Liquidator

Liquidator
Der Blutstropfen auf der Medaille der Liquidatoren, eine Würdigung ihrer Arbeit

Liquidator (russisch: ликвида́тор, manchmal mit „Abwickler“ oder „Beseitiger“ eingedeutscht) ist die Bezeichnung für einen während und nach der Katastrophe von Tschernobyl an der Eindämmung des Unglücks Beschäftigten, um die radioaktive Strahlung zu „liquidieren“.[1]

Inhaltsverzeichnis

Begriff und Tätigkeitsbereiche

Im engeren Sinn werden als Liquidatoren die Beschäftigten bezeichnet, die vom Dach des benachbarten Reaktorblocks 3 stark strahlenden Schutt und Graphitblöcke entfernen mussten, die vom Druck der Explosion des Blocks 4 dorthin geschleudert worden waren.[2] Sie ersetzten die hierfür zuerst verwendeten, aber wegen der Strahlung versagenden deutschen und japanischen Roboter[3] und wurden auch als „Bioroboter“[4] bezeichnet. Der als „Tschernobyl-Fotograf“ bekannt gewordene Igor Kostin, der nach eigenen Angaben selbst fünfmal bei ihnen anwesend war, erklärte später dazu: „Sie durften wegen der hohen Strahlung nur für 40 Sekunden aufs Dach, warfen eine Schaufel Schutt hinunter und kamen wieder zurückgerannt. Sie bekamen eine Urkunde und 100 Rubel und wurden weggeschickt.“[3]

Doch nicht nur die hierbei Beschäftigten gehören zum Tätigkeitsbereich, sondern, „beginnend von den unmittelbaren Schutzversuchen am havarierten Reaktor bis zur Evakuierung der Bevölkerung und dem Waschen von Städten“,[5] im weiteren Sinn auch:

  • das unmittelbar während und nach der Katastrophe im Reaktor diensttuende Personal, etwa der Versuchsleiter Anatoli Djatlow,
  • die etwa 40 Feuerwehrleute, die zu den ersten gerufenen Hilfskräften zählten,
  • eine etwa 300 Personen starke Brigade des Zivilschutzes aus Kiew, die die kontaminierte Erde abtrug,
  • das medizinische Personal,
  • verschiedene Arbeiter sowie Angehörige des Militärs, die die Reinigungs-[6] und Planierarbeiten auf dem Kraftwerksgelände und in dessen verstrahlter Umgebung ausführten,
  • die Bauarbeiter, die den Sarkophag über dem explodierten Reaktor 4 errichteten,
  • Angehörige der Truppen und der Polizei, die den Zugang zu dem Komplex und zur Sperrzone kontrollierten und den Verkehr regelten,[7]
  • Transportarbeiter wie etwa Bus- und Lastwagenfahrer,
  • eine Gruppe von Bergarbeitern, die mit einem Tunnelbau das Eindringen von kontaminiertem (Lösch-) Wasser in das Grundwasser und damit das Zusammentreffen des Löschwassers mit dem schmelzenden Reaktorkern verhinderten, was zu einer noch größeren Katastrophe geführt hätte,[8][1]
  • Jäger, die verstrahlte Tiere erlegten, damit sie die Helfer nicht kontaminierten,
Ein Hubschrauber des Typs Mil Mi-26 der Luftstreitkräfte der Sowjetunion versprüht nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl Bindemittel.
  • der Hubschrauberpilot Nikolai Melnik, der Sensoren zur Strahlungsmessung auf der Ruine platzierte und immer wieder die Radioaktivität über dem Reaktor kontrollierte,[9] und die etwa 600 Hubschrauberpiloten, die tonnenweise Sand, Blei, das Mineral Dolomit und das Halbmetall Bor über dem zerstörten Block abwarfen[10] bzw. ein klebriges Bindemittel, ein Kunstharz auf Polymerbasis, das man „Burda“ (russisch бурда für „Gebräu, Brühe“) nannte[11], um den havarierten Reaktor versprühten. Letztere Maßnahme sollte verhindern, dass radioaktiver Staub verweht wird.

E. Cardis et al. von der Internationalen Agentur für Krebsforschung (IARC) spezifizierten die Liquidatoren in einem Vortrag anlässlich der von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) veranstalteten Konferenz „One Decade After Chernobyl: Summing up the consequences of the Accident“ vom 8. bis 12. April 2006 in Wien folgendermaßen: „The ‘liquidators’ (also referred to as cleanup or recovery workers): they include persons who participated in the cleanup after the accident (cleaning up the plant and its surroundings, construction of the sarcophagus, decontamination, building of roads, destruction and burial of contaminated buildings, forests and equipment), as well as many others, including physicians, teachers, cooks and interpreters who worked in the ‘contaminated’ territories.“[12]

Sie wurden, abgesehen vom bereits vor Ort befindlichen Personal, von der Regierung der damaligen Sowjetunion zunächst aus der Weißrussischen, der Ukrainischen und der Russischen Sowjetrepublik sowie später aus dem gesamten Staatsgebiet zusammengezogen und waren überwiegend junge Soldaten und Reservisten, aber auch zwangsverpflichtete Arbeiter.[10] Auch Freiwillige sollen sich gemeldet haben.

Gesundheitliche Aspekte

Denkmal für die Liquidatoren in Charkiw

Nach Angaben der WHO gab es 600.000 bis 800.000 Liquidatoren. Die Soldaten auf dem Dach waren hohen, die Feuerwehrleute und die Hubschrauberpiloten sogar extrem hohen Strahlendosen ausgesetzt. Bis 1996 waren in den genannten Staaten 200.000 Liquidatoren registriert, zuletzt rund 400.000. Rund die Hälfte von ihnen war im Einsatz, ohne dass sie dafür Belege erhielten.[13] Der von der WHO im Auftrag der IAEO vorgelegte Bericht berücksichtigt die 200.000 Liquidatoren, die in den Jahren 1986 und 1987 im Einsatz waren. Die darüber hinausgehend Registrierten finden keine Berücksichtigung.[14] Zu beachten ist jedoch, dass die IAEO die WHO durch das Abkommen WHA 12-40 zwischen WHO und IAEO[15] daran hinderte, „gesundheitliche Informationen über Tschernobyl zu veröffentlichen.“[16] So ist zu erklären, weshalb nach den offiziellen Zahlen der WHO noch 2005 von weniger als 50 unmittelbaren Todesopfern die Rede war („fewer than 50 deaths had been directly attributed to radiation from the disaster“).[17] Diese Zahl wird jedoch nicht nur von der deutschen Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) und der Gesellschaft für Strahlenschutz (GS) angezweifelt.[18] Edmund Lengfelder, Professor für Strahlenbiologie und Leiter des Otto-Hug-Strahleninstituts in München, schätzt die Gesamtzahl der bisher gestorbenen Liquidatoren auf 50.000.[19]

Nach Angaben der Regierungen der betroffenen heutigen Staaten Russland, Weißrussland und der Ukraine liegen auch von den registrierten Liquidatoren nicht immer vollständige Daten vor. Die Datensätze der registrierten russischen Liquidatoren enthalten in 63 % der Fälle Angaben über die Strahlendosis, die der ukrainischen in 56 % und die der weißrussischen Liquidatoren nur in 9 % der Fälle. Bekannt ist aus der Ukraine die Zahl von 17.000 Familien von Liquidatoren, die eine (geringe) staatliche Rente erhalten. Viele der noch lebenden ehemaligen Liquidatoren leiden noch heute unter der Strahlenkrankheit und müssen sich regelmäßig ärztlich untersuchen lassen.

Nach der Verfügung U-2617 C vom 27. Juni 1986 aus der III. Hauptverwaltung des Gesundheitsministeriums der Sowjetunion über die Erhöhung der Geheimhaltungsmaßnahmen für Liquidationsarbeiten am Kernkraftwerk Tschernobyl:

„Für geheim erklärt sind die Daten über die Havarie, für geheim erklärt sind die Ergebnisse über die Heilung der Krankheiten, für geheim erklärt sind die Daten über das Ausmaß radioaktiver Bestrahlung von Personal, das bei der Liquidation der Havarie des Atomkraftwerks Tschernobyl teilgenommen hat.“

gez. Schulschenko: [20]

Nach weiteren Regierungsanordnungen durften akute und chronische Erkrankungen von Personen, die an der Liquidation teilgenommen hatten, nicht in einen Zusammenhang mit der Wirkung ionisierender Strahlen gebracht werden, wenn diese eine Dosis von weniger als 500 Millisievert erhalten hatten.[21] Unter dieser Maßgabe sind auch in Hiroshima und Nagasaki nur vergleichsweise wenige Strahlenopfer feststellbar. Dort wurde die Strahlenbelastung einer andauernd geringen Dosierung noch Jahrzehnte nach den Atombombenabwürfen unterschätzt. Laut Edmund Lengfelder, der von einer Zahl von „800.000 zumeist junge[n] Soldaten“ ausgeht, erhielten diese jedoch eine Strahlendosis mit „Werte[n] bis 15.000 Millisievert.“[5][22] Zudem wurde beschlossen, die zulässigen Strahlenwerte um das 40- bis 50-Fache zu erhöhen: „Dadurch wurden die meisten Menschen für gesund erklärt und ohne jegliche Behandlung aus den Krankenhäusern entlassen.“[23]

Weblinks

Einzelnachweise

  1. a b „Die Wahre Geschichte von Tschernobyl (5/10)“, YouTube, zuletzt abgerufen am 20. März 2011
  2. „Die Wahre Geschichte von Tschernobyl (6/10)“ und „Die Wahre Geschichte von Tschernobyl (7/10)“, YouTube, zuletzt abgerufen am 20. März 2011
  3. a b Buchtipp zur Sendung Kulturjournal: „Der Tschernobyl-Fotograf“, NDR, 14. März 2011, zuletzt abgerufen am 21. März 2011
  4. „Liquidators of Chernobyl“, YouTube mit Dokumentaraufnahmen des Senders UK Horizons, zuletzt abgerufen am 18. März 2011 (englisch und russisch mit englischen Untertiteln)
  5. a b Interview mit Strahlenbiologe Lengfelder: „Nie wieder Sushi“, Frankfurter Rundschau, 21. März 2011, S. 8 – 9, zuletzt abgerufen am 16. Mai 2011
  6. Anatoli Michailowitsch Ligun in defacto, hr-fernsehen vom 20. März 2011. Er kleidete mit einer Einheit die verseuchten Gebäude mit Blei aus, damit Arbeiter darin mit Bürsten, Eimern und Schaufeln sauber machen konnten. Laut Lengfelder sind zudem junge Männer „durch die Orte gezogen, haben Häuser abgewaschen, Farbe abgekratzt und Putz abgeklopft in der Hoffnung, die Städte und Dörfer wieder bewohnbar zu machen.“
  7. Leonid Khorz in Kulturjournal: „Leben nach dem GAU“, NDR, 21. März 2011
  8. „Tschernobyl: Anatomie einer Katastrophe, S. 5“ STERN.de, 26. April 2006, zuletzt abgerufen am 29. Oktober 2011
  9. „Former Chernobyl Pilot Soars Above His Obstacles“, St. Petersburg Times vom 31. Mai 2005, zuletzt abgerufen am 21. März 2011 (englisch)
  10. a b „Tschernobyl: Anatomie einer Katastrophe, S. 3“ STERN.de, 26. April 2006, zuletzt abgerufen am 29. Oktober 2011
  11. Влад Шурыгин (Wlad Shurigin): Чернобыль. История ликвидации. Редкие фотокадры. (Tschernobyl. Die Geschichte der Liquidation. Seltene Schnappschüsse.). 26. April 2011, abgerufen am 29. Oktober 2011 (russisch): „После эвакуации населения из поселка Припять ликвидаторы смывают радиоактивную пыль с улиц, деревьев и домов. Жидкость, которой поливали всю зараженную местность, называли «бурда». (deutsch: „Nach der Evakuierung der Stadt Pripjat waschen Liquidatoren radioaktiven Staub von den Straßen, Bäumen und Häusern. Die Flüssigkeit, die über dem gesamten befallenen Gebiet vergossen wurde, nannte man ‚Burda‘.“)“
  12. E. Cardis et al.: Estimated Long Term Health Effects of the Chernobyl Accident, 1996, S. 3, zuletzt abgerufen am 31. März 2011 (PDF, 8,76 MB, englisch)
  13. WHO: Health Effects of the Chernobyl Accident and Special Health Care Programs, 2006, zuletzt abgerufen am 25. März 2000 (PDF, 1,58 MB, englisch)
  14. Bundesamt für Strahlenschutz: Tschernobyl – 20 Jahre danach, 2. Auflage 2009, zuletzt abgerufen am 25. März 2011 (PDF, 1,71 MB)
  15. „Das Abkommen WHA 12-40 zwischen WHO und IAEO“ auf Independent WHO/OMS Indépendante, zuletzt abgerufen am 1. Juli 2011 (deutsch)
  16. Burkhard Homeyer: „‚Die Kinder von Tschernobyl‘ und die Herausforderung zum Frieden“, FriedensForum – Zeitschrift der Friedensbewegung, 2/2011, S. 27. Er behauptet weiter: „Belarus ist die erste Diktatur nach Tschernobyl in Europa und sorgt so dafür, dass keinerlei Informationen über ‚Tschernobyl‘ mehr zugänglich sind. Es folgt der ‚Internationalen Atomenergiebehörde‘, die schon 1959 durch einen Knebelvertrag die Weltgesundheitsorganisation daran hinderte, gesundheitliche Informationen über Tschernobyl zu veröffentlichen. Die WHO verfügt über erhebliches Material zu Tschernobyl, darf aber nichts weitergeben. Publikationen mussten eingestampft, Kongresse abgesagt werden. Ähnliches trifft für alles zu, was in irgendeiner Weise mit den Folgen atomarer Verstrahlung zu tun hat.“
  17. WHO: „Chernobyl: the true scale of the accident“, 5. September 2005, zuletzt abgerufen am 31. März 2011 (englisch)
  18. Deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Gesellschaft für Strahlenschutz e. V.: Gesundheitliche Folgen von Tschernobyl, 2006, S. 10 (PDF, 473 KB)
  19. Ully Günther, Bündnis 90/Die Grünen/gruene-thueringen.de: „20 Jahre danach“, zuletzt abgerufen am 25. März 2011
  20. Zit. in: E. Lengfelder: Die Bedeutung modifizierender Faktoren für die Erhebung, Bewertung und Verbreitung von Untersuchungsergebnissen über die Folgen der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl. Otto-Hug-Strahleninstitut, Bericht Nr. 5, 1992, S. 3 – 21
  21. Siehe dazu auch „Wir töten euch ganz leise“, Gespräch mit dem Kernphysiker Wladimir Tschernosenko, SPIEGEL-Online vom 27. Januar 1992, zuletzt abgerufen am 19. April 2011
  22. Siehe dazu auch die Grafik Strahlungswerte in Millisievert (mSv) im Verglich, SPIEGEL-Online, zuletzt abgerufen am 16. Mai 2011
  23. Deutsche Welle: „Tschernobyl-Katastrophe: Ausmaß jahrelang geheim gehalten“, 20. April 2006, zuletzt abgerufen am 10. April 2011

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