Antigenerbsünde

Antigenerbsünde

Die Antigenerbsünde (englisch: original antigenic sin) bezeichnet ein Phänomen der antiviralen Immunantwort. Kommen Individuen, die zuvor schon einmal mit einer Virusvariante infiziert wurden, mit einer zweiten Variante dieses Virus in Kontakt, so besteht eine starke Tendenz des Immunsystems, Antikörper nur gegen solche Epitope zu bilden, die schon auf der ursprünglichen Variante des Virus vorhanden waren.

Inhaltsverzeichnis

Beispiel

Infiziert sich beispielsweise ein zweijähriges Kind erstmals mit einem Influenza-Virus, wird sein Immunsystem versuchen, Antikörper gegen alle Epitope der Virusproteine, insbesondere Antigene der Virusoberfläche, zu erzeugen. Infiziert sich dieselbe Person Jahre oder sogar Jahrzehnte später erneut mit einer Variante des Influenza-Virus, so wird die Immunantwort präferenziell gegen diejenigen Epitope gerichtet sein, welche in beiden Virusvarianten vorkommen. Dagegen werden neue Epitope, selbst wenn diese hochimmunogen sind, wenn überhaupt eine sehr viel schwächere Antikörper-Reaktion hervorrufen.[1]

Physiologische Grundlagen

Auf zellulärer Ebene spielt sich – nach heutigem Kenntnisstand – folgendes Szenario ab: Während einer Primärinfektion gehen aus bestimmten aktivierten B-Zellen langlebige Gedächtniszellen, auch Memoryzellen genannt, hervor, die im Körper zum Schutz vor nachfolgenden Infektionen verbleiben – das sogenannte „immunologische Gedächtnis“. Diese Gedächtniszellen sprechen auf bestimmte Epitope viraler Proteine an und produzieren gegen diese Antigen-spezifische Antikörper.

Es ist nun möglich, dass die immunitätsbildenden Oberflächenstrukturen, die Antigene, bestimmter Viren, beispielsweise Influenza- oder HI-Viren, in der Zeit zwischen einer Primärinfektion und einer nachfolgenden sekundären Infektion Veränderungen erfahren, eine sogenannte Antigendrift. Wenn dies geschieht, kann das veränderte Virus weiterhin Epitope aufweisen, die in der Lage sind Gedächtnis-B-Zellen zu aktivieren und eine Antikörperproduktion hervorzurufen.

Die von diesen B-Lymphozyten produzierten Antikörper werden aber mit hoher Wahrscheinlichkeit an die veränderten, mutierten Epitope des neuen Virus mit sehr viel geringerer Effizienz, mit geringerer Affinität binden. Zudem scheinen die schon vorhandenen, gegen das initiale Virus gerichteten Antikörper die Immunantworten naiver B-Zellen, die eine Spezifität für die auf Virusvarianten vorhandenen neuen Epitope haben, zu unterdrücken – was die eigentliche Antigenerbsünde ist.

Man nimmt an, dass diese naiven B-Zellen aktiv in ihrer Entfaltung gehemmt werden, sodass keine Antikörper gegen die neuen Determinanten gebildet werden können. Dies kann in Folge zu einer Abschwächung der Immunantwort und einer langwierigeren Krankheitsphase führen, da eine möglicherweise effektivere Antwort (gegen neue Epitope) unterbleibt.

Dennoch kann dieses Reaktionsmuster sinnvoll und nützlich sein, da Gedächtnis-B-Zellen als Teil des immunologischen Gedächtnisses sehr viel schneller und effizienter auf die erneute virale Attacke reagieren können als naive B-Zellen, die im Gegensatz zu den unverzüglich ansprechenden Gedächtniszellen erst nach einigen Tagen ausreichende Mengen an Antikörper zur Verfügung stellen können. Darüber hinaus steigt bei wiederholtem Kontakt mit einem bekannten Antigen sowohl die Affinität, als auch die Menge der Antikörper an. Dies liegt daran, dass die DNA der B-Zellen nach der Primärantwort der sogenannten somatischen Hypermutation unterliegt, bevor die Zellen zu antikörperbildenden Plasmazellen werden. Weiterhin findet eine Selektion durch Antigene in den Keimzentren statt.

Die Antigenerbsünde kommt nur dann nicht zum Tragen, wenn eine zuvor infizierte Person einer neuen Virusvariante ausgesetzt ist, der sämtliche Epitope des ursprünglichen (Influenza-)Virus fehlen. Es existieren keine bereits vorhandenen Antikörper, die an das Virus binden könnten, sodass nun die naiven B-Zellen reagieren können.

Neue Erkenntnisse

Bei jährlichen Auffrischimpfungen mit einem aktuellen Virusstamm konnte gezeigt werden, dass die induzierten Influenza-Virus-spezifischen Antikörper die stärkste Affinität zu dem im Impfstoff enthaltenen Virusstamm haben und nicht etwa zur ursprünglichen Variante des Virus, wie es im Falle des Wirkens der Antigenerbsünde zu erwarten wäre. Daraus wird geschlossen, dass die Antigenerbsünde bei normalen gesunden Erwachsenen, die eine Influenzavakzinierung erhalten, kein übliches Phänomen ist.[2]

Anwendung in der Diagnostik

Das Phänomen der Antigenerbsünde kann in bestimmten Fällen von Nutzen für die serologische Diagnostik von Virusinfektionen sein.

Literatur & Quellenangaben

Einzelnachweise

  1. Charles A. Janeway Jr. et al.: Immunological memory
  2. Wrammert et al. (2008): Rapid cloning of high-affinity human monoclonal antibodies against influenza virus. In: Nature Bd. 453(7195), S. 667-71. PMID 18449194

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