Eine Hymne des Rig Veda lautet:

„Ich bin Poet, mein Vater ist Arzt, meine Mutter füllt den Mahlstein auf.“

Rig Veda 9,112,3

Jati

Die Varnas gliedern sich in hunderte von Jatis auf. Der Begriff leitet sich ab aus dem Begriff "jan" für "geboren werden". Dies weist auf die Hauptbedeutung von Jati hin: "Geburtsgruppe". Dies ist auch im Sinne von Großfamilie oder Clan zu verstehen. Jatis sind somit die soziale und familiäre Dimension des Kastensystems und erinnern in gewissem Maße an die mittelalterliche Ständeordnung in Europa. Der Anthropologe Louis Dumont ging von etwa 2000 bis 3000 Jatis aus.

Die Kastenzugehörigkeit des Individuums wird durch die Geburt bestimmt, wobei Ein- oder Austritt nicht möglich sind. Die Jati dient neben der beruflichen auch der ethnischen, sozioökonomischen und kulturellen Differenzierung; sie verbindet eine Volksgruppe durch besondere, gemeinsame, sittliche Normen. Früher war damit eine strenge Heiratsordnung verbunden, bei mehr oder weniger strenger Abschließung gegenüber anderen Jatis. In Indien sind heute alle durch das Kastenwesen bedingten Benachteiligungen gesetzlich verboten. Trotzdem ist das Kastenwesen aus dem praktischen Leben nicht völlig verschwunden, besonders da es noch heute wichtige soziale Aufgaben erfüllt. Die Jatis etwa haben in gewisser Weise auch die Funktion eines Sozialversicherungssystems, das in der kulturellen und sozialen Tradition verankert ist. So bieten sie etwa in den Millionenstädten für Arbeitsuchende aus anderen Gegenden des Landes oft die einzige Zuflucht, die einzige Möglichkeit, Aufnahme, Nahrung und Hilfe zu finden, oder garantieren ein Überleben der Familie bei Arbeitslosigkeit und Krankheit.

Die soziale Mobilität innerhalb der Jati ist nicht sehr groß; jedoch können bestimmte Jatis als ganze sozial aufsteigen, wie dies im 19. und 20. Jahrhundert unter dem Einfluss der britischen Kolonialherrschaft vor allem den Kaufmanns- und Schreiber-Jatis gelungen ist. In der Praxis kommen auch Abspaltungen sozial höher oder niedriger rangierender Teilpopulationen mit Bildung neuer Jatis vor. Die Jatis gliedern sich in Subjatis auf.

Den Aufstieg ganzer Jatis hat der indische Soziologe M. N. Srinivas als „Sanskritierung“ bezeichnet. Jatis von niedrigem Rang übernehmen den Lebensstil, die Rituale und die Symbole höherer Jatis und steigen dadurch langfristig auf. Dabei werden nicht nur die Elemente der klassischen indischen Kultur übernommen, sondern parallel dazu auch westliche Symbole. Als Vorbilder dienen meist Jatis mit hohem wirtschaftlichen Status.

Wenn ein Inder wissen möchte, zu welcher Kaste ein anderer gehört, fragt man in Hindi nach der Jati oder im Englischen nach der community, aber nie nach der caste, da dieser Begriff zu viele unangenehme Konnotationen hat und die gesellschaftliche Relevanz eher in der Jati liegt. Den Begriff Varna würde man ebenso nicht verwenden.

„Unter den Unberührbaren in Indien gibt es überzeugende Belege, dass die Hindu-Doktrinen, die die Dominanz einer Kaste gegenüber einer anderen legitimieren soll, abgelehnt wird. Angehörige der aufgelisteten Kasten glauben mit viel geringerer Häufigkeit als Brahmanen, dass die Doktrin des Karma ihre gegenwärtigen Lebensbedingungen bestimmten; statt dessen führen sie ihre Situation auf ihre Armut und auf einen ursprünglichen, mythischen Akt der Ungerechtigkeit zurück.“[3]

Neben orthodoxen Hindus, die das Kastensystem noch heute als wünschenswerte Form des Zusammenlebens propagieren und jenen, die Privilegien und Ausbeutung mit dem alten System legitimieren, hat es zu allen Zeiten auch hinduistische Bewegungen gegeben, die Auswüchse und Ungerechtigkeiten angeprangert und eine Überwindung der strikten Kastenschranken gefordert haben. Besonders wichtig waren dabei die Bhakti-Bewegungen, die schon seit einigen Jahrhunderten die indische Gesellschaft beeinflusst haben. Heute lehnen es moderne Hindus vielfach ab, die grundsätzliche Gebundenheit an Kasten aufrechtzuerhalten.

Studium des Veda durch die oberen Kasten (Varnas)

Die ersten beiden Varnas machen etwa zehn Prozent der Bevölkerung Indiens aus. Die ersten drei Varnas betrachten sich als „Zweimalgeborene“ (dvija). Damit ist gemeint, dass es nach der natürlichen Geburt noch eine „kulturelle/geistige“ Geburt gibt, die in Form eines Initiationsritus (Upanayana) für Männer vollzogen wird. Früher berechtigte nur diese „zweite Geburt“ zum Studium der heiligen Texte (Veda), heute steht dies jedem offen, im privaten und akademischen Bereich oder bei einem Guru.

Die Zugehörigkeit zu den oberen Varnas war eng gekoppelt mit Kenntnissen des Veda, der heiligen indischen Texte. Man unterschied zwischen Chaturvedi (jene, die alle vier Veden studiert hatten), Trivedi (drei Veden) und Dvivedi (zwei Veden). Dies sind heute noch häufige Familiennamen. Das Wissen und das Privileg zu dessen Weitergabe waren früher ein wichtiges Abgrenzungskriterium der ersten zu den übrigen Varnas: Das Studium der Veden betrachteten sie nicht nur als ihre Pflicht, sondern auch als ihr Vorrecht, die Weitergabe dieses Wissens an Außenstehende mit Ausnahme der „Zweimalgeborenen“ war lange Zeit tabuisiert.

Berufszuordnungen

Die ursprünglichen Berufszuordnungen in den Jatis sind heute weitgehend theoretischer Natur, praktisch kann jeder jeden Beruf ausüben. Lediglich ein Bruchteil der Brahmanen ist Priester. Beliebt sind Brahmanen dagegen als Köche in besseren Restaurants, da noch heute einige Höherkastige keine von Niederkastigen zubereiteten Speisen essen würden, wogegen ihre traditionellen Aufgaben, selbst das Priesteramt, in fortschrittlichen Gesellschaftsschichten heute verstärkt auch von Angehörigen anderer Varnas ausgeübt werden. Nur wenige Kshatriyas sind Soldaten. K. R. Narayanan war von 1997 bis 2002 der erste Staatspräsident, der aus einer Kaste der ehemals „Unberührbaren“ stammte; Mahatma Gandhi, der Indien in die Unabhängigkeit geführt hat, sowie der wichtige religiöse Führer Swami Vivekananda waren Vaishya.

Heirat

Jatis dienen nicht allein der beruflichen Zuordnung, sondern auch der sozialen und ethnischen. Sie unterscheiden sich innerhalb Indiens je nach Region erheblich. Auf indischen Websites zur Partnersuche finden sich sehr oft Suchfunktionen nach Kastenkriterien, sowohl in Bezug auf die Varna als auch Jati. Auch wenn es im modernen Indien starke Tendenzen zur Liebesheirat gibt und selbst arrangierte Ehen Kastenschranken überwinden, so haben doch die traditionellen Regeln ihre Bedeutung keineswegs verloren. Oft beschränken sich Subjatis bei der Partnerwahl auf bestimmte andere Subjatis, und so gibt es viele "Heiratsbündnisse" zwischen einigen Subjatis.[4] Ehen innerhalb von Subjatis mit gleichem Gotra, einem gemeinsamen Vorvater, werden aus Gründen der Inzestverhinderung traditionell strikt vermieden.[5]

Reinheit und Unreinheit

Für die Hierarchie zwischen verschiedenen Jatis spielen die Vorstellungen von Reinheit und Unreinheit eine große Rolle. Als besonders rein gelten Brahmanen, die Priesterkaste, als besonders unrein hingegen jene Jatis, die mit unreinen Berufen zu tun haben, wie zum Beispiel die Wäscher, Friseure und Müllbeseitiger. Die reinen Kasten sind bestrebt, sich möglichst von den unreinen Kasten fernzuhalten, wobei in diesem Zusammenhang auch körperliche Reinheit oder Unreinheit ein wichtiges Kriterium ist. Aus diesem Grund wird heute noch Unberührbaren oftmals der Zugang zu Tempeln verwehrt. Allerdings ist strikte Separation nur in ländlichen Bereichen möglich, da man im städtischen Umfeld über die Kaste einer anderen Person nur informiert ist, wenn man sie persönlich oder wenigstens den Namen, ein wichtiges Kriterium der Jati, kennt. Außerdem folgt das Zusammenleben in Städten anderen Regeln als auf dem Lande, und das tägliche Leben dort macht eine stete räumliche Trennung fast unmöglich. Für das gemeinsame Essen in Betriebskantinen beispielsweise sind Kriterien wie rituelle Reinheit völlig irrelevant. Trennung findet man in Städten eher, wie überall in der Welt, nach wirtschaftlichem Status. Wer reich ist, geht mit Reichen in die Schule; wer arm ist, lebt in Armenvierteln, besucht schlechtere Schulen und hat somit auch im Berufsleben eine schlechtere Position.

Unberührbare Kasten

Die westlichen Vorstellungen von „Kastenlosen“ (Paria) beruhen weitgehend auf veralteten Beschreibungen. Dabei ist in erster Linie das Indienbuch des französischen Missionars und Indologen Abbé Dubois zu nennen, das bis heute immer wieder kritiklos abgeschrieben wird, obwohl es schon bei seiner Entstehung vor rund zwei Jahrhunderten überholt war. Der französische Geistliche betrachtete das indische Kastenwesen als Teufelswerk und bemühte sich nicht ernsthaft, ihm gerecht zu werden. Echte „Kastenlose“ gibt es kaum. Die so genannten „Unberührbaren“ sind meist Angehörige der niedrigsten Kasten beziehungsweise Unterkasten, wovon wahrscheinlich über 3000 existieren.

Seit der indischen Unabhängigkeit werden den Angehörigen unberührbarer Kasten und der Stammesbevölkerung (scheduled castes und scheduled tribes) bestimmte Quoten bei der Besetzung von Stellen in der öffentlichen Verwaltung und im Bildungswesen zugestanden. Dies hat dazu geführt, dass in diesem Bereich Unberührbare nicht mehr benachteiligt, sondern bewusst gefördert werden. Auch in der Politik hat sich einiges verändert: Der erste Staatspräsident aus einer unberührbaren Kaste war K. R. Narayanan, der von 1997 bis 2002 amtierte. Es hat sich aber gezeigt, dass die formale Emanzipierung von Mitgliedern niedriger Kasten noch nicht überall in dem Maße zu einer Emanzipierung im sozialen Leben beitrug, wie es wünschenswert wäre.

Der in Indien auch gebräuchliche Begriff Harijan für Unberührbare stammt von Mahatma Gandhi. Er bedeutet wörtlich in etwa „Kind Gottes“ oder präziser „Vishnu-geboren“. Die offizielle Bezeichnung für Unberührbare ist scheduled castes. Der vom Reformer B. R. Ambedkar geprägte Begriff Dalit für Unberührbare hat eine eher kämpferische Konnotation und bedeutet „Unterdrückte, Ausgebeutete“.

Die von B. R. Ambedkar gegründete neo-buddhistische Bewegung der Dalits ist klar gegen das Kastensystem ausgerichtet. Die meisten Angehörigen des Neo-Buddhismus sind ehemalige Angehörige unberührbarer Kasten. Auch das Christentum ist bei vielen Dalits und der so genannten Stammesbevölkerung relativ stark vertreten.

Andere benachteiligte Gruppen

1953 wurde eine Kommission eingesetzt, die neben den amtlich erfassten Stämmen und Kasten (scheduled tribes und scheduled castes, abgekürzt ST und SC) „weitere rückständige Klassen“ (other backward classes OBC) identifizieren sollte. Die Liste von 2399 other backward classes, die diese Kommission 1955 vorlegte, fand jedoch damals nicht den Zuspruch der Regierung. 1979 wurde eine zweite Kommission beauftragt, die unter dem Namen Mandal-Kommission bekannt wurde. Sie legte 1980 ihren Bericht vor, der 3743 other backward classes auflistete und Vorschläge zur Förderung dieser Gruppen beinhaltete. Diese Vorschläge wurden 1982 vom Parlament angenommen. 1990 wurde ein Memorandum erlassen, das die Reservierung von Stellen im öffentlichen Dienst für die ST, SC- und OBC-Kategorie auf insgesamt 49,5 % erhöhte (ST 7,5 %, SC 15 %). Der Versuch, die Vorschläge der Mandal-Kommission bundesweit in die Tat umzusetzen, führte jedoch zu massiven Protesten vor allem in Nordindien. Studenten der Mittelschicht demonstrierten, verbrannten sich öffentlich und zündeten Busse an. In Südindien - vor allem in Tamil Nadu - hingegen wurden die Regelungen weitgehend umgesetzt.

2006 lösten Bestrebungen, diese Regelungen auch auf die indischen Eliteuniversitäten – die IITs (Indian Institute of Technology), die IIMs (Indian Institute of Management) und das AIIMS (All India Institute of Medical Studies) – anzuwenden, massive Proteste und Hungerstreiks aus. Diskriminierungen aufgrund der Kastenzugehörigkeit sind an diesen Universitäten heute allgegenwärtig.[6]

Die Politik der positiven Diskriminierung hat in Indien das Kastenwesen in die Gesellschaft zementiert.[7]

Christliche und Muslimische Kasten in Indien

Auch die christlichen und muslimischen Inder, zum Beispiel in Kerala, haben sich ein ausgeprägtes Bewusstsein ihrer Kastenzugehörigkeit bewahrt.

Muslimische Kasten

Die vier Hauptkasten der indischen Muslime lauten

  1. Sheikh,
  2. Khan,
  3. Beg und
  4. Sayyid (auch Säyäd).

Christliche Kasten

Die vielen verschiedenen christlichen Kirchen in Indien prägen der christlichen Gemeinschaft eine Struktur auf, die der hinduistischen Kastenordnung in vielen Aspekten sehr ähnlich ist. Das betrifft insbesondere die Einschränkungen der Heiratsmöglichkeiten zwischen Mitgliedern unterschiedlicher Kirchen (siehe Christliche Konfessionen in Kerala).

Sri Lanka

In Sri Lanka wird die Kastenzugehörigkeit nicht nur von der tamilischen Bevölkerungsgruppe beachtet, sondern auch von den buddhistischen Singhalesen, die jedoch die Kaste der Unberührbaren nicht kennen. Der Buddhismus bietet jedoch keine religiöse Legitimation des Kastensystems, wie dies beim Hinduismus der Fall ist. Es gibt aber auch keine klare Offensive gegen das Kastensystem. Die Tradition des Kastensystems entstammt aus Zeit, bevor der Buddhismus auf die Insel kam.

Bali

Auf Bali wurde zwar das vierteilige Varnasystem übernommen, dennoch gibt es eklatante Unterschiede zum indischen Kastensystem. Auf Bali gibt es die Brahmana, Satria, Wesia und Sudra. Die Zweimalgeborenen heißen Triwangsa. In Bezug auf gesellschaftlichen Status spielt die Majapahit-Einwanderungslegende eine gewichtige Rolle (und nicht der indische Dharma-Begriff). Das Pendant zu der indischen Jati bildet die Dadia, die Titelgruppe. Diese Titel haben jedoch im Gegensatz zu Indien nichts mit Berufen zu tun. Im Wettbewerb um Prestige wird der relative Status einer Titelgruppe durch Zeremonien signalisiert und etabliert. Auf Bali gibt es keine Unberührbarkeit, eingeschränkte Kommensalität (gemeinsames Essen) gibt es nur in den höheren Rängen.

Sonstige

Vorwiegend durch Kasten geprägte Gesellschaften sind bei einigen Stämmen im übertragenen Sinne anzunehmen, in der Neuzeit sonst nicht mehr vorhanden. Doch können in nach sozialen Schichten und Funktionen reich untergliederten und sehr durchlässigen - d. h. mobilen - Gesellschaften einzelne Gruppierungen ausgeprägte „Kastenzüge“ aufweisen - wie zum Beispiel im Klerus, im Offiziersstand, als Kader einer Diktatur. Sie werden dann meistens als andere soziale Muster ausgedeutet.

Siehe auch

Literatur

  • Susan Bayly: Caste, Society and Politics in India from the Eighteenth Century to the Modern Age. Reprint, Paperback Edition. Cambridge University Press, Cambridge u. a. 2001, ISBN 0-521-79842-6 (The new Cambridge history of India 4 = The evolution of contemporary South Asia 3).
  • Monika Böck, Aparna Rao: Aspekte der Gesellschaftsstruktur Indiens: Kasten und Stämme. In: Dietmar Rothermund (Hrsg.): Indien. Verlag C. H. Beck, München 1995, ISBN 3-406-39661-5, S. 112–131.
  • Louis M. Dumont: Gesellschaft in Indien. Die Soziologie des Kastenwesens. Europaverlag, Wien 1976, ISBN 3-203-50558-4.
  • Christophe Jaffrelot: India's Silent Revolution. The Rise of the Lower Castes in North India. Columbia University Press, New York NY 2003, ISBN 0-231-12786-3.
  • M. N. Srinivas: Caste in Modern India and Other Essays. Asia Publishing House, Bombay u. a. 1962.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. S. Radhakrishnan: Die Bhagavadgita R. Löwit Verlag, Wiesbaden
  2. T. R. Chopra, Artikel Lexikon der Religionen, HERDER/SPEKTRUM
  3. James Scott: Dominance and the Arts of Resistance, Yale University Press, 1990, S. 117 („Aufgelistete Kasten“ bzw. „scheduled castes“ ist die offizielle Kategorisierung der Kasten, für die in Indien auch der aus dem Englischen übernommene Begriff der „Unberührbaren“ verwendet wird.)
  4. [1]
  5. [2]
  6. AIIMS apartheid, cricket to class in The Telegraph India von 7. Mai 2007
  7. [3] Purushottam Agrawal: Indien - Quoten für Unberührbare, Le Monde diplomatique (vom 11. Mai 2007)

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