Kurgan-Hypothese

Kurgan-Hypothese
Vorstoß der Kurganvölker nach Ostmitteleuropa in der Zeit zwischen 4300 und 3500 v. Chr.

Kurgankultur ist ein Begriff, den die Archäologin Marija Gimbutas 1956 prägte, um archäologische Kulturen des späten Neolithikums und der frühen Bronzezeit in Russland bzw. in der Ukraine und in Moldawien aufgrund der Merkmale ihrer Bestattungen zusammenzufassen (Ockergrabkultur, Grubengrabkultur).

Marija Gimbutas war die erste Wissenschaftlerin in den USA, die ein Gesamtbild der vorindoeuropäischen Zivilisation ausformulierte. Ihre Ausführungen sind in Europa umstritten, was jedoch auch auf alle anderen Hypothesen zutrifft, die sich mit der Herkunft eines spekulativen indoeuropäischen "Urvolks" befassen. Außerdem nahm Marija Gimbutas mit ihrer Kurgan-Hypothese, in welcher sie ihre archäologischen Arbeiten mit der Sprachforschung verband, Position in der Diskussion um eine vermutete proto-indoeuropäische Ursprungskultur bzw. eine proto-indogermanische Bevölkerung ein.

Inhaltsverzeichnis

Überblick

Die litauisch-amerikanische Archäologin Marija Gimbutas führte 1956 die Bezeichnung „Kurgantradition“ als Oberbegriff für die halbnomadischen, runde Hügelgräber bauenden Völker ein, nach ihrem auffälligsten Merkmal, den riesigen Kurganen (nach russ.-tatar. kurgán=Grabhügel), in denen eine ausgewählte Gruppe von Toten mit zahlreichen Grabbeigaben bestattet wurden. Diese Kulturen werden gewöhnlich als "Ockergrabkultur" und Grubengrabkultur (Jamnaja) bezeichnet, was Gimbutas nicht prägnant genug erschien. Die Ockergrab- bzw. Kurgankultur ist gekennzeichnet durch Einzelbestattung in Grabgruben (später Holzkammern), über die ein Grabhügel (Kurgan) aufgeworfen wurde. Die Gräber enthalten Einstreuungen von Ocker. Da solche Gräber, die für Steppenvölker typisch sind, auch in Mittel- und Südosteuropa auftauchen, werden sie von Gimbutas zum Beweis ihrer Kurgan-Hypothese herangezogen. In einer Reihe von Gräbern zuerst bei der Majkop- und Novotitarovskaja-Kultur fanden sich Wagen als Beigaben, sowie Äxte aus Stein oder Kupfer. In der Kuban-Kultur am Nordostrand des Schwarzen Meeres wurden Megalithanlagen errichtet. Die Skelette in den späteren Erdgräbern lagen entweder ausgestreckt oder in Hockerhaltung auf dem Rücken.

Von vielen Archäologen werden Begriffe wie „Kurganvolk“ und „Kurgankultur“ jedoch abgelehnt, da sie nach ihrer Meinung den kulturellen Verschiedenheiten und Entwicklungen innerhalb eines weiträumigen Gebietes während einer Dauer von rund 2000 Jahren nicht gerecht werden und einen so nicht bestehenden Kontext suggerieren.

Die hinter dem Begriff "Kurgankultur" stehende Hypothese eines in Südrussland und seiner Steppenregion beheimateten indoeuropäischen "Urvolks" wird hingegen von zahlreichen Prähistorikern und Sprachwissenschaftlern positiv beurteilt. Außer Frage steht, dass keine der zahlreichen Hypothesen, die sich mit der Herkunft der Indoeuropäer beschäftigen, bis heute auf ungeteilte Zustimmung gestoßen ist. Nach wie vor wird diese Thematik in der Forschung sehr kontrovers diskutiert.

Entstehung nach Gimbutas

Die sogenannte Kurgankultur entstand vom 5. bis 3. vorchristlichen Jahrtausend während der Austrocknung der Steppengebiete in Südrussland, die sich damals zwischen Dnepr, Siwerskyj Donez, Don und Wolga nördlich über das Kaspische Meer hinaus bis zum Ural erstreckten. Durch Trockensteppebildung, östlich des Kaspischen Meeres auch Wüstenbildung und die daraus resultierenden Hungersnöte waren die Kurganleute zu Wanderungen in westlichere, regenreichere Gebiete gezwungen. Von diesem Zeitpunkt an, als die Völker nördlich des Schwarzen Meeres unterworfen bzw. verdrängt waren, also etwa ab 4.500 v. Chr, werden die vermuteten halbnomadischen Eroberer von Gimbutas als „Kurganvölker" bezeichnet.

Lebensweise

Die Kurgankultur steht nach Gimbutas im Gegensatz zur Gesellschaft des sogenannten Alten Europas, also der neolithischen und äneolithischen Kulturen Europas, die friedfertig, sesshaft und matriarchal waren. Die Kurganvölker dagegen gehörten einer kriegerischen, patriarchalen und hierarchischen Kultur an, die ihre Toten in Erdgruben mit zelt- oder hüttenartigen, von einem Stein- oder Erdhügel bedeckten Kammern bestattete. Diese halbnomadischen Völker lebten jahreszeitlich bedingt vorübergehend in halb unterirdischen Häusern und ernährten sich vorwiegend von der Weidewirtschaft. Ackerbau wurde in geringerem Maße, aber kontinuierlich betrieben.

Unter den Grabfunden Südosteuropas finden sich bis etwa 4.300 v. Chr., abgesehen von Gerätschaften zur Jagd, keine Waffen und keine Hinweise auf Befestigungen. So waren lt. Gimbutas die friedfertigen Ackerbauern eine leichte Beute für die kriegerischen Reitervölker, die sie überrannten. Die Eindringlinge waren mit Stich- und Hiebwaffen ausgerüstet: mit langen Dolchen, Speeren, Lanzen, Pfeilen und den typischen Kurgan-Bögen.

Wanderungen in Wellen

Als Projektleiterin von fünf großen Ausgrabungen in Südosteuropa und nach intensiven Studien eines weiten Spektrums von archäologischen Originalberichten und linguistischen Forschungen glaubt Gimbutas ab 1977, nachweisen zu können, dass die Proto-Indoeuropäer das "Alteuropa" der Kupferzeit, d.h. das vorindogermanische jungsteinzeitliche Europa, infiltriert hatten.

Die verschiedenen berittenen Kurgan-Kulturen mit einem patriarchalen Sozialsystem, bestehend aus einem König oder Fürst, einem Adelsrat und freien Männern, wanderten aus der Steppenregion des nördlichen Schwarzmeer-Wolga-Gebietes, wahrscheinlich aus klimatischen Gründen, wegen einer Trockenperiode, aus. Sie zogen gen Westen nach Europa, gen Südwesten nach Anatolien, gen Südosten in den heutigen Iran und das heutige Indien, gen Nordwesten in das Baltikum und gen Osten in das heutige chinesische Turkestan. Diese Hypothese, die von einem indoeuropäischem Ursprungszentrum zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer ausgeht, soll auch die Entstehung der westlichen Kentumsprachen und der östlichen Satemsprachen erklären.

Die Ankunft des Kurgan-Volks, das Gimbutas mit dem indoeuropäischen Urvolk identifiziert, brachte eine Überschichtung der alteingesessenen neolithischen Bevölkerung mit sich, die gravierende gesellschaftliche Folgen hatte. So änderten sich die Grabsitten, d.h. im Norden wich die Kollektivbestattung in Megalithgräbern der Einzelbestattung, wobei man in den Gräbern Hocker und Ockereinstreuungen findet, wie sie in Steppengräbern Südrusslands und Zentralasiens gebräuchlich sind. Der gesellschaftliche Umbruch schlägt sich ebenfalls in der Sachkultur nieder, d.h. es finden sich Streit- und Bootsäxte, schnurverzierte Keramik und andere Beigaben, die auf eine Herkunft aus Südosteuropa hindeuten. Dieser Umbruch, der abgesehen von der Iberischen Halbinsel und Westfrankreich ganz Europa erfasst, ist nach Gimbutas gleichzusetzen mit Europas Indoeuropäisierung. Ausgedehnte Brandhorizonte in Griechenland und Troja, die um 2200 v. Chr. fassbar sind, deuten in die gleiche Richtung. Ferner führt Gimbutas auch die Domestizierung des Pferdes ins Feld, das von den Steppenvölkern gezähmt wurde, und erstmals innerhalb der neolithischen europäischen Bauernkulturen auftaucht. In der Hippologie ist allerdings umstritten, ob zu jener Zeit Pferde schon so weit domestiziert waren, dass sie geritten werden konnten.

Ausbreitung der Kurgankultur

Als Folge langer Dürreperioden, die moderne Geologen erst jüngst durch das Ende des bis dahin unbekannten ostmediterranen Monsun, von 7.000 bis etwa 4.500 v. Chr. nachweisen konnten, schwappten die Kurganeinflüsse in drei Wellen auf die Gebiete des Alten Europa über:

  • Phase I um 4.400-4.300 v. Chr.
  • Phase II um 3.500 v. Chr.
  • Phase III unmittelbar nach 3000 v. Chr.
  • Eine vierte Welle stieß ca. 2500 - 2200 v. Chr. ins Niltal vor.

Diese Gimbutas-Chronologie bezieht sich nicht auf die Entwicklung einer einzigen Kulturgruppe, sondern auf eine Reihe von Steppenvölkern mit einer gemeinsamen Tradition, die sich über sehr weite Zeiträume und Gebiete ausdehnte. (Lit.: Gimbutas, 1996)

Kurgan I

Die Völker der sogenannten Kurgan-I-Gruppe stammten aus der Wolgasteppe und entflohen der Trockenheit nach Westen, in den Westteil der heutigen Ukraine, weiter bis zu den Mündungen der Flüsse Dnister und Donau und am Unterlauf dieser beiden Flüsse aufwärts.

Die russischen Archäologen bezeichnen Kurgan-I als frühes Jamna, wobei das Wort Jamna soviel wie „Grube“ bedeutet und die Erdgrube unter dem Grabhügel bezeichnet.

Kurgan II

Die kulturell höher entwickelten sogenannten Kurgan-II-Völker folgten erst rund 1000 Jahre später. Sie hatten ihren Ursprung nördlich des Schwarzen Meeres (das auf griechisch „Pontos euxeinos“ heißt, daher „nordpontisch“) im nordpontischen Gebiet zwischen dem Unterlauf des Dnjestr und dem Kaukasusgebirge, wo sie ihre Herden auf den weiten Steppen weideten. Aber neue Dürre, gekoppelt mit starkem Zuwachs ihrer Herden, trieb die dort lebenden Menschen weiter nach Westen, Nordwesten, Norden und Südosten. Fast die ganze Balkanhalbinsel, Ungarn, Österreich, Ostdeutschland bis zur Elbe, Polen und das mittlere Russland, aber auch das Gebiet nördlich des Kaukasus wurden nun von indoeuropäischen Gruppen besiedelt.

Die russ. Archäologie bezeichnet Kurgan II als „Michajlowka I“ oder „Maikop-Kultur.

Kurgan III

Danach war wieder Ruhe, aber diesmal für kürzere Zeit: Um 3000 v. Chr. begann die sogenannte Kurgan-III-Phase, wiederum von der Wolgasteppe aus. Sie dauerte 200 Jahre. Diese indoeuropäischen Zuzügler verstärkten die schon einige Generationen früher nach Mitteleuropa gezogenen Migranten. Damit wurde das Gebiet von sogenannten Kurgan-Abkömmlingen insbesondere nach Westen erweitert, bis jenseits des Rheins, nach Norden bis Skandinavien und ins nördliche Russland. Auch in die Gebiete um die Ägäis (Griechenland, West-Anatolien) sowie die Länder südlich des Kaukasus (Georgien, Armenien, Aserbaidschan, Ost- und Mittel-Anatolien, und den nördlichen Iran).

Schmoeckel und Wolf versichern, sogenannte Kurgangruppen seien bis nach Syrien, Palästina und bis nach Ägypten vorgedrungen (Lit.: Schmoeckel, 1999). Ausgrabungen und die Mythologie zeigen die Verschiebungen der matriarchalen Lebensweise der Urbevölkerung hin zu den Sitten, die ihnen von den patriarchalen Eroberern aufgezwungen werden (Vgl. für Ägypten Doris Wolf: ’’Was war vor den Pharaonen’’, Zürich, 1994).

Kurgan III wird bei der russ. Archäologie als „spätes Jamna“ bezeichnet (s.o.).

Wirtschaftsweise

Die Mobilität der Kurganvölker basierte auf der Domestikation des Pferdes, das den Ackerbauern des Alten Europa zwar nicht unbekannt (Iberische Pferde), das aber nicht domestiziert war. Auch Weidewirtschaft und Viehzucht, die es seit mehr als 13.000 Jahren gibt, die aber nach Auffassung der Kurganvertreter nur mit Hilfe von Reitpferden und körperlicher Kraft zu beherrschen war, führten zu dem Übergang von den matriarchalen Gesellschaften zum waffenbewehrten Patriarchat. Auch wenn der genaue Zeitpunkt dieses Prozesses bisher nur schwer festzulegen ist, vollzog er sich mit Sicherheit vor 4000 v. Chr..

Archäologische Funde, untermauert durch eine vergleichende indoeuropäische Sprach- und Mythologieforschung, sprächen für eine die kulturellen Grundfesten erschütternde Kollision zweier Ideologien, Gesellschaftssysteme und Wirtschaftsformen. Durch diesen Zusammenprall der Kulturen veränderte sich das Alte Europa, und in der späteren europäischen Vorgeschichte und Geschichte gingen vorindoeuropäische und indoeuropäische Elemente ineinander über. Beispielsweise blieb in Sprache und Mythologie ein starkes nichtindoeuropäisches Fundament erhalten.

Bestattungssitten und Weltbild

Rundhügelgräber in Moldawien, Südrumänien und Ostungarn legen ein bereites Zeugnis für die Wanderungen der Kurganvölker ab. Die frühesten Kurgangräber in Moldawien werden auf etwa 4.300 v. Chr. datiert.

Im krassen Gegensatz zum ausgeglichenen Verhältnis zwischen männlichen und weiblichen Bestattungen auf den zeitgleichen Friedhöfen des Alten Europa, waren die Kurgangräber fast ausschließlich für männliche Leichname ausgelegt. Während zu dieser Zeit im Alten Europa einfache Erdgruben üblich waren, bedeckten die Kurganstämme ihre Gräber mit einem Erd- oder Steinhügel und bestatteten darin ausschließlich ihre "Krieger"-fürsten zusammen mit deren bevorzugtem Kriegswerkzeug, dem Speer, Pfeil und Bogen und Feuersteindolch oder Langmesser.

Kurgan in der Nähe von Suwałki, Polen

Die Grabfunde enthüllen zwei Charakteristika des indoeuropäischen Weltbildes, wie sie sich in Ostmitteleuropa zum ersten Mal in den beiden Grabstätten Suworowo (Суворово, Suvorovo - Bezirk Warna, Bulgarien) und Casimcea (Donautal) manifestierten. Die Fundorte bezeugen, dass die sogenannten Kurganvölker das Pferd als heiliges Tier verehrten (was sich durchaus mit den vom Permafrost konservierten Hügelgräbern der Skythen am Hindukusch vergleichen lässt) und dass die Frau oder Gefährtin eines Stammeshäuptlings nach dessen Tod geopfert wurde.

Angebliche Bevölkerungsverschiebungen im alten Mitteleuropa nach Norden und Nordwesten weisen indirekt auf eine Katastrophe von so gewaltigem Ausmaß hin, dass sie für Gimbutas nicht mit klimatischen Veränderungen oder Epidemien erklärbar sind (für die ohnehin aus der zweiten Hälfte des 5. Jahrtausends keinerlei Hinweise vorliegen). Dagegen ist angeblich belegt, dass berittene Krieger in diese Landstriche einfielen, nicht nur durch die Funde von Hügelgräbern, die für einen einzigen Mann angelegt waren, sondern weil zu diesem Zeitpunkt ein ganzer Komplex von gesellschaftlichen Zügen hervortrat, der für die Kurgankultur charakteristisch war: Höhensiedlungen, Haltung von Pferden, eine auf Weidewirtschaft ausgerichtete Ökonomie, Hinweise auf Gewaltbereitschaft und Patriarchat sowie religiöse Symbole, die auf einen Sonnenkult hinweisen. Radiokarbondaten siedeln diese Periode zwischen 4.400 und 3.900 an.

In Gegensatz zu den massiven, oberirdisch gebauten Langhäusern der vorhergehenden Zeitspanne, entstehen die kleinen Trichterbecherhäuser. Sie enthalten Keramik, die mit Furchenstichtechnik angebrachten Sonnensymbolen, Fischgräten- und Stichmustern verziert sind. Die eindrucksvollsten Höhensiedlungen stammen aus der Salzmünder Gruppe, einer Untergruppe der Trichterbecherkultur, die in die erste Hälfte des 4. Jahrtausends datiert wird. Eine solche Siedlung liegt auf einer Hochfläche bei Halle an der Saale. Höhensiedlungen sind an der höchsten Stelle der Umgebung erbaut und von zwei oder drei Seiten durch Wasser oder steile Felshänge auf natürliche Weise geschützt. Auf der Dölauer Heide wurden fünf kleine rechteckige Häuser, deren Wände aus je drei Holzpfosten mit Füllungen aus lehmbeworfenem Flechtwerk bestanden, freigelegt. In der gleichen Region wurden etwa zwanzig Erdhügel ausgegraben; jeder von ihnen enthielt ein zentrales Grab in einer Vertiefung unter der Erdoberfläche und einen gewöhnlich aus Steinblöcken erbauten Totenschrein. Aus dieser Phase gibt es Hinweise auf Gewalttätigkeiten – Anzeichen dafür, dass Menschen mit Speeren oder Äxten getötet wurden -, die sich auch in den nächsten Jahrtausenden fortsetzten. Man fand Gräber mit Skelettresten von Frauen, Männern und Kindern in wüstem Durcheinander. Auch in Ostirland und Mittelengland steht das glockenbecherzeitliche Auftauchen von Grabmonumenten für einzelne Personen um die Mitte des 4. Jahrtausends in extremem Gegensatz zur vorhergehenden Tradition der Gruppenbestattungen.

Das Ende des Alten Europa

Die Veränderungen der materiellen Kultur in Teilen Mitteleuropas um 4.000 wird von Gimbutas als 'Kurganisierung' in Folge der ersten Kurganwelle bezeichnet. Während Gimbutas zufolge die ackerbautreibende Zivilisation des alten Europa eine matriarchale Struktur hatte (Lit.: Eisenhauer 2003), vollzog sich um 4000 herum ein Wandel zu einer Mischökonomie aus Ackerbau und Weidewirtschaft, was wiederum zu einer patriarchalen Klassengesellschaft führte, die als ’’erfolgreicher Indoeuropäisierungsprozess’’ (Lit.: Gimbutas, 1996) bezeichnet wurde. Die Viehhaltung (nicht nomadische Viehzucht) spielte eine zunehmend wichtigere Rolle als der Ackerbau. Die Veränderung der Sozialstruktur, Religion und Ökonomie war keine langsame einheimische Entwicklung, sondern das Aufeinanderprallen und die allmähliche Vermischung zweier Gesellschaftssysteme mit vollkommen gegensätzlichen Weltbildern. Nicht das gesamte Mitteleuropa wurde infolge der ersten Welle der Eindringlinge 'kurganisiert', fest steht jedoch, dass in dem größten Teil des Donaubeckens nun befestigte Höhensiedlungen errichtet wurden. Es dauerte viele Generationen, bis die Traditionen des gesamten 'Alten Europa' nach und nach durch die 'Kurgankultur' verdrängt waren.

Pferdedomestikation

Seit wann die Kurganleute Pferde als Reittiere benutzen, bleibt umstritten. Der amerikanische Archäo-Zoologe David Anthony und der ukrainische Forscher Dimitri Telegin fanden Ende der 1980er in einer Siedlung in Dereivka am Dnepr (ca. 250 Kilometer südlich von Kiew) einen Pferdezahn, der Abnutzungsspuren zeigt, die nach Ansicht der Autoren nur durch eine Trense hervorgerufen sein konnte. Sie datierten diesen Zahn auf ca. 4000 v. Chr. (David/Telegin 1991). Diese Datierung erwies sich jedoch als falsch: Neue konventionelle (Ki-6962) und AMS-Daten (OxA-7185, OxA-6577) zeigen, dass der Zahn aus der Eisenzeit stammt (Anthony/Brown 2000), während die Datierung der Siedlung selbst bestätigt werden konnte (Telegin 2003). Auch die Britin Marsha Levine findet keine eindeutigen Belege dafür, dass man Pferde vor Ende des 3. Jt. als Reit– oder Zugtiere nutzte (Levine 1999). Ihrem Argument, die Pferde seien wegen ihrer geringen Größe (Stockmaß 1,2–1,4 m; heute 1,6–1,75 m) zum Reiten ungeeignet gewesen, kann man aber entgegenhalten, dass rezente Ponyrassen wie Fjordpferde und Islandponies sehr wohl geritten werden, auch von Erwachsenen, zumal die damaligen Menschen auch kleiner als heutige waren. Als Zugtiere wurden Rinder eingesetzt.

Pferdeknochen zeigen keine eindeutigen Domestikationsmerkmale, daher ist die Datierung der Nutzung des Pferdes als Reittier schwierig. Pferdeknochen sind in Zentraleuropa jedoch seit der Bandkeramik belegt.

Die Kritik an der Kurgantheorie

Die Kurganhypothese ist nach wie vor umstritten und wird von einem Teil der Archäologen nicht anerkannt. Das gilt allerdings auch für alternative Erklärungsversuche wie die von Renfrew, so dass sich keinerlei akzeptable Alternativerklärungen anbieten.

Mangelnde archäologische Belege bis 1950

Eine grundlegende Kritik des Kurgan-Konzepts findet sich u. a. bei Alexander Häusler, dessen Ansichten zur Indoeuropäisierung allerdings außerhalb Deutschlands nicht beachtet werden. Als die Philologen vor 200 Jahren anfingen, die Sprache der Indoeuropäer zu erforschen, war die wissenschaftliche archäologische Forschung noch völlig unbekannt. Man war damals allein auf ’’sprachliche Indizien’’ angewiesen. In dem vermuteten Herkunftsland der Indoeuropäer, Südrussland und der Ukraine, waren noch zu wenige wissenschaftlich korrekte Ausgrabungen vorgenommen und veröffentlicht worden. Aus sprachlichen wie politischen Gründen fanden die dort durchgeführten archäologischen Forschungen nicht den Weg in die westliche Welt. Das hat sich seit etwa 1950 geändert.

Inzwischen liegt eine Fülle interessanter Bodenfunde russischer und anderer Archäologen vor, die von Sprachforschern genutzt werden, um ihre Vermutungen über die materielle Kultur der "frühen Indoeuropäer" abzugleichen (Schmoekel 1999). Laut Schmoekel sind zumindest Gimbutas' Vermutungen über die indogermanische Kultur zutreffend, während er auf ihre Ausführungen zu Alteuropa nur spärlich eingeht. Leider ist den Bodenfunden jedoch nicht zu entnehmen, welche Sprache ihre Benutzer sprachen.

Genetische Gleichsetzung der Indogermanen mit den Ureinwohnern Europas

Siehe Hauptartikel: Anatolien-Hypothese

Der Archäologe Colin Renfrew, Marija Gimbutas schärfster Kritiker, behauptete, dass die proto-indoeuropäische Sprache nicht durch Einwanderung von Hirten aus den eurasischen Steppen in das Europa der Kupferzeit hineingetragen wurden, sondern viel früher, zu Beginn des Neolithikums durch Bauern, die aus Anatolien nach Europa einwanderten. Diese Hypothese geht von einer allmählichen und friedfertigen Ausbreitung einer indoeuropäischen Ackerbauernkultur (im Durchschnitt von 1 km/Jahr) aus, aber auch von dem Irrtum, dass die Indogermanen aufgrund ihres technischen und kulturellen auch einen großen genetischen Einfluss auf das spätere Abendland gehabt hätten, so dass Renfrew auf der Suche nach ihnen zwangsläufig bei der europäischen Vorbevölkerung landet.

Die andere, die der Gruppe um die ehemals sowjetischen Forscher Gamkrelize und Ivanov, sehen Ostanatolien, eigentlich den Raum südlich des Kaukasus (Armenien) als Ausgangspunkt der Sprache und einer von hier ausgehenden in mehrere Richtungen erfolgenden aber später einsetzenden und langsamer verlaufenden indoeuropäischen Wanderung an, die zunächst ostwärts um das Kaspische Meer herum führte (dort ihre tocharische bzw. nordindische Abspaltung erfuhr) und dann westwärts in den Nordpontischen Raum führte. Evolutionsgenetiker um den Forscher Cavalli-Sforza unterstützen die Theorie von Gamkrelize und Ivanov und wiederholen damit Renfrews Irrtum eines starken genetischen Einflusses der Indogermanen.

Diese beiden Theorien schließen sich gegenseitig aus. Renfrews mehrfach revidierte Theorie erklärt darüber hinaus nicht die nichtindogermanischen Sprachinseln (auf der Iberischen Halbinsel, der Apenninen-Halbinsel, besonders aber nicht die in der Ägäis, auf den Inseln Kreta und Zypern, Pelasger, Leleger in Griechenland u.a.), die teilweise erst im Neolithikum besiedelt wurden. Renfrews Theorie geht auch von einem zu frühen Auftreten des Urindogermanischen in Europa aus, da die rekonstruierte Grundsprache noch in ihrem sprachlichen Grundzustand bereits Wörter für Dinge enthält, die nach heutigem Kenntnisstand frühestens im 6. Jahrtausend von viehzüchtenden Steppennomaden in Asien erfunden wurden, wie Pflug und Joch, noch später Rad und Wagen.

Weiterhin erklärt die Hypothese einer friedfertigen Verbreitung einer indoeuropäischen Ackerbauernkultur nicht die mythologischen Spuren einer anscheinend eher konfliktreichen Begegnung zweier Kulturen. So tragen viele antike Mythen indoeuropäischer Völker auffallende Gemeinsamkeiten eines Sonnen- und Kriegskultes, wie auch von Robert Graves in "Griechische Mythologie, Quellen und Deutung" postuliert.

Bestattungssitten

Ein Einwand gegen die Hypothese von Marija Gimbutas ist, dass die Bestattungssitten sich in Europa auch vor und nach der sogenannten Kurganexpansion grundlegend verändert haben. So tauchen die Erdwerke um 5.500 v. Chr., also weit vor Kurgan I mit der Expansion der Bandkeramik auf und waren keine Befestigungen bzw. Fluchtburgen.

Kritik an Gimbutas' matriarchaler Konzeption Alteuropas

Des Weiteren lässt sich nach Meinung der Kritiker die These der matriarchal friedfertigen Kultur Alteuropas nicht erhärten. Diese soll primär anhand ihrer gesellschaftlichen Praxis, sowie der Nahrungsbeschaffung bzw. der Ernährung festgemacht werden. Folgt man dieser Theorie bis zum Ende, müssten paläolithische Kulturen, die ähnliche Ernährungsgewohnheiten wie Hirten hatten, kriegerisch patriarchal gewesen sein. Zumindest bei den israelitischen Hirtenstämmen ist dies zu alttestamentarischer Zeit der Fall.

Siehe auch

Literatur

  • Siehe Marija Gimbutas: Eigene Schriften.
  • Reinhard Schmoeckel: Die Indoeuropäer. Aufbruch aus der Vorgeschichte. Bastei Lübbe, Bergisch-Gladbach 1999, ISBN 3404641620.
  • Ursula Eisenhauer: Jüngerbandkeramische Residenzregeln. Patrilokalität in Talheim. In: Jörg Eckert, Ursula Eisenhauer, Andreas Zimmermann (Hrsg.): Archäologische Perspektiven. Analysen und Interpretationen im Wandel. Festschrift für Jens Lüning zum 65. Geburtstag. Leidorf, Rahden Westf. 2003, S.562–573, ISBN 3896464000.
  • David W. Anthony, Dimitri Telegin: Die Anfänge des Reitens. in: Spektrum der Wissenschaft. Spektrumverlag, Heidelberg 2.1992, ISSN 0170-2971.
  • Alexander Häusler: Die Gräber der älteren Ockergrabkultur zwischen Dnepr und Karpaten. Beier & Beran, Berlin 1974, ohne ISBN.

Englisch:

  • A. R. Dexter, K. Jones-Bley (Hrsg.): The Kurgan Culture and the Indo-Europeanization of Europe. Selected Articles Form 1952 to 1993. Institute for the Study of Man, Washington 1997, ISBN 0-941694-56-9.
  • J. P. Mallory: The Oxford introduction to the Proto-Indo-European and the Proto-Indo-European world. Oxford University Press, Oxford 2006, ISBN 0199287910.
  • J. P. Mallory: Encyclopedia of Indo-European Culture. Fitzroy Dearborn, London 1997, ISBN 1884964982.
  • J. P. Mallory: In Search of the Indo-Europeans. Language, Archaeology and Myth. Thames & Hudson, London 1989, ISBN 0-500-27616-1.
  • D. Ya. Telegin, M. Lillie, I. D. Potekhina, M. M. Kovaliukh: Settlement and economy in Neolithic Ukraine, a new chronology. in: Antiquity. Oxford Univ. Press, Oxford 77.2003, S.456–470, ISSN 0003-598x.
  • R. D. Gray, Q. D. Atkinson: Language-tree divergence times support the Anatolian theory of Indo-European origin. In: Nature. Macmillan Journals, London 426.2003, S.435-439, ISSN 0028-0836.

Weblinks


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