Ktesias

Ktesias

Ktesias von Knidos (* in Knidos, Karien) war ein antiker griechischer Geschichtsschreiber und Zeitgenosse Xenophons (Ende des 5./Anfang des 4. Jahrhunderts v. Chr.).

Inhaltsverzeichnis

Leben und Werk

Als Mitglied einer Asklepiaden-Familie in Knidos in Kleinasien (einer Stadt, die in der Antike für ihre Ärzte berühmt war) geboren, schien sein beruflicher Werdegang vorgezeichnet: er wurde ein bekannter Arzt und als solcher zu einem unbekannten Zeitpunkt an den Hof des persischen Großkönigs Artaxerxes II. Mnémon berufen. Dort war er als Leibarzt des Großkönigs selbst und dessen Familie tätig. Diodor (1. Jh. v. Chr.) und der (allerdings erst viele Jahrhunderte später schreibende) Byzantiner Johannes Tzetzes erwähnen, dass er dort, nachdem er von den Persern als Geisel genommen worden sei, 17 Jahre gelebt habe und 398 v. Chr. nach Hause zurückgekehrt sei, was einen Beginn seines Aufenthalts am persischen Hof um 415 v. Chr. bedeuten würde. Laut Xenophon hat Ktesias auch an der Seite des Großkönigs an der Schlacht bei Kunaxa teilgenommen und eine Wunde desselben geheilt.

Er erwarb in seiner Zeit am Hof angeblich eine umfassende Kenntnis der Verhältnisse des persischen Reichs und seiner Geschichte. Nachdem er in seine Heimat zurückgekehrt war – übrigens gehörte damals auch die griechische Polis Knidos zum Achämenidenreich –, schrieb er angeblich unter Benutzung der persischen Geschichtsbücher und Archive (Diodor 2,32) und auf Grund persischer Sagen, in ionischem Griechisch die 23 Bücher seiner Geschichte Persiens bzw. Persika (Περσικά). In den sechs ersten Büchern schilderte er die Geschichte der assyrisch-babylonischen Reiche bis zur Gründung des persischen, in den sieben folgenden die Geschichte des letzteren bis zum Ende der Regierung des Xerxes, in den übrigen die Geschichte der folgenden persischen Könige bis zum Jahr 398 v. Chr. (die eigentlichen Persika).

Wir besitzen von dem Werk nur noch einen dürftigen Auszug in der „Bibliothek“ (Myriobiblion) des mittelbyzantinischen Gelehrten Photios, das in mehreren unterschiedlichen Handschriften vorliegt. F. W. König nahm an, dass Photios nur die Bücher 7–23 im Original vorlagen; in jedem Fall ist unklar, wie getreulich Photios in seinem Exzerpt wiedergab, was er bei Ktesias las. Auch Pamphilia verfasste bereits im 1. Jahrhundert n. Chr. einen Auszug aus den Persika in drei Büchern. Einige ausführlichere Fragmente finden sich bei Diodor, Athenaios, Plutarch (Vita Artaxerxes’ II.), Theon, Demetrios von Phaleron, Nikolaos von Damaskus, Aelian u.a., wobei die Zuordnung der Passagen als Ktesias-Fragmente nicht immer gesichert ist. Auch Dinon von Kolophon lehnte sich wohl an ihn an. Das zweite Buch Diodors, dem wir das meiste, was wir außer den indigenen Monumenten und ihren Inschriften über die assyrisch-babylonischen Monarchien wissen, verdanken, ist wohl fast ganz aus Ktesias geschöpft.

Auch über Indien schrieb Ktesias eine kleinere Schrift, die Geschichte Indiens bzw. Indika (Ἰνδικά), wovon sich ebenfalls bei Photios ein dürrer Auszug vorfindet. Ktesias beschreibt darin den Norden des indischen Subkontinents: die Sitten der Bewohner, die Fauna und Flora; wobei man anfügen muss, dass es sich im heutigen Verständnis wahrscheinlich eher um eine „Recherchensammlung“ zum Thema Indien als um Geschichtsschreibung im eigentlichen Sinne gehandelt hat: laut Photius besaß das Werk z.B. keinerlei innere Strukturierung, es wurden einfach relativ willkürlich verschiedenste Themen aneinander gereiht. Ktesias scheint einfach eine Sammlung aller Geschichten und Mythen, die über Indien kursierten, vorgenommen zu haben. Unter anderem berichtet er von:

  • Kynokephaloi (wörtlich „Hundsköpfige“) – vielleicht eine Fehlinterpretation eines Kommentars über niedere Kasten, die in Berichten von Zeitgenossen „mit den Hunden essen mussten“.
  • Mantikoren – auch später immer wieder in Berichten über Indien erwähnte Fabelwesen mit Löwenkörper, Menschenkopf und Skorpionsschwanz.

Außerdem werden noch einige geographische Schriften von Ktesias bei Photios angeführt, die jedoch nicht einmal fragmentarisch erhalten sind. Nur den Titel kennen wir etwa von:

  • Von den Bergen (Περὶ ὀρῶν / Perì orôn) und Von den Flüssen (Περὶ ποταμῶν / Peri potamôn), zitiert bei Plutarch;
  • Asiatischer Periplus (Περίπλους Ἀσίας / Períplous Asías), zitiert bei Stephanos von Byzanz;
  • Von den Stämmen in Asien (Περὶ τῶν κατὰ τὴν Ἀσίαν φόρων / Perì tôn katà tên Asían phórôn), vielleicht ein Anhang zu den Persika

Wertung

Die Glaubwürdigkeit des Ktesias wurde bereits in der Antike mehrfach angegriffen. Schon Lukian sah das Werk als Sammlung von Gerüchten, als Bericht dessen, „was er weder selbst gesehen noch von einem anderen erzählen gehört hat“; auch Plutarch äußerte sich eher abfällig über Ktesias. Dennoch wurden die Persika offenbar häufig benutzt und beeinflussten das griechische Perserbild erheblich.

Photios beurteilte ihn dann im Mittelalter als „klar verständlich und mit Freuden zu lesen“. Auch neige Ktesias nicht, wie Herodot, zu „unzeitgemäßen Abschweifungen“, verzichte allerdings nicht auf Fabeln. Manchmal verfalle er aber in die „Sprechweise des gemeinen Mannes“, was dem mittelbyzantinischen Klassizisten natürlich ein Gräuel war.

Die Einschätzung von Ktesias' Persika ist bis heute in der Forschung umstritten. Einerseits gab und gibt es starke Kritik (z.B. wegen sachlicher Fehler), und einige Gelehrte halten sein Werk eher für einen „historischen Roman“, andererseits gilt er anderen Forschern nach wie vor als ein Kenner des persischen Hofes.

Reinhold Bichler schlug 2004 einen neuen und interessanten Zugang zu Ktesias vor: Er sieht ihn als einen „Spaßvogel“, der einen regelrechten „Herodot-Verriss“ schrieb. Marco Dorati hat 1996 die These vertreten, Ktesias sei niemals in Persien gewesen, seine biographischen Angaben seien gefälscht. Im Mai 2006 veranstaltete Josef Wiesehöfer eine internationale Tagung zu Ktesias; die Publikation der Beiträge wird zahlreiche Aspekte des Werkes neu beleuchten.

In der Kontroverse um Ktesias gibt es noch einen weiteren Ansatz. Dieser besteht darin, dass man Ktesias’ Werk zwar nicht als sachlich richtige Beschreibung des persischen Hofes nutzen könne, wohl aber als eine ausgezeichnete Quelle für das „Perserbild“ in der antiken griechischen Geschichtsschreibung. Der persische Hof wird mit seinem Luxus, zahlreichen Verschwörungen sowie den Haremsintrigen als „dekadent“ charakterisiert.

Literatur

Ausgaben

  • Friedrich Wilhelm König: Die Persika des Ktesias von Knidos. Graz 1972 (Archiv für Orientforschung, Beiheft 18; Edition und Übersetzung der Ktesias-Fragmente bei Photios).
  • Dominique Lenfant: Ctésias de Cnide. La Perse, l’Inde, autres fragments. Paris 2004 (neue, maßgebliche Edition der Ktesias-Fragmente; enthält auch Abschnitte, deren Zuweisung an Ktesias von anderen Forschern bestritten wird; Besprechung).

Sekundärliteratur

  • Reinhold Bichler: Ktesias „korrigiert“ Herodot. Zur literarischen Einschätzung der Persika. In: Herbert Heftner, Kurt Tomaschitz (Hrsg.): Ad fontes! Festschrift für Gerhard Dobesch. Wien 2004, S. 105–116; hier online.
  • Bruno Bleckmann: Ktesias von Knidos und die Perserkriege: Historische Varianten zu Herodot. In: Bruno Bleckmann (Hrsg.): Realitäten und Fiktionen. Kolloquium zum 80. Geburtstag von Dietmar Kienast. Köln 2007, S. 137–157.
  • Christopher Tuplin: Doctoring the Persians. Ctesias of Cnidus, Physician and Historian. In: Klio 86, 2004, S. 305–347.
  • Josef Wiesehöfer, Giovanni Battista Lanfranchi, Robert Rollinger (Hrsg.): Die Welt des Ktesias. Stuttgart 2009 (im Druck).

Weblinks


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