Aphorismus

Aphorismus

Ein Aphorismus ist ein philosophischer Gedankensplitter, der üblicherweise als kurzer, rhetorisch reizvoller Sinnspruch (Sentenz, Aperçu, Bonmot) formuliert und als Einzeltext konzipiert wurde. Sogenannte geflügelte Worte und pointierte Zitate gelten aus literaturwissenschaftlicher Sicht nicht als Aphorismen.

Erst seit dem frühen 20. Jahrhundert werden Aphorismen als eigenständige Prosagattung anerkannt und erforscht. Sie gelten als widersprüchliche Textform:

  • In der Tendenz eher nichtfiktional, sind sie sowohl der Literatur als auch der Philosophie zuzuordnen.
  • Die Tragweite ihrer Aussage kontrastiert mit ihrer Lakonik. Oft bestehen sie aus nur einem – mitunter elliptischen – Satz, können aber durchaus mehrere Sätze umfassen. Eine klar definierte „Obergrenze“ wird von Literaturwissenschaftlern mehrheitlich abgelehnt. Der Übergang zum „großen Bruder des Aphorismus“, dem Essay, ist fließend.
  • Typischerweise formulieren Aphorismen einen geistreichen, betont subjektiven Gedanken. Beispielsweise enthalten sie ein originelles Werturteil, eine persönliche Erkenntnis oder Lebensweisheit, erheben aber schon durch ihre bevorzugten Sujets (Moral, Philosophie, Psychologie, Ästhetik, Politik, Sprache u. a.) den Anspruch auf Allgemeingültigkeit.
  • Durch ihre Kürze wirken sie auf manche Leser apodiktisch. Demgegenüber steht die häufig (selbst)ironische und paradoxe Form der aphoristischen Aussage. Manche Aphorismen kommen dem spontanen Widerspruch ihrer Rezipienten zuvor, indem sie ihn zum Thema machen (Selbstreferenz).

Inhaltsverzeichnis

Begriffsherkunft

Das Wort „Aphorismus“ stammt aus dem Griechischen. aphorismόs kann folgende Bedeutungen haben:

  • Abgrenzung, Definition
  • medizinischer Lehrsatz
  • Sentenz als Weisheitsspruch
  • kurzer prägnanter Stil.

Das zugehörige Verb ἀφορίζειν, aph-orίzein, „genau bestimmen, abgrenzen“, lässt sich vom Wort ὅρος, hóros, „Begrenzung, Bedingung“ ableiten, wovon das deutsche Wort Horizont kommt.

Geschichtliche Entwicklung

Der erste Aphoristiker war Hippokrates, der in aphoristischer Form medizinische Lehrsätze aufstellte. Die literarisch-philosophische Gattung entwickelte sich erst später. Zu ihren Meistern gehören vor allem die französischen Moralisten des 17. und 18. Jahrhunderts, u. a. La Rochefoucauld, La Bruyère, Joubert, Vauvenargues sowie der Spanier Gracián. Eine lange Tradition hat der Aphorismus im deutschen Sprachraum. Auf Lichtenberg (Sudelbücher) im 18. Jahrhundert folgen u.a. Goethe, Jean Paul, Friedrich Schlegel, Novalis, Schopenhauer, Nietzsche, Kraus, Adorno, Canetti, Cioran und Benyoëtz, Franz Kafka. In Polen sind zu nennen: Lec, Irzykowski und Nowaczyński. Weitere bekannte Aphoristiker sind Wilde, Shaw und Valéry.

Aphoristiker über Aphorismen

  • Marie von Ebner-Eschenbach (1830–1916): Ein Aphorismus ist der letzte Ring einer langen Gedankenkette. (eröffnet den Band Aphorismen, 1880)
  • Ambrose Bierce (1842–1914): Aphorismus, m. Vorverdaute Weisheit. (Original: „Predigested wisdom“, aus The Devil's Dictionary, 1911)
  • Friedrich Nietzsche (1844–1900): Ein Aphorismus, rechtschaffen geprägt und ausgegossen, ist damit, dass er abgelesen ist, noch nicht „entziffert“; vielmehr hat nun dessen Auslegung zu beginnen, zu der es einer Kunst der Auslegung bedarf. (aus der Vorrede zu Die Genealogie der Moral, 1887)
  • Robert Musil (1880–1942): Aphorismus: das kleinste mögliche Ganze.
  • Theodor Fontane (1819–1898): Ein guter Aphorismus ist die Weisheit eines ganzen Buches in einem einzigen Satz.
  • Hans Kudszus (1901–1977): Jeder Aphorismus ist das Amen einer Erfahrung. (eröffnet den Band Jaworte, Neinworte. Aphorismen. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1970.)
  • Elias Canetti (1905–1994): Die großen Aphoristiker lesen sich so, als ob sie einander gut gekannt hätten. (Aufzeichnungen 1942-1948. Hanser, München 1965.)
  • Helmut Arntzen (* 1931): Im Aphorismus ist der Gedanke nicht zu Hause, sondern auf dem Sprung. (Kurzer Prozess. Nymphenburger, München 1966.)
  • Elazar Benyoëtz (* 1937): Ein Aphoristiker sagt so viel, wie sich denken lässt, und nicht mehr, als man sich ausmalen kann. (Der Mensch besteht von Fall zu Fall. Reclam, Leipzig 2002, S. 82.)
  • Klaus von Welser (* 1942): Der Systematiker führt seine Gedanken aus, der Aphoristiker führt sie heim. (Neuere Studien zur Aphoristik und Essayistik. Hrsg. v. G. Cantarutti. Peter Lang, Frankfurt am Main 1986, S. 31.)
  • Jacques Wirion (* 1944): Nur scheinbar kommt der Aphorismus denen entgegen, die keine Zeit haben. (Sporen. Esch/Sauer, Op der Lay 2005, S. 54)
  • Alfred Grünewald (1884–1942): Als ich erkannte, daß man sich den Leuten nicht gut ohne Gebrauchsanweisung verschreiben kann, entschloß ich mich zum Aphorismus. (Alfred Grünewald, Ergebnisse, Hürth bei Köln, Ed. Memoria, 1996, S.38.)
  • Karl Kraus (1874–1936): Ein Aphorismus braucht nicht wahr zu sein, aber er soll die Wahrheit überflügeln. Er muß mit einem Satz über sie hinauskommen. (Karl Kraus, Werke Bd. 3, ed. H. Fischer, S. 326.)
  • Karl Kraus: Der Aphorismus deckt sich nie mit der Wahrheit; er ist entweder eine halbe Wahrheit oder anderthalb. - Karl Kraus, Fackel 270/271 32; Sprüche und Widersprüche
  • Elazar Benyoëtz: "Aphorismus — ein Wort in Sinn getaucht. Elazar Benyoëtz, Treffpunkt Scheideweg.

Aphoristikertreffen

Seit 2004 findet in Hattingen an der Ruhr alle zwei Jahre ein deutschsprachiges, inzwischen internationales Aphoristikertreffen statt, zuletzt vom 4. bis 6. November 2010. Veranstalter dieses Forums sind der Förderverein Deutsches Aphorismus-Archiv Hattingen e.V. (DAphA) und das Stadtmuseum Hattingen.

Aphoristische Stilmittel

Alle Beispielaphorismen stammen von Stanisław Jerzy Lec.

Berühmte Aphoristiker

Hauptartikel: Liste der Aphoristiker

Anthologien

  • Karl Dedecius: Bedenke, bevor du denkst. 2222 Aphorismen, Sentenzen und Gedankensplitter der letzten hundert Jahre. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1984. ISBN 3-518-38920-3 (polnische Aphoristiker)
  • Gerhard Fieguth: Deutsche Aphorismen. Reclam, Stuttgart 1994 (durchgesehene und bibliographisch ergänzte Ausgabe). ISBN 3-15-059889-3
  • Harald Fricke; Urs Meyer: Abgerissene Einfälle. Deutsche Aphorismen des 18. Jahrhunderts. C. H. Beck, München 1998. ISBN 3-406-43669-2
  • Tobias Grüterich; Alexander Eilers; Eva Annabelle Blume: Neue deutsche Aphorismen. Eine Anthologie. Edition Azur, Dresden 2010. ISBN 978-3-9812804-4-9
  • Ulrich Horstmann: English Aphorisms. Reclam, Stuttgart 1993. ISBN 3-15-009296-5 (englische Originaltexte, mit Übersetzungshinweisen)
  • Fritz Schalk: Französische Moralisten. Diogenes, Zürich u. a. 1995. ISBN 3-257-22791-4
  • Friedemann Spicker: Aphorismen der Weltliteratur. Reclam, Stuttgart 1999. ISBN 3-15-058017-X
  • Klaus von Welser: Deutsche Aphorismen. Piper, München 1988. ISBN 3-492-10815-6
  • Friedemann Spicker: Es lebt der Mensch, solang er irrt. Reclam, Stuttgart 2010. ISBN 978-3-15-010741-6

Literatur

  • Stephan Fedler: Der Aphorismus. Begriffsspiel zwischen Philosophie und Poesie. Metzler, Stuttgart 1992. ISBN 3-476-45014-7
  • Harald Fricke: Aphorismus. Metzler, Stuttgart 1984. ISBN 3-476-10208-4
  • Werner Helmich: Der moderne französische Aphorismus. Innovation und Gattungsreflexion. Tübingen 1991. ISBN 3484-55009-0
  • Heinz Krüger: Über den Aphorismus als philosophische Form. Dissertation. edition text + kritik, München 1988. ISBN 3-88377-301-8
  • Gerhard Neumann: Der Aphorismus. Zur Geschichte, zu den Formen und Möglichkeiten einer literarischen Gattung. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1976. ISBN 3-534-05731-7
  • Friedemann Spicker: Der Aphorismus. Begriff und Gattung von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis 1912. De Gruyter, Berlin/New York 1997. ISBN 3-11-015137-5
  • Friedemann Spicker: Studien zum deutschen Aphorismus im 20. Jahrhundert. Niemeyer, Tübingen 2000. ISBN 3-484-35079-2
  • Friedemann Spicker: Der deutsche Aphorismus im 20. Jahrhundert. Spiel, Bild, Erkenntnis. Niemeyer, Tübingen 2004. ISBN 3-484-10859-2
  • Thomas Stölzel: Rohe und polierte Gedanken. Studien zur Wirkungsweise aphoristischer Texte. Dissertation. Rombach, Freiburg im Breisgau 1998., ISBN 3-7930-9185-6
  • Klaus von Welser: Die Sprache des Aphorismus. Formen impliziter Argumentation von Lichtenberg bis zur Gegenwart. Peter Lang, Frankfurt am Main 1986. ISBN 3-8204-9170-8
  • Friedemann Spicker: Die Welt ist voller Sprüche. Große Aphoristiker im Porträt. Brockmeyer, Bochum 2010. ISBN 978-3-8196-0767-7
  • Friedemann Spicker: Kurze Geschichte des deutschen Aphorismus. Francke, Tübingen 2007. ISBN 978-3-7720-8247-4

Weblinks

 Wikiquote: Aphorismus – Zitate
Wiktionary Wiktionary: Aphorismus – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
Wikiversity Wikiversity: Schopenhauer Aphorismen zur Lebensweisheit – Kursmaterialien, Forschungsprojekte und wissenschaftlicher Austausch

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