Kunsthaus Tacheles

Kunsthaus Tacheles
Das Kunsthaus Tacheles in der Oranienburger Straße
Rückansicht
Tacheles, 1998

Das Kunsthaus Tacheles ist ein selbstbestimmtes, kollektives Kunst- und Veranstaltungszentrum in der Oranienburger Straße im Berliner Ortsteil Mitte. Es nutzt einen vor dem Abriss geretteten Gebäudeteil des ehemaligen Kaufhauses Wertheim.

Inhaltsverzeichnis

Namensherkunft

Die Redewendung „Tacheles reden“ – von hebr. tachlit (תכלית) = Ziel, Zweck; jiddische Bezeichnung für Klartext – bedeutet: direkt die unverblümte Wahrheit sagen; jemandem ohne Zurückhaltung ungeschminkt die Meinung sagen; Klartext reden; ein heikles Thema ansprechen; offen und deutlich reden (z. B. „Jetzt red' mal Tacheles!“). Die Künstlerinitiative Tacheles, die das Haus 1990 besetzte, gab sich diesen Namen aufgrund der Probleme, die die freie Meinungsäußerung zu DDR-Zeiten mit sich brachte. So mussten viele Botschaften in Musik, Film und Kunst zweideutig versteckt werden. Das Durchbrechen dieser Zweideutigkeit in der Kunst war ein Ziel der Künstlergruppe.[1] Mit der Zeit ging der Name der Gruppe auf das Gebäude selbst über. Ein weiterer Grund für die Wahl der jiddischen Bezeichnung ist wahrscheinlich die Lage des Gebäudes im alten jüdischen Viertel.

Geschichte

Friedrichstraßenpassage

Das Gebäude wurde 1907 bis 1908 in 15 Monaten unter der Leitung des kaiserlichen Baurates Franz Ahrens errichtet und 1909 als Kaufhaus mit dem Namen Friedrichstraßenpassage eröffnet. Der Gebäudekomplex zog sich damals von der Friedrichstraße bis zur Oranienburger Straße hin. Die Passage hatte an beiden Straßen Eingänge und verband diese miteinander. Die Friedrichstraßenpassage war zu dieser Zeit nach der Kaiserpassage die zweitgrößte Einkaufspassage der Stadt und der letzte große Passagenbau in Europa. Die Baukosten betrugen sieben Millionen Mark.

Bei dem fünfgeschossigen Gebäude handelte es sich um eine Stahlbetonkonstruktion, die sich mit einer der ersten Kuppeln aus diesem Werkstoff schmückte. Neben einer großen überdachten Passage befanden sich zahlreiche Geschäftsräume. Das Haus kann der frühen Moderne zugeordnet werden und enthält klassische und gotische Einflüsse. Der Komplex besaß ein eigenes Beförderungs- und Rohrpostsystem. Der noch heute verwendete Begriff „Zyklopenstil“ basiert auf einer damaligen Beschreibung des Komplexes.

Eine Aktiengesellschaft, bestehend aus mehreren Einzelhändlern, gab unter dem Initiator Otto Markiewicz den Bauauftrag für die Passage, um einen Marktvorteil durch den gemeinsamen Standort zu bekommen. Das Konzept sah vor, die Läden nicht strikt voneinander zu trennen, sondern ineinander überlaufen zu lassen und mittels einer zentralen Kassenstelle zu kontrollieren. Bereits im August 1908, ein halbes Jahr nach der Eröffnung, musste das Passage-Kaufhaus Konkurs anmelden. Der Komplex wurde von Wolf Wertheim angemietet, der 1909 erneut ein Kaufhaus darin eröffnete, das er bis 1914 halten konnte. Vor dem Ersten Weltkrieg wurde das Gebäude zwangsversteigert.

Wie das Gebäude zwischen 1914 und 1924 genutzt wurde, ist unbekannt. 1924 wurde neben weiteren Umbauten ein noch heute erhaltener Tiefkeller (bei einem späteren Gutachten auch Tresorraum genannt) eingebaut und die Deckenhöhe der Passage mittels einer Stahl-Glas-Konstruktion auf die Höhe der Ladengeschäfte heruntergezogen, wodurch der Gesamteindruck der Halle komplett verändert wurde.

Haus der Technik

Das Gebäude wurde ab 1928 von der AEG genutzt und fortan von der Inhaberin, der Berliner Commerz- und Privatbank, als Haus der Technik bezeichnet. Die AEG nutzte die Räumlichkeiten, um Produkte vorzustellen und Kunden zu beraten. Das vorherige Schau- und Verkaufsgebäude der AEG in der Luisenstraße 35 war am 15. September 1927 bei einem Brand zerstört worden. Die neuen Räumlichkeiten wurden mit einer Fläche von 10.500 m² und 20 Schaufenstern genutzt. Ende der 1930er Jahre fand hier die weltweit erste Fernsehübertragung statt.

Nutzung durch die Nationalsozialisten

Anfang der 1930er Jahre wurde das Haus zunehmend von NSDAP-Mitgliedern genutzt. Mitte der 1930er Jahre zog die Deutsche Arbeitsfront mit Büros für den Gau Kurmark in das Gebäude und wurde 1941 auch Eigentümerin des Gebäudes. Zur gleichen Zeit zog auch das Zentralbodenamt der SS dort ein.

1943 wurden Dachoberlichter geschlossen und die entsprechenden Dachreiter entfernt, weil französische Kriegsgefangene im Dachgeschoss untergebracht werden sollten. Während der Schlacht um Berlin wurde der zweite Tiefkeller von den Nationalsozialisten geflutet und steht noch heute unter Wasser. Während des Zweiten Weltkrieges erlitt das Gebäude starke Schäden, ein großer Teil des Komplexes blieb jedoch gut erhalten.

Nutzung in der DDR

1948 wurde das Haus vom Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) übernommen und verwitterte im Laufe der Jahre zunehmend. Vorübergehend zogen verschiedene Einzelhändler und Handwerksbetriebe, besonders auf der Seite der Friedrichstraße, in die Ruine. Das Deutsche Reisebüro nutzte den schnell und provisorisch wieder hergestellten Passagentrakt und einige obere Stockwerke. Des Weiteren waren im Gebäude unter anderem eine Artistenschule, eine Hundeschuranstalt, die Fachschule für Außenwirtschaft und Büroräume von RFT untergebracht. Die Tresorräume des Kellergeschosses nutzte die Nationale Volksarmee.

Im Torbau an der Friedrichstraße residierte zunächst das Kino Camera, konnte diese Räumlichkeiten wegen des schlechten Bauzustandes Ende der 1950er Jahre aber nicht mehr nutzen und ließ daraufhin 1958 den ehemaligen Vortragssaal der AEG ausbauen, der später unter dem Namen OTL (Oranienburger Tor Lichtspiele) wiedereröffnet wurde. Während der Umbauarbeiten wurde die Fassade teilweise verändert und ein Vorraum als Kassenbereich gebaut sowie die Decke zu Gunsten eines Treppenhauses umgebaut. Dieses bildet den heutigen Eingangsbereich. Der Kinosaal wird auch heute als Theatersaal genutzt. Nach einem weiteren Umbau des Kinos 1972 wurde dies wieder in Camera umbenannt.

Teilabriss

Haupt-Treppenhaus im Tacheles

Obwohl das Gebäude während des Zweiten Weltkrieges nur mittelmäßig beschädigt wurde, sollte es auf Grund zweier Statikgutachten aus den Jahren 1969 und 1977 abgerissen werden, da es trotz intensiver Nutzung nie zu einer Sanierung gekommen war. Eine neue Straße sollte über das Gelände verlaufen und eine Abkürzung zwischen Oranienburger Straße und Friedrichstraße bilden.

Der Abbau begann 1980. Zwei Jahre später wurde das Kino geschlossen und der noch komplett erhaltene Kuppelbau gesprengt. Der noch heute stehende Teil sollte laut Plan im April 1990 abgebaut werden.

Künstlerinitiative Tacheles

Kurz vor der planmäßigen Sprengung wurde der noch stehengebliebene Rest des Gebäudes am 13. Februar 1990 von der Künstlerinitiative Tacheles besetzt. Durch Verhandlungen mit der Baudirektion Berlin-Mitte, die als Rechtsträger für den Komplex zuständig war, und unter Berufung auf Denkmalschutz versuchten die Besetzer, den Abriss zu verhindern. Trotzdem sollte das Haus laut Magistratsbeschluss 150/90 am 10. April 1990 gesprengt werden, worauf die Besetzer beim Berliner Runden Tisch einen Dringlichkeitsantrag stellten, der den Abriss vorläufig stoppen konnte.

Die mit Graffiti bemalte östliche Wand

Die Künstlerinitiative ließ ein neues Gutachten zur Bausubstanz und Statik erstellen. Auf Grund des positiven Ergebnisses wurde das Haus zunächst vorläufig unter Denkmalschutz gestellt, der nach einem weiteren Gutachten vom 18. Februar 1992 bestätigt werden konnte.

Das Gebäude wurde bunt bemalt, aus Schutt wurden verschiedene Skulpturen errichtet. Durch unterschiedliche Auffassungen der Künstler aus Ost- und Westdeutschland entstanden anfangs viele Kontroversen. Mittlerweile hat sich der Komplex, der vom Tacheles e. V. betrieben wird, zu einem festen und großen Kunst-, Aktions-, Veranstaltungs- und Kommunikationszentrum in Berlin entwickelt. In dem Gebäude befinden sich unter anderem rund 30 Künstlerateliers, Ausstellungsflächen und Verkaufsräume für zeitgenössische Kunst, ein Programmkino sowie die „Panorama-Bar“. Der „Blaue Salon“, ein 400 m² großer Raum, wird hauptsächlich für Konzerte, Lesungen etc. genutzt. Der „Goldene Saal“ umfasst die gesamte erste Etage des Tacheles – hier befindet sich eine Bühne, die mittlerweile ein wichtiger Spielort für die Off-Theaterszene und vor allem für die freie zeitgenössische Tanzszene in Berlin ist. Zu den Künstlern und Institutionen, die im Goldenen Saal bislang Aufführungen gezeigt haben, gehörten unter anderem Orphtheater, Theater zum westlichen Stadthirschen, Henry Arnold, Régine Chopinot, Rike Eckermann, Sebastian Hartmann, Howard Katz, Clint Lutes, Matthias Merkle, Tomi Paasonen, Felix Ruckert, Torsten Sense, Lars-Ole Walburg, Sasha Waltz, Christoph Winkler, wee dance company, Deutsches Symphonie-Orchester Berlin und Lucky Trimmer.[2]

1996 und 1997 wurde mit Politikern, Soziologen und Architekten sowie den Künstlern im Rahmen der Diskussionsrunde Metropolis Berlin, Hochgeschwindigkeitsarchitektur öffentlich über den Erhalt und die zukünftige Nutzung des Komplexes diskutiert. 1998 erwarb die Fundus-Gruppe für 2,8 Mio. DM das 1250 m² große Grundstück. Sie beauftragte den Amerikaner Andrés Duany mit einem Entwurf des Quartier am Johannishof mit einem Bauvolumen von geschätzten 400 Mio. Euro, für das sich bisher jedoch keine Investoren fanden.[3]

Der Tacheles e. V. handelte in der Folge einen Mietvertrag mit dem neuen Eigentümer aus, der bis zum 31. Dezember 2008 galt. Als eher symbolische Mietzahlung wurde eine Mark (umgerechnet rund 50 Cent) pro Quadratmeter je Monat vereinbart. Nach dem Auslaufen des alten Mietvertrags konnte kein neuer ausgehandelt werden. Da der Verein die geforderte Nutzungsentschädigung von 108.000 Euro nicht aufbringen konnte, meldete er Ende 2009 Insolvenz an. Ein Gläubiger der Grundpfandrechte, die HSH Nordbank, strebte im Zuge der Verwertung des Areals die Zwangsversteigerung an[4] und verfügte über einen gültigen Räumungstitel.[5] Ein Versteigerungstermin war für den 4. April 2011 angesetzt, wurde allerdings an diesem Tag kurzfristig abgesagt.[6] Am 5. April verließ die Gastronomiefraktion gegen Zahlung von 1 Million Euro das Tacheles; Kino, Hinterhof und Erdgeschoss wurden geräumt. Achtzig Künstler verblieben mit ihren Ateliers und Metallwerkstätten im Gebäude. Eine Woche später wurde vom Zwangsverwalter der Bau einer knapp 3m hohen Mauer veranlasst, die den Durchgang von der Oranienburger Straße zum Hof mit den Werkstätten trennt. Über das zukünftige Konzept für das Gebäude ist noch nicht entschieden.[7]

Literatur

  • Andras Rost, Annette Gries: Tacheles. Alltag im Chaos. Fotobuch. Elefanten Press, Berlin 1992, ISBN 3-88520-422-3.

Weblinks

 Commons: Kunsthaus Tacheles – Album mit Bildern und/oder Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Tacheles-Webseite, Unterseite „history“, Abschnitt „TACHELES reden“
  2. Nordwind Festival
  3. Nina Apin: Kunsthaus vor dem Aus – Tacheles an der Oranienburger. In: die tageszeitung vom 17. Januar 2008
  4. Alexandra Kunze: Zwangsversteigerung droht – Im Tacheles spielt man schwarzer Peter. In: die tageszeitung vom 13. Februar 2009
  5. Tacheles-Areal soll 2010 unter den Hammer. In: Immobilien Zeitung Nr. 3 vom 21. Januar 2010, S. 26
  6. Versteigerung von Kunsthaus Tacheles abgesagt. In: Berliner Morgenpost vom 4. April 2011
  7. Tacheles wird eingemauert, taz, 12. April 2011
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