Konversionsstörung

Konversionsstörung
Klassifikation nach ICD-10
F44.0 Dissoziative Amnesie
F44.1 Dissoziative Fugue
F44.2 Dissoziativer Stupor
F44.3 Trance- und Besessenheitszustände
F44.4 Dissoziative Bewegungsstörungen
F44.5 Dissoziative Krampfanfälle
F44.6 Dissoziative Sensibilitäts- und Empfindungsstörungen
F44.7 Dissoziative Störungen [Konversionsstörungen], gemischt
F44.8 Sonstige dissoziative Störungen [Konversionsstörungen]
F44.80 Ganser-Syndrom
F44.81 Multiple Persönlichkeit(sstörung)
F44.82 Transitorische dissoziative Störungen [Konversionsstörungen] in Kindheit und Jugend
F44.88 Sonstige dissoziative Störungen [Konversionsstörungen]
F44.9 Dissoziative Störung [Konversionsstörung], nicht näher bezeichnet
ICD-10 online (WHO-Version 2006)

Der Begriff Dissoziation beschreibt laut Definition der DSM-IV die Unterbrechung der normalerweise integrativen Funktionen des Bewusstseins, des Gedächtnisses, der Identität oder der Wahrnehmung der Umwelt. Dissoziation im psychiatrischen und/oder psychotherapeutischen Sinne kann als ein Defekt der mentalen Integration verstanden werden, bei der eine oder mehrere Bereiche mentaler Prozesse vom Bewusstsein getrennt werden und unabhängig voneinander ablaufen (Abspaltung von Bewusstsein). Demgegenüber umfasst Konversion somatische, also sensorische und motorische Phänomene.[1]

Im Gegensatz dazu werden in der Klassifizierung der ICD 10 die Begriffe dissoziative Störung und Konversionsstörung synonym verwendet. Das allgemeine Kennzeichen der dissoziativen oder Konversionsstörungen besteht danach in teilweisem oder völligem Verlust der normalen Integration der Erinnerung an die Vergangenheit, des Identitätsbewusstseins, der Wahrnehmung unmittelbarer Empfindungen sowie der Kontrolle von Körperbewegungen.[2]

Bei Dissoziationen handelt es sich um eine vielgestaltige Störung, bei der es zu einem teilweisen oder völligen Verlust von psychischen Funktionen wie des Erinnerungsvermögens, eigener Gefühle oder Empfindungen (Schmerz, Angst, Hunger, Durst, …), der Wahrnehmung der eigenen Person und/oder der Umgebung sowie der Kontrolle von Körperbewegungen kommt. Der Verlust dieser Fähigkeit kann von Stunde zu Stunde wechseln.

Inhaltsverzeichnis

Geschichte

Das Dissoziationsmodell hat sich im 19. Jahrhundert aus der Assoziationspsychologie entwickelt und wurde anfangs zur Interpretation von Hysterie, Vorgängen bei Hypnose und von Beobachtungen von Verdoppelungen oder Vervielfachungen von Persönlichkeiten angewandt. In den Theorien der damaligen Zeit (um 1880) wurde vor allem das Trauma als Auslöser von Dissoziationen gesehen. Erst 1970 bekam das Dissoziationsmodell wieder Beachtung, nachdem es zwischen 1920 und 1970 deutlich weniger aktuell war. Dissoziation bedeutet eine Unterbrechung des Stroms des Bewusstseins, Abspaltung von Gefühlen, Körperwahrnehmung und Emotionen, der Erinnerung, der Identität und der Wahrnehmung der Umwelt.

Nach neueren Forschungen[3] (um 2006) werden die Psychosomatische Störung und Konversionsstörung dem Oberbegriff Somatoforme Dissoziation zugeführt und (in Abgrenzung zur psychoformen Dissoziation) den dissoziativen Störungen zugeordnet. Nijenhuis, Hart und Steele vertreten das durch neurobiologische Befunde unterstützte Konzept der Strukturellen Dissoziation.[4] Hiernach werden bei sehr schweren und kontinuierlichen Psychotraumatisierungen, insbesondere in der Kindheit, die symptomatischen Empfindungs- und Verhaltensmuster dauerhaft unterschiedlichen Persönlichkeitsanteilen (ego states) zugeordnet.[5] Die Autoren vertreten die Hypothese, dass die entsprechenden Verhaltensweisen, Empfindungen und Einschätzungen auch im späteren Leben, unabhängig von traumatisierenden Situationen, kaum vermieden werden könnten.

Patienten mit dissoziativen Störungen leiden oftmals unter chronischen Körpersymptomen, welche der Behandler als Dissoziationen seines Patienten verstehen sollte sowie als Zeichen der Desintegration der Gesamtpersönlichkeit. Die Symptome sind hier das Ergebnis einer instinktiven Überlebensreaktion des Menschen, ähnlich der von Tieren, und erzeugen Erregungs- oder Betäubungszustände. Die Betrachtung der Endorphin-Neurotransmitter auf biochemischer Ebene zeigt so ein neuartiges Verständnis der Dissoziation auf der Verhaltensebene.

Störung

Es gibt unterschiedliche dissoziative Phänomene, die als Störung mit unterschiedlicher Intensität verlaufen, bis hin zu der sehr seltenen stärksten Ausprägung, der Dissoziativen Identitätsstörung (DIS/DID).

  • Posttraumatische Belastungsstörung: Diese wird von Peter Fiedler und anderen ebenfalls in die Oberkategorie der dissoziativen Störungen gerechnet.
  • Depersonalisation: Hierbei handelt es sich um eine Veränderung der Selbstwahrnehmung, die Person fühlt sich fremd im eigenem Körper – sie beobachtet sich von außen. Dabei reagieren die Personen völlig angemessen auf ihre Umwelt. Allerdings können Sinneswahrnehmungen oder auch Körpergefühle wie Hunger und Durst gestört sein.
  • Derealisation: Dabei wird durch ein Gefühl der Unwirklichkeit die Umwelt als fremd oder verändert wahrgenommen. Sowohl Depersonalisation als auch Derealisation sind selten isoliert. Meist treten sie als ein Symptom anderer Störungen auf, z. B. im Zusammenhang von Panikattacken.
  • dissoziative Amnesie: Der betreffenden Person fehlen wichtige Erinnerungen zur eigenen Geschichte, weit über das Maß der normalen Vergesslichkeit hinaus.
  • Konversionsstörungen und Somatisierung: Hierunter werden Verschiebungen von Trauma-Erfahrungen in körperliche Symptome verstanden (im Volksmund oft auch als "psychosomatische Störungen" bezeichnet). Fiedler und andere rechnen auch diese unter den Oberbegriff der dissoziativen Störungen, im ICD - 10 wird der Begriff der Konversionsstörung den dissoziativen Störungen gleichgesetzt.
  • dissoziative Fugue: Hierunter wird das unerwartete Weggehen von der gewohnten Umgebung (Zuhause, Arbeitsplatz) verstanden, das bis zur Annahme einer neuen Identität bei gleichzeitiger Desorientiertheit zur eigenen Person führen kann (siehe auch: Wandertrieb).
  • „Flucht“ aus Traumatisierung: z. B. kann ein Kind, das von einem Elternteil sexuell missbraucht wird, meist sich weder wehren noch sich der Situation entziehen. Eine mögliche Form der Flucht ist dann die Dissoziation: Das Kind „schaltet ab“. Dieser (zu diesem Zweck) sinnvolle Abwehr- und Überlebensmechanismus kann sich dann auf weitere Bereiche des Lebens ausweiten – soweit, dass der Betroffene die Kontrolle verliert: eine dissoziative Störung entsteht.
  • dissoziative Identitätsstörung (landläufig: Multiple Persönlichkeit): Nach dem DSM-IV (dem Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen) müssen zwei oder mehr getrennte, völlig unterschiedliche Identitäten oder Persönlichkeitszustände vorhanden sein und im Wechsel das Verhalten des Betroffenen bestimmen. Diese Störung gehört nicht zu der Gruppe der Schizophrenie, auch wenn dies im landläufigen Begriff Spaltungs-Irrsein nicht ganz deutlich wird.
  • Andere dissoziative Empfindungen:
    • Licht- und Geräuschempfindlichkeit
    • Tunnelblick oder Thousand-yard stare
    • das Gefühl, als wäre der eigene Körper ausgeweitet (expandiert), so dass er sich breiter anfühlt als sonst
    • das Gefühl, als wäre der Körper “eingegangen”, also winzig proportioniert
    • stationäre Gegenstände scheinen sich zu bewegen
    • Zeitverlust (die Empfindung, nur unvollständige Erinnerung an kurz zurückliegende Ereignisse zu haben)

Manche Psychiater und die Weltgesundheitsorganisation zählen auch das Ganser-Syndrom bzw. die Pseudodebilität zu den dissoziativen Störungen.

Diagnostische Instrumente

Es gibt verschiedene Instrumente zur Diagnostik von Dissoziation. Diese lassen sich unterteilen in Fragebogen zu Selbst- und Fremdbeurteilung:

Selbstbeurteilung

Fremdbeurteilung:

  • Structured Clinical Interview for DSM-IV Dissociative Disorders (SCID-D)
  • Dissociative Disorders Interview Schedule (DDIS)

Dissoziation als therapeutische Technik

Diese Fähigkeit des Menschen zur Dissoziation kann therapeutisch genutzt werden: In der Psychotherapie steht der Begriff für eine bewusst vorgenommene Veränderung der Wahrnehmung weg vom vollständig identifizierten Erleben zu einer "Meta-Position" (siehe auch Metaebene), aus der heraus sich der Mensch quasi "von außen" betrachtet (Heautoskopie), um seine Gefühle oder mentalen Vorgänge wertfrei zu erkennen (beispielsweise so, als ob man eine Situation, bei der man beteiligt ist, in einem Kinofilm betrachten würde). In der Gesprächstherapie, der Neurolinguistischen Programmierung und der systemischen Familientherapie ist die Dissoziation ein wichtiges Element der therapeutischen Arbeit, ebenso in der Psychodynamisch Imaginativen Traumatherapie (PITT).

Einzelnachweise

  1. [DSM-IV]
  2. [ICD 10]
  3. Ellert R.S. Nijenhuis: Somatoforme Dissoziation (Originaltitel: Somatoform dissociation) // Junfermann Verlag, 2006, ISBN 3-87387-623-X Reihe Fachbuch.Traumaforschung; … sowie auch: Trauma-Informationsseiten, Artikel Nijenhuis 2004
  4. Ellert Nijenhuis, Onno van der Hart, Kathy Steele: Strukturelle Dissoziation der Persönlichkeitsstruktur, traumatischer Ursprung, phobische Residuen, in: L.Reddemann, A.Hofmann, U.Gast (Hrsg.): Psychotherapie der dissoziativen Störungen (2004). Stuttgart: Thieme, S.47-69 ISBN 3-13-130511-8
  5. Jochen Peichl: Die inneren Trauma-Landschaften. Borderline, Ego State, Täter-Introjekt (2007). Stuttgart: Schattauer ISBN 978-3-7945-2521-8

Literatur

  • Onno van der Hart, Ellert R.S. Nijenhuis und Kathy Steele: Das verfolgte Selbst. Strukturelle Dissoziation. Die Behandlung chronischer Traumatisierung (Originaltitel: The Haunted Self. Structural Dissociation and the Treatment of Chronic Traumatization). Junfermann Verlag, 2008. ISBN 978-3-87387-671-2
  • Berit Lukas: Das Gefühl, ein NO-BODY zu sein. Depersonalisation, Dissoziation und Trauma. Junfermann Verlag, 2. Auflage 2008. ISBN 978-3-87387-534-0
  • Imke Deistler und Angelika Vogler: Einführung in die Dissoziative Identitätsstörung. Junfermann Verlag, 2. Auflage 2005. ISBN 978-3-87387-497-8
  • Lydia Hantke: Trauma und Dissoziation. Modelle der Verarbeitung traumatischer Erfahrungen. Wissenschaftlicher Verlag, Berlin 1999. ISBN 3-932089-21-9. [1] (PDF)
  • Peter Fiedler: Dissoziative Störungen und Konversion. Psychologie Verlagsunion, 2001. ISBN 3-621-27494-4
  • Frank W. Putnam: Diagnose und Behandlung der Dissoziativen Identitätsstörung. Junfermann Verlag, 2003. ISBN 978-3-87387-490-9
  • Franz Resch, Michael Schulte-Markwort: Kursbuch für integrative Kinder- und Jugendpsychotherapie. (Schwerpunkt: Dissoziation und Trauma) Psychologie Verlagsunion. ISBN 3-621-27554-1
  • Luise Reddemann, Arne Hoffmann, Ursula Gast: Psychotherapie der dissoziativen Störungen. Georg Thieme Verlag, 2004. ISBN 3-13-130511-8
  • Ellert R.S. Nijenhuis: Somatoforme Dissoziation (Originaltitel: „Somatoform Dissociation“) Junfermann Verlag, 2006. ISBN 978-3-87387-623-1
  • Dulz, B. Sachse, U: Dissoziative Phänomene: vom Tagtraum über die Multiple Persönlichkeitsstörung zur Dissoziativen Identitätsstörung. In Kernberg, Dulz, Sachsse (Hrsg.), Handbuch der Borderlinestörungen, (S.245-246) Schattauer Verlag, 2001. ISBN 3-7945-1850-0

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