Kühreihen

Kühreihen

Ein Kuhreihen (auch Kühreihen) ist ein Lied, mit dem in den Schweizer Alpen und im Höheren Mittelland ursprünglich die Kühe zum Melken angelockt wurden. Der Begriff rührt von einem Verb kuoreien, zuerst in einem Volkslied von 1531 belegt. Der älteste erhaltene Kuhreihen ist rein instrumental überliefert: Der «Appenzeller Kureien Lobe lobe», der 1545 durch Georg Rhau in seiner Bicinia Gallica, Latina et Germanica zweistimmig gesetzt wurde.

Melodien und Liedtexte von vor 1800 sind aus dem Emmental, Oberhasli, Entlebuch und Simmental belegt. Im französischsprachigen Gebiet des Kantons Freiburg (Greyerz) heissen diese Lieder Ranz des vaches. Auch dort enthalten sie den Ruf Lîoba por aria! (Kühe, kommt zum Melken!) sowie aus den Namen einzelner Kühe. Das Wort Lobe für «Kuh» ist den alemannischen und romanischen Alpendialekten gemeinsam, und Richard Weiss (Volkskunde der Schweiz) vermutet vorindogermanischen Ursprung. Bis heute heissen in der Innerschweiz die Kühe d'Loobeli.

Der Arzt Johannes Hofer in seiner Beschreibung der Schweizerkrankheit von 1688 De Nostalgia vulgo Heimwehe oder Heimsehnsucht berichtet, dass Schweizer Reisläufer beim Anhören von Kuhreihen von Melancholie befallen würden und zur Desertation neigten.

Ähnlich der Zürcher Arzt Johann Scheuchzer, der um 1718 schreibt, «Dieses Übel ist am allermeisten unter denen Schweitzern gemein, und man nennt solches daher la maladie du Pais» Scheuchzer berichtet, dass die Offiziere von Schweizer Söldnern in fremden Diensten bei «ernstlicher Strafe» verboten, Kuhreihen zu spielen oder zu singen, um Ausbrüche von Heimweh und Desertion zu unterbinden.

1798 schrieb der Arzt Johann Gottfried Ebel, selbst helvetische Kühe erkrankten an Heimweh, würden ihnen in der Fremde Kuhreihen vorgetragen: «Sie werfen augenblicklich den Schwanz krumm in die Höhe, zerbrechen alle Zäune und sind wild und rasend.»

Im Anschluss an das Hirtenfest von Unspunnen vom 17. August 1805 erlebten die Kuhreihen einen populären Aufschwung mit den Publikationen von acht «Schweizer-Kühreihen» durch G. J Kühn und J. R. Wyss, die die Lieder mit allerlei romantischen und 'naivtuenden' Geschichten zum Sennenleben ausstatteten. In den Jahren 1812, 1818 und 1826 folgten erweiterte Auflagen dieser Sammlung. Die vierte und letzte Auflage war mit 76 klavierbegleiteten Nummern und luxuriösen Bildern für gebildete Touristen bestimmt.

Ein Appenzeller Kuhreihen wurde in einem Nachdruck von Hofers Dissertation (Basel 1710) auch mit Noten wiedergegeben, und dann immer wieder nachgedruckt, u. a. in Rousseaus Musiklexikon (Paris 1768), irrtümlich aber auch in einer Mollversion. Diese Fassung wurde durch Joseph Weigls Singspiel Die Schweizer Familie (Wien 1809) europaweit bekannt, und sogar Wyss druckte sie 1826 nach der Version in Weigls Singspiel ab. So wurde diese sogenannte Kuhreigen-Szene für Franz Liszt, Joachim Raff, Meyerbeer, Rossini und Richard Wagner zum Anküpfungspunkt eigener Kompositionen. In der Folge wurden auch andere Lieder dieser Sammlung in schweizerischen Heimatliedern verballhornt und dienten Komponisten zur Anregung. Sie beeinflussten das im 19. Jh. aufkommende schweizerdeutsche Jodellied.

1911 schrieb Wilhelm Kienzl seine Oper Der Kuhreigen, doch komponierte er dafür eine eigene Weise.

Tobler (1890) beschreibt den Appenzeller Löckler als besonders musikalisch: Der Senn auf der Ebenalp habe die Kühe in kürzester Zeit bei der Tränke, indem er auf die Silben hö, hä, ä ... mit dem höchsten in Bruststimme zu erreichenden Ton einsetzte, und einen chromatisch abwärts gleitenden Kettentriller, durch die Zwischenrufe Chönd wädli, wädli, wädli, wädli! («Kommt schnell!») unterbrochen, hören lasse.

Ähnliche Melodieformeln zum Anlocken von Kühen wurden u.a. von wallonischen und norwegischen Hirten verwendet.

Literatur

  • Johann Rudolf Wyss (Hrsg.): Sammlung von Schweizer-Kühreihen und Volksliedern, Bern 1818.
  • Johann Rudolf Wyss (Hrsg.): Schweizer Kühreihen und Volkslieder, Bern 1826.
  • Alfred Tobler: Kühreihen oder Kühreigen, Jodel und Jodellied in Appenzell, Leipzig und Zürich 1890.
  • August Glück: Der Kühreihen in J. Weigl’s „Schweizerfamilie“. Eine Studie, in: Vierteljahrsschrift für Musikwissenschaft 8 (1892), Leipzig 1892, S. 77-90.
  • Brigitte Bachmann-Geiser (Hrsg.): Schweizer Kühreihen und Volkslieder. J. J. Burgdorfer, Bern 1826, Zürich 1979.
  • Till Gerrit Waidelich: Das Bild der Schweiz in der österreichischen Musik des 19. Jahrhunderts. 190. Neujahrsblatt der AMG Zürich (2006), Winterthur 2005

Weblinks


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