Liniengleichnis

Liniengleichnis
Übersicht zu Platons Liniengleichnis

Das Liniengleichnis ist ein Gleichnis Platons aus seinem Werk Politeia[1] (380 v. Chr.). Im Gleichnis ordnet Platon Sichtbares und Denkbares von unsichersten Vermutungen bis zur sichersten Vernunfterkenntnis, von der abhängigen bildlichen Wahrnehmung bis zur voraussetzungslosen Ideenschau. Jeder Seinsart entspricht dabei eine Erkenntnisart. Grundlegend ist die Unterscheidung zwischen doxa, dem Meinen, und noesis, dem Denken. Über allem steht die Überwirklichkeit der Idee des Guten, in der alles Sein den Urgrund hat und die nur durch die Vernunft geschaut werden kann. Das Liniengleichnis ist das zweite der drei bekanntesten Gleichnisse Platons. Am Ende des sechsten Buches der Politeia folgt das Liniengleichnis dem Sonnengleichnis und mündet dann am Anfang des siebten Buches in das Höhlengleichnis.

Inhaltsverzeichnis

Die Aufteilung der Linie in Abschnitte

Das Gute herrscht in dem nur durch die Vernunft schaubaren Gebiet (Reich des durch die Vernunft Erkennbaren), die Sonne herrscht in der Region des Gesichts (Reich des sinnlich Sichtbaren). Wenn man nun eine in zwei ungleiche Hauptabschnitte geteilte Linie hat, dann nimmt man mit jedem der beiden Hauptabschnitte, sowohl mit dem des durchs Auge sichtbaren als auch mit dem des durch die Vernunft erkennbaren Gebietes, wiederum nach demselben Verhältnis eine abermalige Teilung vor.[2] Die Aufteilung folgt dem Grundsatz: Je deutlicher die Dinge da sind, desto wahrer ist die Erkenntnis. Und genauso gilt umgekehrt, dass je wahrer die Erkenntnis ist, desto deutlicher sind auch die Erkenntnisobjekte da.[3]

Erster Hauptabschnitt: sichtbare Welt (Wahrnehmung)

Unterabschnitt: Schatten und Spiegelbilder

Der erste Hauptabschnitt, der sich auf durch das Auge sichtbare Objekte bezieht, gliedert sich also wieder in zwei Unterabschnitte. Sie unterscheiden sich durch die Deutlichkeit. Der erste Unterabschnitt betrifft die undeutlichen Bilder. Das sind zum Beispiel Schatten oder Spiegelbilder auf Wasseroberflächen, auf allen Körpern von dichter, glatter und reflektierender Oberfläche und überhaupt auf jedem Ding dieser Eigenschaft.[4] Wahrgenommen werden hier demnach nur unbeständige optische Erscheinungen.

Unterabschnitt: sinnlich wahrnehmbare reale Objekte

Zu dem anderen Unterabschnitt, dem der sinnlich wahrnehmbaren Welt realer Objekte, gehören zum Beispiel die uns umgebende Tierwelt, das ganze Pflanzenreich und die Kulturprodukte.[5] Hier ist die Deutlichkeit des Wahrgenommenen größer als bei den Schatten und Spiegelbildern.

Zweiter Hauptabschnitt: intelligible Welt (Erkenntnis)

Im Reich des Wissens verhält sich das Meinbare zu dem durch die Vernunft Erkennbaren wie das Schattenbild zu dem sinnlich sichtbaren realen Objekt.[6]

Unterabschnitt: das Meinen (doxa)

Das Meinen kann wieder unterschieden werden in das Mutmaßen (eikasia) und das Glauben an die Sinneswahrnehmung, die zu einer ungeprüften Annahme führt (pistis). Die Seele muss von unerwiesenen Voraussetzungen ausgehend erforschen, indem sie sich dabei der zuerst geteilten Unterabschnitte wie Bilder bedient und dabei nicht nach einem Urprinzip dringt, sondern nur zu einem sich gesetzten Ziel schreitet. Die Seele ist bei dessen Erforschung genötigt, von unerwiesenen Voraussetzungen auszugehen, indem sie nicht auf den Anfang zurückgeht, weil sie über ihre Voraussetzungen nicht hinausgehen kann. Sie bedient sich dabei als Bilder nicht nur der eigentlichen Bilder von der sinnlichen Körperwelt, sondern auch jener sinnlichen Körperwelt selbst, die von den gewöhnlichen Menschen im Vergleich zu den Nachbildungen für reale Dinge gehalten werden.[7] Eikasia als unterste Erkenntnisweise richtet sich auf die Schatten, Spiegelbilder und andere optische Erscheinungen. Sie ist die Anwesenheit eines Bildes als eines solchen, die zu einer bildhaften Wahrnehmung im Abschätzungshorizont der Wahrscheinlichkeit führt. Pistis erfasst die sinnlich wahrnehmbaren Gegenstände der vergänglichen Welt als solche und hat deshalb einen etwas höheren Stellenwert. Sie bezieht sich auf das Werdende, auf die vergänglichen und deshalb nicht wahrhaft seienden Sinnendinge. Es ist die Erfahrung einer vermeintlich faktischen „Realität“, wie sie unhinterfragt von Kindern und einfachen Menschen wahrgenommen wird. Pistis ist die Anwesenheit des Seienden als des sinnlich sich Zeigenden.[8]

Unterabschnitt: das Denken (noesis)

Beim Denken ist zu unterscheiden zwischen der Verstandeserkenntnis und der Vernunfterkenntnis.

Verstandeserkenntnis (dianoia)

Die Verstandeserkenntnis richtet sich beispielsweise auf mathematische Entitäten. Diese gehören bereits zu einem nicht-sinnlichen Reich des unveränderlich Intelligiblen. Die Verstandeserkenntnis vermag aber noch nicht, zum Anfang des Ganzen vorzudringen. Sie bleibt der gegenständlichen Voraussetzung verhaftet.

Die, welche sich mit Geometrie und Arithmetik und dergleichen abgeben, setzen den Begriff von Gerade und Ungerade, von Figuren und den drei Arten von Winkeln und sonst dergleichen bei jedem Beweisverfahren voraus, als hätten sie über diese Begriffe ein Wissen, während sie diese doch nur als unerwiesene Voraussetzungen hinstellen und weder sich noch anderen davon noch Rechenschaft schuldig zu sein glauben, als verstände sie alle Welt. Von diesen angenommenen Begriffen gehen sie als von Prinzipien aus, führen dann schon das Weitere durch und kommen so endlich folgerecht an dem Ziele an, auf dessen Erforschung sie losgegangen waren. Sie bedienen sich der sinnlich sichtbaren Dinge und beziehen ihre Demonstrationen auf jene, während doch nicht auf diese als solche, als sinnlich sichtbare, ihre Gedanken zielen, sondern nur auf das, wovon jene sinnlich sichtbaren Dinge nur Schattenbilder sind. Nur wegen des Vierecks selbst und wegen seiner Diagonale machen sie ihre Demonstrationen, nicht derentwegen, die sie mit einem Instrumente auf die Tafel zeichnen, und so verfahren sie in allem übrigen. Selbst die Körper, die sie bilden und zeichnen, wovon es auch Schatten und Bilder im Gewässer gibt, ebendiese Körper gebrauchen sie weiter auch nur als Schattenbilder und suchen dadurch zur Schauung eben jener Ausführung zu gelangen, die niemand anders schauen kann als mit dem denkenden Verstand.[9]

Bei den mathematischen Fächern sind die Betrachtenden genötigt, ihren Gegenstand mit dem Verstand und nicht mit den Sinnen zu betrachten. Aber die Verstandestätigkeit lässt die von der dianoia vorausgesetzten Hypothesen auf sich beruhen, um sie als Grundlagen ihrer Untersuchung zu verwenden. Weil ihre Betrachtungsweise sie nicht aufwärts zu dem Ersten und Obersten führt, sondern sich auf bloße Voraussetzungen stützt, bringen es die mathematisch Betrachtenden nicht zu rein vernünftiger Einsicht über ihre Gegenstände, obschon auch diese einer Vernunfterkenntnis mit Einschluss des Ersten und Obersten zugänglich wären. Mathematische Verstandeserkenntnis und nicht Vernunfterkenntnis muss man das von den geometrischen und den ihnen verwandten Wissenschaften eingehaltene Verfahren nennen. Es ist etwas Mittleres zwischen bloßer Meinung und Vernunft.[10] Dianoia ist die „Anwesenheit des das Seiende gründenden Wasseins als eines solchen.“[11]

Vernunfterkenntnis (reine noesis bzw. episteme)

Die reine noesis will keine Hilfsmittel aus der sinnlichen Anschauung verwenden, sie soll und muss vom Anfang bis zum Ende mit Hilfe reiner eide (eidos: Begriff, Form, Idee) vor sich gehen.[12] Die Vernunfterkenntnis richtet sich auf die absoluten, unveränderlichen Ideen und hat den obersten Stellenwert der verschiedenen Erkenntnisweisen. Ihre Methode bezeichnet Platon als Dialektik. Demjenigen, was durch die auf das wahrhaft Seiende und Gedachte gerichtete Wissenschaft der Dialektik betrachtet wird, kommt größere Sicherheit und Deutlichkeit zu als dem von den mathematischen Fächern, also den so genannten Künsten Erkannten, denen die Voraussetzungen zugleich das Erste und Oberste sind.

Die Seele erforscht, indem sie von einer gläubigen Voraussetzung aus zu einem auf keiner Voraussetzung mehr beruhenden Anfang schreitet und ohne Hilfe von Bildern, derer sie sich bei dem ersten Unterabschnitt des Erkennbaren bedient, nur mit reinen Ideen (eide) den Weg ihrer Forschung bewerkstelligt. Das durch die Vernunft Erkennbare ist das, was die Vernunft durch die Macht der Dialektik erfasst. Dabei gibt sie ihre Hypothesen und Voraussetzungen nicht als Erstes und Oberstes aus, sondern als eigentliche Voraussetzungen, gleichsam nur als Einschritts- und Anlaufpunkte, die wie Impulse oder Sprossen einer Leiter zu etwas höher Liegendem aufwärts treiben, damit sie zu dem auf keiner Voraussetzung mehr beruhenden Anfang des Ganzen, dem Unbedingten gelangt. Wenn sie diesen Ur-Grund erfasst hat, hält sie sich an alles, was mit ihm in Zusammenhang steht, steigt wieder herab, ohne das sinnlich Wahrnehmbare dabei zu verwenden, sondern nur die Ideen selbst nach ihrem Zusammenhang, und mit Ideen schließt sie auch ab.[13] Diese Erkenntnisart ist der eigentliche und reine Logos. Er erfasst aufsteigend das höchste Prinzip, das Unbedingte, und steigt dann ohne die Hilfe sinnlicher Anschauung stufenweise von Ideen zu Ideen herab (vgl. Ideenlehre). Die von allen sinnlichen Abbildern losgelöste Dialektik steigt zu dem absoluten Einen empor und ist dadurch wieder fähig, alles übrige aus ihm abgeleitet zu begreifen.[14] Die Ideen werden nicht wie in der dianoia als Grund des Seienden sondern rein erkannt: In der noesis ist die Idee an ihr selbst.[15]

Die Verhältnisstruktur

Das mit dem Liniengleichnis aufgezeigte strukturelle Verhältnis von doxa und noesis wird am Ende des siebten Buches der Politeia zusammenfassend dargestellt:

Es genügt also, fuhr ich fort, den ersten und obersten Abschnitt des Erkennens episteme (Vernunfterkenntnis) zu nennen, den zweiten dianoia (Verstandeseinsicht), den dritten pistis (Glauben an die Sinneswahrnehmung), den vierten eikasia (Vermutung, Anschein von Wahrheit), und einerseits die beiden letzten zusammen doxa (Meinung), andererseits die ersten zusammen noesis (Denken, geistiges Erfassen); dabei bezieht sich doxa auf das wandelbare Werden, noesis auf das unwandelbare Sein (ousia). Und so wie sich Sein zum Werden verhält, so noesis zu doxa; und wie sich noesis zu doxa verhält, so verhalten sich episteme zu pistis und dianoia zu eikasia.[16]

Literatur

  • Walter Hirsch: Platons Weg zum Mythos. De Gruyter, Berlin 1971, ISBN 3-11-002413-6, (Zugleich: Köln, Univ., Hab.-Schr., 1967).
  • Werner Jaeger: Paideia. Die Formung des griechischen Menschen. 2. ungekürzter photomechanischer Nachdruck in einem Band. De Gruyter, Berlin u. a. 1989, ISBN 3-11-003800-5
  • Egil A. Wyller: Der späte Platon. Tübinger Vorlesungen 1965. Meiner, Hamburg 1970.

Anmerkungen

  1. Platon, Politeia, 509 ff.
  2. Platon, Politeia, sechstes Buch, 509 d; Übersetzung von Wilhelm Wiegand bei Opera Platonis
  3. Egil A. Wyller, Der späte Platon, S. 19
  4. Platon, Politeia, sechstes Buch, 510a
  5. Platon, Politeia, sechstes Buch, 510a
  6. Platon, Politeia, sechstes Buch, 510 St.
  7. Platon, Politeia, sechstes Buch, 509 St.
  8. Walter Hirsch, Platons Weg zum Mythos, S. 144
  9. Platon, Politeia, sechstes Buch, 510 St.
  10. Platon, Politeia, sechstes Buch, 511 St.
  11. Walter Hirsch, Platons Weg zum Mythos, S. 144
  12. Egil A. Wyller, Der späte Platon, S. 20
  13. Platon, Politeia, sechstes Buch, 511a ff.
  14. Vgl. Jaeger, Paideia, S. 890
  15. Walter Hirsch, Platons Weg zum Mythos, S. 144
  16. Platon, Politeia, siebtes Buch, 534a: „kai doxan men peri genesin, noêsin de peri ousian: kai hoti ousia pros genesin, noêsin pros doxan, kai hoti noêsis pros doxan, epistêmên pros pistin kai dianoian pros eikasian“.

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