Kinderfachabteilung

Kinderfachabteilung

Der allgemeine Begriff „Kinderfachabteilung“ wurde im nationalsozialistischen Deutschen Reich als beschönigende Bezeichnung für besondere Einrichtungen der Psychiatrie in Krankenhäusern sowie Heil- und Pflegeanstalten verwendet, die der Kinder-„Euthanasie“ dienten; also der Forschung und anschließenden Tötung von Kindern und Jugendlichen, die körperlich oder geistig schwer behindert waren. Der Massenmord, bei dem es sich tatsächlich nicht um Euthanasie handelte, wurde ab 1945 als Verbrechen gegen die Menschlichkeit be- und verurteilt.

Inhaltsverzeichnis

Geschichte

Gedenktafel am Haus Eichborndamm 238, in Berlin-Wittenau

Die erste derartige Einrichtung hat es ab 1939 in Görden, einem Stadtteil von Brandenburg an der Havel, gegeben. Die Bezeichnung der reichsweit aus Berlin geleiteten und geheim gehaltenen Maßnahme war „Kinder-Aktion“. Die Zentrale befand sich in der Abteilung 2b der so genannten Kanzlei des Führers. Die Fälle wurden dort vorsortiert und etwa 20.000 verbleibende in einer Art Gutachterverfahren des „Reichsausschusses“ beurteilt. Gutachter waren die Professoren Werner Catel und Hans Heinze sowie der Kinderarzt Ernst Wentzler. Ohne Begutachtung der Kinder wurde den „Kinderfachabteilungen“ mitgeteilt, wer zur Tötung („Behandlungsermächtigung“) oder zunächst einer weiteren Beobachtung eingestuft wurde. Einen Befehl oder Zwang zur Durchführung der Tötung gab es nicht. Die Tötung selber wurde in eigener Verantwortung durchgeführt, mit einer Überdosierung des Medikamentes Luminal, Chloralhydrat oder durch Nahrungsmittelentzug und der Gabe von Morphin[1]. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden staatsanwaltschaftliche Ermittlungen auch wegen dieser NS-Verbrechen an Anstaltspatienten durchgeführt. Gerichtsurteile dazu wurden in der Gerichtsurteilssammlung „Justiz und NS-Verbrechen“ veröffentlicht.

Nach neuester Forschung gab es im gesamten Gebiet des damaligen Deutschen Reiches über 37[2] derartiger Einrichtungen gegeben (in Österreich in Wien, Graz und Klagenfurt; siehe dazu Spiegelgrund), in denen mehr als 5.000 geistig und körperlich behinderte Kinder getötet wurden. In einem Aktenvermerk der Staatsanwaltschaft Hannover vom Oktober 1964 heißt es zur Zahl der vermuteten Tötungen: „Dem Reichsausschuß seien über die Amtsärzte etwa 20.000 Kinder gemeldet worden. Von diesen seien etwa 75% nicht in Kinderfachabteilungen des Reichsausschusses eingewiesen worden. Die restlichen 25% hingegen seien zum größten Teil einer „Behandlung zugeführt“ worden. Von den bis Kriegsende somit dem Reichsausschuß gemeldeten ganz knapp 5.000 gestorbenen Kindern seien etwa 10% auf natürliche Art und Weise verstorben, während die restlichen Kinder, mithin etwa 4.500, eingeschläfert worden seien.“[3] Zusätzlich ist noch von einer weiteren, nicht feststellbaren Opferzahl durch die sogenannte „wilde Euthanasie“ (nicht rückgemeldete Opfer) auszugehen.[4]

Siehe auch

Literatur

  • Raimond Reiter: Wie viele Kinder wurden im Zweiten Weltkrieg Opfer der NS-Psychiatrie? In: Sozialpsychiatrische Informationen. Nr. 3/2001. 31. Jg. Wiesbaden 2001. S. 18-23
  • Jan Nedoschill: Kindereuthanasie im Nationalsozialismus: Die Kinderfachabteilung Ansbach in Mittelfranken Zs. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 50, 2001, S. 192-210
    • dsb.: Biologische Kinder- und Jugendpsychiatrie im Zwielicht 1939-45: Die Kinderfachabteilungen Ansbach in Mittelfranken und Görden in Brandenburg. Rede auf dem 26. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Jena, 5.-8. April 2000
  • „Ich habe alles nur aus absolutem Mitleid getan.“ Die „Kinderfachabteilung“ der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee. Kinder-„Euthanasie“, Humanexperimente, Neuropathologische Forschung. In: Monatsschrift für Kinderheilkunde 152, 2004, S. 1004-1010
  • Andreas Kinast: "Das Kind ist nicht abrichtfähig." Euthanasie in der Kinderfachabteilung Waldniel 1941 - 1943. Reihe: Rheinprovinz, 18. SH-Verlag, Köln 2010 ISBN 3894982594

Weblinks

Einzelnachweise

  1. http://www.trend.infopartisan.net/trd1201/t101201.html
  2. http://www.wien.gv.at/kultur/archiv/spiegelgrund/spiegelgrund.html
  3. http://www.gedenken-ns-psychiatrie.de/Ausstellungstafeln_NS-Psychiatrie.pdf.
  4. http://www.luene-info.de/index2.html?http://www.luene-info.de/thema/ausstellung/psychiatrie/eroeffnung.html

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