Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei

Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei

Das Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei wurde am 30. Oktober 1961 in Bad Godesberg unterzeichnet und führte, trotz gegenteiliger vertraglicher Ausgestaltung (Befristung der Aufenthaltsdauer auf maximal zwei Jahre, sogenanntes Rotationsprinzip), zum Beginn einer türkischen Einwanderung in die Bundesrepublik Deutschland. Die angeworbenen Arbeiter wurden in Deutschland als Gastarbeiter bezeichnet.

Ähnliche Anwerbeabkommen schloss die Bundesrepublik Deutschland auch mit anderen Staaten: Griechenland, Italien, Jugoslawien, Marokko, Portugal, Spanien und Tunesien.

Inhaltsverzeichnis

Motivation

Im Herbst 1961 schlossen die Bundesrepublik Deutschland und die Türkische Republik ein Abkommen zur zeitlich begrenzten Anwerbung von Arbeitskräften ab.[1] Die Initiative zum Abschluss dieses Abkommens ging hierbei von der Türkei aus. Durch die Geldüberweisungen der Gastarbeiter in die Türkei sollte das Handelsbilanzdefizit der Türkei im Handel mit Deutschland durch Überschüsse in der Übertragungsbilanz kompensiert werden, um die türkische Leistungsbilanz der Bundesrepublik Deutschland gegenüber auszugleichen. Die türkische Regierung nahm hierbei Bezug auf einen ähnliches 1955 zwischen Deutschland und Italien geschlossenes Anwerbeabkommen (Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Italien), welchem die gleiche Motivation zugrund lag.[2] Neben der Verbesserung der türkischen Handelsbilanz gegenüber der Bundesrepublik Deutschland erhoffte sich die Türkei, auch durch die Rückkehr der in Deutschland mit moderneren Produktionstechniken vertraut gewordenen Arbeitskräften im Rahmen des vereinbarten zweijährigen Rotationsprinzipes, eine Effizienzsteigerung der eigenen Industrie (Know-How-Transfer).[3]

Zunächst reagierte die Bundesregierung zurückhaltend auf das Angebot. Arbeitsminister Theodor Blank lehnte das Angebot zunächst ab. Da er die kulturell-religiöse Distanz und mögliche aus dieser resultierende Konflikte als zu groß einschätzte, des Weiteren bestünde zunächst auch kein Bedarf an türkischen Arbeitskräften da das Potenzial an deutschen Arbeitslosen aus strukturschwachen Regionen noch nicht hinreichend ausgeschöpft sei. Aufgrund des außenpolitischen Drucks der USA, welche nach der geostrategisch motivierten Aufnahme der Türkei in die Nato dieses Land ökonomisch stabilisieren wollte, übernahm das bundesdeutsche Außenministerium, im Gegensatz zum ursprünglich zuständigen Arbeitsministerium die Verhandlungsführung mit der türkischen Republik. Bei Abschluss des Abkommens standen die außenpolitischen Ziele der Nato, sowie die innenpolitischen und wirtschaftlichen Ziele der Türkei im Vordergrund. Insbesondere erhoffte sich die Türkei einen Rückgang der hohen türkischen Arbeitslosenzahlen, welche durch ein dauerhaft über dem Wirtschaftswachstum liegendes Bevölkerungswachstum verursacht waren.[4]

Aufgrund der Vertragsbedingungen, insbesondere des vereinbarten zweijährigen Rotationsprinzips, gab es keine Überlegungen oder gar Planungen hinsichtlich einer dauerhaften Ansiedlung der türkischen Zuwanderer, denn dies war in den Vertragsbedingungen explizit nicht vorgesehen.[5]

Inhalt

Das Anwerbeabkommen mit der Türkei enthielt von Anfang an im Gegensatz zu den Anwerbeabkommen mit den westlichen Ländern einige Besonderheiten (die später auch für die Abkommen mit Tunesien und Marokko übernommen wurden):[6]

  • eine Anwerbung war ausschließlich für Unverheiratete vorgesehen,
  • ein Familiennachzug bzw. die Familienzusammenführung wurde im Abkommen explizit ausgeschlossen,
  • eine Gesundheitsprüfung und eine Eignungsuntersuchung für die anzunehmende Arbeit,
  • eine Obergrenze für den Aufenthalt von 2 Jahren wurde festgeschrieben, eine Verlängerung ausgeschlossen,
  • die Arbeitnehmer sollten nur aus den europäischen Gebieten der Türkei stammen.

Am 30. September 1964 trat eine Neufassung des Abkommens in Kraft.

Folgen

Da vertragsgemäß lediglich ein maximal zweijähriger Arbeitsaufenthalt der türkischen Arbeitskräfte vorgesehen war (Rotationsprinzip), gab es folgerichtig auch keine Überlegungen oder gar Planungen hinsichtlich einer dauerhaften Ansiedlung der türkischen Zuwanderer. Von einigen Spezialisten, wie etwa hochqualifizierten türkischen Fachärzten abgesehen, übernahmen die meist geringqualifizierten türkischen Arbeitsmigranten häufig Stellen, für die sich beim gegebenen geringen Lohnniveau nur sehr wenige deutschen Arbeitskräfte bewarben. Häufig waren dies Arbeitsplätze in Branchen, welche sich durch den Strukturwandel zu einer starken Senkung der Arbeitskosten gezwungen sahen (z.B. in der Leder- und Textilindustrie). Der Strukturwandel in diesen Branchen wurde mithilfe dieser kostengünstigen Arbeitskräfte zeitlich etwas hinausgeschoben. Durch die Verfügbarkeit kostengünstiger Arbeitskräfte unterblieb jedoch eine wirtschaftlich-technologische Effizienzsteigerung, welche eine längerfristige Bewältigung des Strukturwandels ermöglicht hätte und viele dieser Unternehmen überlebten die schwere wirtschaftliche Rezession Anfang der 1970er Jahre nicht. Andere überlebten die Strukturkrise durch eine Verlagerung der Arbeitsplätze ins kostengünstigere Ausland. Insbesondere die deutsche Textilindustrie verlegte viele besonders arbeitsintensive Produktionseinrichtungen nach Jugoslawien und Nordafrika.[7]

Die wirtschaftliche Rezession der Jahre 1966/67 ließ die Anwerbung neuer türkischer Arbeitskräfte zurückgehen. Die Ölkrise und die aus ihr folgende schwere wirtschaftliche Rezession führte am 23. November 1973 zum von der Bundesregierung beschlossenen generellen bzw. totalen Anwerbestopp, der sämtliche Anwerbeländer betraf. Zum Zeitpunkt des totalen Anwerbestopps 1973 befanden sich - nach 12 Jahren Anwerbeabkommen - ca. 500.000 bis 750.000 Türken in Deutschland.

Siehe auch

Weblinks

Belege

  1. Vgl. Aytaç Eryilmaz, Cordula Lissner (Hg.): Geteilte Heimat. 50 Jahre Migration aus der Türkei. Klartext Verlag, Essen 2011, ISBN 978-3-8375-0640-2
  2. Martin Kröger: Initiative der Entsendeländer. In: FAZ.net vom 23. Juni 2008 FAZ-Archiv (Rezension des Buchs „Diplomatische Tauschgeschäfte“ von Heike Knortz.)
  3. Gerling, Vera: Soziale Dienste für zugewanderte Senioren/innen: Erfahrungen aus Deutschland, ISBN 9783831128037, S.78.
  4. Heike Knortz: Diplomatische Tauschgeschäfte. "Gastarbeiter" in der westdeutschen Diplomatie und Beschäftigungspolitik 1953-1973. Böhlau Verlag, Köln 2008.
  5. Gerling, Vera: Soziale Dienste für zugewanderte Senioren/innen: Erfahrungen aus Deutschland, ISBN 9783831128037, S.78.
  6. Davy, Ulrike (Hg.): "Die Integration von Einwandern, rechtliche Regelungen im europäischen Vergleich", S. 340ff
  7. Heike Knortz: Diplomatische Tauschgeschäfte. "Gastarbeiter" in der westdeutschen Diplomatie und Beschäftigungspolitik 1953-1973. Böhlau Verlag, Köln 2008.

Wikimedia Foundation.

Игры ⚽ Поможем написать реферат

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Tunesien — Das Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tunesischen Republik wurde 1965 unterzeichnet und führte, trotz gegenteiliger vertraglicher Ausgestaltung (Befristung der Aufenthaltsdauer auf maximal zwei Jahre, sogenanntes… …   Deutsch Wikipedia

  • Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Marokko — Das Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Marokko wurde 1963 unterzeichnet und führte, trotz gegenteiliger vertraglicher Ausgestaltung (Befristung der Aufenthaltsdauer auf maximal zwei Jahre, sogenanntes… …   Deutsch Wikipedia

  • Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Griechenland — Das Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Griechenland wurde am 30. März 1960 unterzeichnet und führte zum Beginn einer griechischen Einwanderung in die Bundesrepublik Deutschland. Die angeworbenen Arbeiter wurden in… …   Deutsch Wikipedia

  • Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Italien — Italienische Gastarbeiter von Volkswagen in Wolfsburg, 1973 Die Vereinbarung über die Anwerbung und Vermittlung von italienischen Arbeitskräften nach der Bundesrepublik Deutschland war ein Anwerbeabkommen vom 20. Dezember 1955, welches die prakti …   Deutsch Wikipedia

  • Anwerbeabkommen der Bundesrepublik Deutschland mit der Türkei — Das Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei begründete 1961 die türkische Einwanderung in die Bundesrepublik Deutschland. Das Abkommen wurde am 31. Oktober 1961 von der Bundesrepublik Deutschland und der Türkischen… …   Deutsch Wikipedia

  • Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland — Staaten, in denen Deutschland eine Botschaft betreibt (blau) Die Bundesrepublik Deutschland verfolgt außenpolitisch Interessen und Ziele, die sich von geografischen, historischen, kulturellen und weltpolitischen Gegebenheiten ableiten. In den… …   Deutsch Wikipedia

  • Anwerbeabkommen — Die folgenden Abwerbeabkommen wurden zwischen der Bundesrepublik Deutschland und anderen Staaten geschlossen: Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Italien (1955) Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und… …   Deutsch Wikipedia

  • Verein türkischer Arbeitnehmer in Köln und Umgebung — Der Verein türkischer Arbeitnehmer in Köln und Umgebung war die erste türkische Arbeitnehmerorganisation in Deutschland. Er wurde 1962, wenige Monate nach der Unterzeichnung des Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der… …   Deutsch Wikipedia

  • Türkeistämmige in Deutschland — Türken in Berlin Türkeistämmige in Deutschland sind Menschen mit deutscher oder türkischer Staatsbürgerschaft, die in Deutschland leben und die selbst oder deren Vorfahren früher dauerhaft in der Türkei lebten oder türkische Staatsbürger waren.… …   Deutsch Wikipedia

  • Islam in Deutschland — Die Şehitlik Moschee in Berlin wird hauptsächlich von türkischstämmigen Muslimen besucht Der Islam ist in Deutschland nach dem Christentum die Glaubensrichtung mit den zweitmeisten Anhängern; derzeit bekennen sich etwa 5 % der Bevölkerung zu …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”