Animismus

Animismus

Als Animismus (von griech. ἄνεμος „Wind, Hauch“ wie lat. animus, [1] als anima später in religiösen Zusammenhängen auch Seele[2] oder Geist) bezeichnet man allgemein schriftlose, in Reinform ausschließlich bei Jäger-Sammler-Kulturen verbreitete Religionen indigener Völker. Es gibt demnach nicht eine einzige Religion des Animismus, vielmehr stellt sich der Animismus gleichermaßen als Religion wie als Regelwerk des Aufbaus der Soziokultur und auch als vorrationale Welterklärung in jeder Kultur anders dar.

Inhaltsverzeichnis

Etymologie

Der Begriff „Animismus“ wurde im Rahmen der Forschungen von Edward Burnett Tylor 1871 in seinem Werk Primitive Culture, Researches into the Development of Mythology, Philosophy, Religion, Art and Custom zur Bezeichnung bestimmter Geister- und Seelensvorstellungen von Völkern früher gesellschaftlicher Entwicklungsstufen eingeführt. Ausgehend von der abendländischen Seelenvorstellung vertrat Tylor die These, dass in der Vorstellung der „primitiven Menschen“ auch Tieren, Pflanzen und Objekten eine Seele innewohnt. Basierend auf diesem Gedankengebäude wurde hier der Ursprung für Dämonen und Geister und schließlich auch von Göttern und von jeglicher Religion gesehen. Der Ansatz wurde später durch den Präanimismus und den Animatismus erweitert.

Neben Tylor entwickelten Herbert Spencer und John Lubbock die Theorie, der Glaube an Seelen und Geister sei die Vorstellung aller ursprünglichen religiösen Vorstellungen: Der „primitive“ Mensch in einer relativ frühen menschheitsgeschichtlichen Entwicklungsstufe habe aus den Erfahrungen in seiner Umwelt abgeleitet, dass er etwas habe, das seinen Leib bei Krankheit, Traum und Schlaf zeitweilig, im Tod aber endgültig verlasse: die Seele.

Spätere Abstraktionsstufen hätten daraus Geister entwickelt, Seelen von Toten, von Tieren, Pflanzen, Gegenständen, die in relativer Selbständigkeit auf das Leben des Menschen einwirken und deren Verhalten der Mensch durch rituelle Kontaktaufnahme beeinflussen könne. Weitere Abstraktion habe daraus die Vorstellung von Göttern und schließlich von einer monistischen Gottesvorstellung hervorgebracht. Diese evolutionistische Theorie der Entstehung religiöser Vorstellungen, der zufolge der Glaube an Geister das unbedingt notwendige Durchgangsstadium aller religionsphilosophischen Entwicklungen, sozusagen ein Minimum der Religionsvorstellung, sei, wurde zwischen 1905 und 1909 mit philosophischen und psychologischen Argumenten von Wilhelm Wundt untermauert: durch Einfühlung projiziere der Mensch das eigene Ich auf die Objekte (Leib-Seele, wobei die Seelenvorstellung das Prinzip des Lebens sei).

Auch heute verstehen Vertreter der Evolutionstheorie den Animismus als Beginn der kulturellen Entwicklung der Religionen. Dieser Theorie zufolge lässt sich ein evolutionärer Pfad von animistischen Religionen bis hin zu „modernen“ monotheistischen Religionen nachzeichnen, in welchen sich noch immer mehr oder weniger stark ausgeprägte animistische Relikte, sogenannte „survivals“, nachweisen lassen. Diese Sichtweise ist jedoch umstritten. Der Ethnologe Wilhelm Schmidt stellte die Theorie auf, nach der es gerade umgekehrt ist: Am Anfang stand der Monotheismus, wie er im Judentum, Christentum und im Islam gelehrt wird. Daraus entwickelte sich ein Oligotheismus (der Glaube an die Alleinherrschaft eines Gottes unter Vielen), aus dem wiederum ein Polytheismus hervorging, der sich schließlich zu einem Animismus wandelte. In der einschlägigen Literatur ist dieser Ansatz als Degenerationshypothese bekannt.[3]

Heute wird der Begriff Animismus vielfach als Bezeichnung für ursprüngliche Naturreligionen von Jäger-Sammler-Kulturen verwendet. Die meisten Religionswissenschaftler verwenden heute den Begriff „Animismus“ zur Beschreibung eines spezifischen Glaubenssystems, weisen aber Tylors Animismustheorien zurück.

Definition

Animisten betrachten jeden auch nur all so kleinen Teil der Welt als einen beseelten Ehrfurcht gebietenden Kosmos, der der Seele der monotheistischen, mosaischen Religionen vergleichbar ist. Für sie ist die spirituelle Welt die eigentliche Realität.

Obwohl es keinen einheitlichen Animismus gibt, lassen sich doch wesentliche Merkmale aufzeigen, die bei den meisten animistischen Kulturen vorkommen. So ist dem Animismus jeder religiöse Überbau fremd. „Heilig“ im Sinne von „respektgebietend“, aber auch „respektfordernd“, ist die Natur in allen Ausprägungen. In jedem Stein, jeder Pflanze, jedem Tier und jedem Menschen, auch an jedem Ort entwickelt Lebenskraft einen eigenen Willen, der natürlichen Regeln folgt.

Im Animismus fällt besonders auf:

  • das Fehlen jeder Form von allmächtigen Göttern oder einer Idee des Göttlichen, obgleich es meist ein „höchstes Wesen“ gibt:
  • das Fehlen von Metaphysik: Es ist gerade die unmittelbare Natur, die selbst beseelt ist, und die sich durch Naturereignisse ausdrückt und auf diese Weise unmittelbar mit dem Menschen kommuniziert;
  • das Fehlen von sakralen Bauten;
  • die Existenz religiöser, aber auch alltäglicher Regeln, die unmittelbarer Naturerfahrung entspringen.

Animistische Weltbilder

In animistischen Weltanschauungen existiert der gesamte Kosmos in zwei Formen: einer materiellen Welt und einer geistartigen Welt (ähnlich dem christlichen Diesseits-Jenseits-Verständnis). Eine Unterscheidung zwischen dem Natürlichen und dem Übernatürlichen gibt es jedoch nicht, denn alles, was im Kosmos existiert und geschieht, wird als natürlich wahrgenommen. Jedes Ding existiert in zwei identischen Formen: einer sichtbaren, materiellen, und einer unsichtbaren, geistartigen Form, die sozusagen eine Doppelwelt zur materiellen Welt bildet. Während die geistartige Welt in ihrer Gesamtheit als nahezu ideal und unvergänglich gesehen wird, versteht man die materielle Welt als störanfällig und vergänglich.[4]

Die animistische Weltanschauung ist im Wesentlichen diesseitsorientiert und das daraus resultierende Verhalten hat in erster Linie die Sicherung der Existenz im Diesseits zum Ziel.[4]

Animistische Menschenbilder

Im Animismus hat der Mensch einen Körper und mindestens eine Seele, die in gewisser Unabhängigkeit vom Menschen existiert. Sie ist ein zweites Ich des Menschen in der geistigen Welt. Verlässt dieses geistige Doppel den Menschen dauerhaft, wird er krank, schwach und kann sterben. Der Mensch lebt also in zwei Welten gleichzeitig, nach dem Tod des Körpers nur noch in der jenseitigen Welt.[4]

Mana

Mana ist die Kraft der Seele und deren Wirkung.

Nahezu alle animistischen Religionen kennen das „außerordentlich Wirkungsvolle“,[5] das Vorgängen, Dingen und Wesen eigen ist. In der Ethnologie wird diese Kraft als Mana bezeichnet. Es kann sich in Menschen als Autorität, Charisma, oder Lebenskraft äußern. Mana wohnt zudem auch in Dingen und Wesen und kann genutzt werden, aber auch verloren gehen. Rituale, Kontakt zu den Ahnen und das Halten von Tabus[6] vermitteln Mana. Nahrung enthält Mana und gibt dieses an den Menschen ab, wenn er isst. Mana gibt es also nicht nur in religiösen Zusammenhängen, sondern in praktisch allen alltäglichen Begebenheiten.[4] Hier wird deutlich, wie sehr der Animismus das ganze Leben des Menschen durchzieht.

Es gibt gutes und böses Mana, je nachdem, ob es Wirkungen hat, die als nützlich oder schädlich eingestuft werden. Amulette besitzen Mana und sind dazu da, das Böse fern zu halten. Talismane besitzen ebenfalls Mana, sollen jedoch vielmehr das Gute herbei holen. Unerklärliche Vorgänge werden oft auf die Wirkung von Mana zurückgeführt (Wunder).[7]

Seelen, Ahnen und Geister

Der Mensch besteht aus einem Körper und mindestens einer Seele. Sie ist nicht an den Menschen gebunden, lebt auch nicht in ihm, sondern in seiner Nähe. Sie ist mit Emotionalität, Willen und Denkvermögen ausgestattet. (Andere Begriffe für die Seele: Traumego, Freiseele, spirituelles Doppel). Die Seelen sollen den Körper beschützen (insbesondere vor Attacken böser Geistwesen).Sie beeinflussen zudem die normalen Lebensvorgänge im menschlichen Körper.

Lebende Verwandte eines Verstorbenen sind für die Seele des Verstorbenen verantwortlich. Sie müssen sie versorgen, und – viel wichtiger – sie dürfen den Verstorbenen nicht vergessen. Denn solange an die Seele eines Verstorbenen gedacht wird ist sie in einem Zustand persönlicher Unsterblichkeit. Darum hat die Familie in animistischen Kulturen einen so hohen Stellenwert. Wenn die Verstorbenen jedoch vergessen werden, dann erlischt die persönliche Unsterblichkeit und sie werden somit zu Geistwesen, die keine Anbindung mehr an die Welt der Ahnen und somit auch nicht mehr an die Menschen haben. Wenn sie dann den Menschen erscheinen, gibt es niemanden, der sie beim Namen nennen könnte, und sie können Furcht und Schrecken verbreiten.[8]

Ahnenverehrung und Gräberkult sind sehr wichtig. Denn die Ahnen können der Gemeinschaft helfen oder sie auch strafen. Zu diesen Ahnen kommt noch eine Galerie von Geistern und Dämonen, von guten Wesen und bösen Wesen, die durch Opfer, Geruch und Riten gelockt oder vertrieben werden können. Diese Geisterwelt ist das Erklärungsmuster für viele Phänomene wie Krankheit, Missernten, Hungersnöte, Unfälle und andere Nöte. Wenn etwas derartiges geschieht, wird gefragt, wer die Geistwesen verärgert hat, wer Gesetze gebrochen hat, und damit die Ahnen gegen die Gemeinschaft aufgebracht hat.[9]

Animistische Gruppen wandeln auf den Gräbern ihrer Ahnen.[10] Eine Lösung des mystischen Bandes zur Totenwelt (etwa durch einen Umzug in eine andere Gegend oder Deportation wie im Sklavenhandel) würde Unglück über ihre Familie und das Leben der Gemeinschaft bringen.

Es gibt Geistwesen, die das Geschehen in der Welt entscheidend beeinflussen. Diese Geister sind entweder böse oder gut, je nachdem, wie man sie sich den Menschen gegenüber eingestellt denkt. Geister sind selbständige Wesen, die keine Beziehung (mehr) zu den Ahnen haben. Ahnen werden zu Geistern, wenn es niemanden mehr gibt, der den Verstorbenen kannte. Die wesentlichsten Einflüsse und Wirkungen der jenseitigen auf die diesseitige Welt haben Geistwesen, die als Ahnengeister gegen ihre lebenden Verwandtschaftsgruppen Sanktionen verhängen, wenn deren Mitglieder gegen ethische und soziale Normen verstoßen haben.

Medien und Schamanen

Grundsätzlich kann man animistische Kulturen in zwei Kategorien einteilen: solche mit Ahnenkult und solche, die keinen besonderen Ahnenkult betreiben. Fundamental anders ist die Art, wie Kulturen mit der jenseitigen Welt in Kontakt treten.

Im Animismus mit Ahnenkult (vorwiegend in Kulturen von sesshaften Bodenbauern) sind es Medien, die eine Verbindung mit der Geisterwelt herstellen. Ein Medium ist ein Vermittler zwischen einer sozialen Gruppe von lebenden Menschen, und gutartigen Geistwesen, die als Fortsetzung der Persönlichkeit von verstorbenen Mitgliedern dieser Gruppe begriffen werden. Da es eine verwandtschaftliche Beziehung zwischen den Geistwesen und der sozialen Gruppe gibt, können die Geistwesen sehr direkt um Hilfe gebeten werden. Ein Medium würde nie mit einem als bösartig eingestuften Geistwesen Kontakt aufnehmen, denn dies gilt als viel zu gefährlich. Ein Medium kann (im Gegensatz zum Schamanen) auch im Wachzustand alle Arten von Geistwesen sehen und mit ihnen sprechen. Ein Medium wird von Ahnengeistern besucht (es wird besessen). Wenn der Kontakt seitens der Menschen gesucht wird, dann wird eine „Sitzung“ arrangiert, in deren Verlauf man erwartet, dass ein gutartiges Geistwesen von dem Medium Besitz ergreift, um sich ihm mitzuteilen.[4]

Schamanen hingegen gibt es im Animismus ohne Ahnenkult, vorwiegend in nichtsesshaften Wildbeuter-Kulturen. Schamanen sind Vermittler von Wissen, von dem man voraussetzt, dass es im Jenseits vorhanden ist, und das als Handlungsanweisung in Krisensituationen aller Art dient. Dieses Wissen wird vom Schamanen über seine Hilfsgeister in Erfahrung gebracht und in seiner diesseitigen sozialen Welt umgesetzt. Der Schamane ist gleichermaßen Priester wie Arzt, und Ratgeber in allen Fragen zu Interaktionen mit Natur und Gesellschaft. Die Seele des Schamanen besucht, um an dieses Wissen zu gelangen, das Jenseits. Er gerät also in Ekstase. Einen direkten Kontakt der Menschen, denen dieses Wissen zugute kommt, mit den Geistwesen, die es zur Verfügung stellen, gibt es in animistischen Kulturen mit Schamanenkult nicht.[4]

Der wesentliche Unterschied zwischen Medium und Schamane besteht also darin, dass das Medium „besessen“ wird – ein jenseitiges Wesen „besucht“ das Medium –, während der Schamane in Ekstase gerät – seine Seele „besucht“ die jenseitige Welt.

Gottesvorstellung

Unter den gutartigen Geistwesen mit hohem Status gibt es in praktisch allen Religionsformen mit animistischer Grundstruktur eines, dessen Stellung von keinem anderen übertroffen wird. Es ist das sogenannte Höchste Wesen. Das Höchste Wesen hat die Welt geschaffen, lebte eine Zeit lang mit den Menschen zusammen, zog sich dann aber aufgrund der Verderbtheit der Menschen in den Himmel zurück. Doch ein Kontakt zu diesem höchsten Geistwesen findet nicht statt. Es wird von den Menschen zwar verehrt, man gibt sich aber nicht wirklich mit ihm ab. Man opfert ihm nicht und betet auch nicht zu ihm.[4]

In anderen Religionen

Im Kontakt mit anderen Kulturen und Religionen verbinden sich oft animistische mit anderen religiösen Glaubenssystemen zu synkretistischen Religionen. Im Islam nennt man solche Formen „Volksislam“, im Christentum sind sie insbesondere im abergläubischen „Volkskatholizismus“ zu finden. Im Buddhismus begegenen sie im „diamantenen Fahrzeug“, im Hinduismus im tantrischen Zweig.[11] Weitere Beispiele dafür sind Candomblé, die vorherrschende Religion in einigen Gebieten Brasiliens, oder der Santería auf Kuba. Hier verschmelzen katholische Heilige mit alten afrikanischen Göttern. Der japanische Shintōismus weist mit der Vielzahl seiner Göttern noch animistische Züge auf.

Einige Christen werfen dem Animismus vor, dass er die religiöse Vorstellung als eine Kategorie des individuellen Bewusstseins, d.h. von den konkreten Motiven des Stammes, der Gruppe oder der Gesellschaft ansah, dass er ferner die religiöse Vorstellung ausschließlich als Produkt des menschlichen Denkens betrachtete.

Der Animismus wurde von klerikaler Seite kritisiert, wo man in ihm einen Angriff auf den Ausschließlichkeitsanspruch der übernatürlichen christlichen Offenbarungslehre ansah. Die klerikale Kritik des Animismus formulierte zunächst vor allem Andrew Lang,[12] später besonders Wilhelm Schmidt mit seiner Theorie des Urmonotheismus,[13] die durch eine Uroffenbarung als Beginn alle religiösen Vorstellung bewiesen werden sollte.

Doch auch in der sogenannten aufgeklärten westlichen Welt finden sich animistische Spuren, die sich in Aberglauben äußern wie etwa das Vermeiden der Zahl 13 oder die Angst vor der schwarzen Katze. Fußballtrainer vergraben vor Spielbeginn Glückspfennige im Rasen und die Spieler hoffen auf die Macht von Talismanen. Das zeigt, dass animistischer Glaube weniger auf einen Mangel an Bildung zurückzuführen ist, als vielmehr auf den Wunsch, die Welt zu seinem Vorteil zu manipulieren.

In der Religionstheorie

Nach Tylor ist Animismus die früheste von Menschen entwickelte Form der Religion. Die Menschen hätten ihre frühesten Gesellschaftssysteme auf den Animismus gebaut, um zu erklären, warum die Dinge geschehen. Als Tylor dieses veröffentlichte, galt diese Theorie als politisch radikal, weil sie beanspruchte, dass Völker ohne Buchreligion tatsächlich Religion haben.

Die Hoffnung des evolutionistisch gestimmten 19. Jahrhunderts, durch die Erforschung der „Naturvölker“ zur „Urreligion“ der Menschheit vorzudringen, ist heute allerdings begraben. Die „Naturvölker“ sind keine „Urvölker“ oder Vertreter einer „Urkultur“ der Menschheit, sondern Zeitgenossen, deren Geschichte im Vergleich zu Industriegesellschaften anders verläuft. Dem Inhalt nach ist uns diese Entwicklung – mit Ausnahme der rezenten Perioden, also z.B. dem Niedergang von Indianerkulturen unter dem europäischen Einfluss – meist unbekannt, darf aber als sehr langfristiger Wandel e silentio in Rechnung gestellt werden.

Die Anfänge der Menschheit sind der Religionshistorie überhaupt verschlossen (sofern man eine Gottesoffenbarung ausschließt), sie können nur Gegenstand anthropologisch-prähistorischer Erörterungen sein, deren Aussagekraft über das religiöse Leben aber sehr begrenzt ist (Ausgrabungen, Dolmen, Felszeichnungen, Prähistorie). Demgemäß muss auch die Hypothese eines einstmals reineren Gottesglaubens der „Urvölker“ (Urmonotheismus) als eine mögliche Option, neben vielen Anderen, verstanden werden, ebenso alle älteren evolutionistischen Konstruktionen über Präanimismus, Animismus, Manismus. Auf Grund des eklatanten Mangels von jeglichen Belegen für diesen Bereich ist eine signifikante Weiterentwicklung von der Hypothese hin zu echtem, gefestigtem Wissen nicht zu erwarten.

Ethnologisch, religionshistorisch und entwicklungspsychologisch stehen die „animistischen“ Vorstellungen und Vorstellungskomplexe nicht am Anfang der Entwicklung, sondern sie sind spätere und abgeleitete Phänomene.

In der Entwicklungspsychologie

Jean Piaget übernahm den Begriff Animismus aus der Ethnologie zur Klassifizierung einer kindlichen Geisteshaltung, die sich grundlegend vom Egozentrismus ableitet. Die Übernahme ist gut begründet. Auch viele Kinder besitzen ein implizites Weltverständnis solcher Art, dass sie die Welt mit Seele, Intentionen und Bewusstsein ausgestattet sehen. Animistische Kinder nehmen an, dass alles was in der Welt geschieht, aufgrund moralischer Prinzipien geschieht. Kausal-physikalische Zusammenhänge werden zu großen Teilen ausgeblendet; nicht weil das Kind sie nicht akzeptieren will, sondern es kognitiv nicht in der Lage ist, seine psychische Identität von der Außenwelt zu trennen.

Die neuere Entwicklungspsychologie hat gezeigt, dass Beseelung bzw. Beseeltheit ein primäres Erlebnis der kindlichen Psyche ist, wohingegen die Abstraktion „toter“ Dinge von „lebendigen“ erst eine Leistung des herangewachsenen Menschen auf Grund des Lernens ist. Diese Entdeckung steht im Widerspruch zu Wilhelm Wundts psychologischer Begründung des Animismus, nicht das Kind, sondern der Erwachsene sei „Animist“.

Zur Auffassung des Präanimismus als Wirkungen der Kritik

Die Kritik des Animismus (im Sinne einer "Urreligion") durch die Philosophie, Teile der Religionswissenschaften und der Ethnographie führte zur Formulierung präanimistischer Auffassungen, also der Annahme einer magischen Kraft (bei J. Frazer, 1890), einer unpersönlichen Kraft (bei J. Hewitt, 1902), eines Glaubens des „primitiven“ Menschen an die Beseeltheit der gesamten Natur (bei Wladimir Germanowitsch Bogoras, 1904), die erst vorhanden gewesen sein müsse, um die vom Animismus skizzierte Entwicklung der religiösen Vorstellungen auszulösen und zu ermöglichen. Obwohl diese Kritik keine eigene weitergehende Antwort auf die Frage nach der Entstehung der religiösen Vorstellung gab, wurden doch dabei auch Emotionen, Affekte, unbewusste Impulse mit in die Betrachtung einbezogen, soweit sie zu Gewohnheiten und rituellen Handlungen geworden waren und obwohl ihnen erst viel später eine religiöse Deutung unterlegt wurde.

Vertreten wurde diese Auffassung vor allem von K. Preuss (1904), A. Vierkandt (1907) und R. Marett (1899), der den Begriff Präanismismus prägte, ferner von Ernst Cassirer und Rudolf Otto, der bereits 1910 die Wundtsche Version des Animismus einer prinzipiellen Kritik unterzogen hatte.

Schlussbemerkungen

Obwohl es Konsensprobleme gibt und einige Ethnologen behaupten, der Begriff Animismus sei obsolet, muss an ihm festgehalten werden. Allerdings ist das Phänomen Animismus sehr komplex und schwer mit einem einzigen Ausdruck darstellbar. Die Diskussion um den Begriff dreht sich letzten Endes um weltanschauliche Fragen. Vertreter der Evolutionstheorie sehen im Animismus eine Vorstufe der höherentwickelten Religionen. Doch wird diese Sichtweise der Komplexität des Phänomens Animismus nicht gerecht. In Ermangelung eines geeigneteren Begriffes halten viele Ethnologen, Anthroposophen, Entwicklungshelfer und auch kirchliche Mitarbeiter an der Bezeichnung fest, belegen den Begriff jedoch deutlich vielschichtiger.

Schätzungen des Sachverständigen für animistische Religionen Van Rheenen zufolge sind mindestens 40% der Weltbevölkerung animistisch geprägt.[14]

Siehe auch

Literatur

  • Mircea Eliade - (Literaturliste)
  • Sigmund Freud: Totem und Tabu; Gesammelte Werke 9; Frankfurt am Main: Fischer, 1999
  • Julian Jaynes: Der Ursprung des Bewusstseins durch den Zusammenbruch der bikameralen Psyche; Reinbek: Rowohlt, 1988; (= Der Ursprung des Bewusstseins; rororo TB (Sachbuch 9529), 1993)
  • Lothar Käser: Animismus. Eine Einführung in die begrifflichen Grundlagen des Welt- und Menschenbildes traditionaler (ethnischer) Gesellschaften für Entwicklungshelfer und kirchliche Mitarbeiter in Übersee; Bad Liebenzell: Liebenzeller Mission, 2004; ISBN 3-921113-61-X; mit dem verkürzten Untertitel Einführung in seine begrifflichen Grundlagen auch bei: Neuendettelsau: Erlanger Verlag für Mission und Okumene, 2004; ISBN 3-87214-609-2. Rezension: Thomas Schirrmacher: Lothar Käser als Vordenker zum Animismus: Eine Rezension; MBS-Texte 42; Bonn u.a.: Martin Bucer Seminar, 2005 (pdf, 699 kB)
  • Lothar Käser: Fremde Kulturen – Eine Einführung in die Ethnologie; Bad Liebenzell: Liebenzeller Mission, 1997; ISBN 3-921113-84-9
  • Bronislaw Malinowski: Magie, Wissenschaft und Religion; Reihe Conditio humana; Frankfurt/Main: Fischer, 1973; ISBN 3-10-846601-1; Fischer-TB 7335; Frankfurt/Main: Fischer, 1983; ISBN 3-596-27335-8
  • Daniel Quinn: The Story of B. An Adventure of the Mind and Spirit; Bentam 1997; ISBN 0-553-37901-1
  • Imogen Seger: Wenn die Geister wiederkehren. Weltdeutung und religiöses Bewußtsein in primitiven Kulturen; Ullstein / Piper 1984 ff.
  • Robert Badenberg: How about ‘Animism’? An Inquiry beyond Label and Legacy; in: Klaus Müller (Hrsg.): Mission als Kommunikation. Festschrift für Ursula Wiesemann zu ihrem 75.Geburtstag; Nürnberg: VTR, 2007; ISBN 978-3-937965-75-8; Bonn: VKW, 2007; ISBN 978-3-938116-33-3.
  • Ulrich Neuenhausen: Phänomen Weltreligionen; Dillenburg: Christliche Verlagsgesellschaft, 2005; ISBN 3-89436-454-8
  • Wilhelm Schmidt: Der Ursprung der Gottesidee. Eine historisch-kritische und positive Studie; Münster: Aschendorff, 1912–1955.
  • Gaily van Rheenen: Communicating Christ in Animistic Contexts; Grand Rapids: Baker Book House, 1991.

Einzelnachweise

  1. nach dem Griechisch-Deutschen Schul- und Handwörterbuch von Wilhelm Gemoll. Freyta, München 1959 (7. Aufl.), kurz Gemoll auch Atem, Odem und Lebenshauch, wobei anders als bei dem weitgehend gleichbedeutenden ψυχή nicht mehr die Aktivität zu atmen mit-, sondern nur die Luft bzw. Luftbewegung als solche gemeint gewesen zu sein scheint, obwohl beide Wörter auch zur Bezeichnung für Leben, lebendig und Lebenskraft verwendet wurden; das Herkunftwörterbuch der Deutschen Sprache (Bd. 7 des Großen Duden) gibt beim Eintrag „animieren“ auch noch an, dass ἄνεμος mit griech. ἆσθμα (âsthma) und lat. halare hauchen (wie z.B. in in-halare einhauchen, dt. „inhalieren“) sprachhistorisch in Zusammenhang stehe; über franz. animer wurde im Deutschen animieren für „anregen, ermuntern“ üblich, animalisch dagegen zur oft abfällig verwendeten Bezeichnung für „tierisch“, im Unterschied zum Engl. animals (buchstäblich Atmende oder atmende Wesen) für „Lebewesen, Tiere“
  2. Julian Jaynes; Reinbek: Rowohlt, 1993; S. 350–356; Kapitel Die Erfindung der Seele
  3. Wilhelm Schmidt: Der Ursprung der Gottesidee; Münster: Aschendorff, 1926–1955. Ulrich Neuenhausen: Phänomen Weltreligionen; 2005
  4. a b c d e f g vgl. Käser: Animismus.
  5. vgl. Käser: Animismus, S. 94
  6. Als Tabu gelten Personen und Gegenstände die als heilig oder verboten angesehen werden und nicht berührt werden dürfen. Man kann mit bestimmten Ritualen ein Tabu über eine Sache verhängen. Wer sein Feld vor Dieben schützen möchte, kann man mit Hilfe eines Rituals ein Tabu über das Feld verhängen, so dass jeder Dieb entweder erkrankt oder zu Tode kommt. An den Grenzen des Grundstücks werden dann Tabuzeichen als Warnung angebracht.
  7. vgl. Käser: Fremde Kulturen, 214ff.
  8. Mbiti, S. 33–34
  9. vgl. Käser: Fremde Kulturen, S. 217.
  10. Mbiti, S. 35.
  11. Ulrich Neuenhausen: Phänomen weltreligionen.
  12. Andrew Lang: Making of Religion; 1898
  13. Wilhelm Schmidt: Der Ursprung der Gottesidee, 12 Bände; 1912–1955
  14. Van Rheenen, S. 30

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