Mitteltönige Stimmung

Mitteltönige Stimmung

Unter mitteltönigen Stimmungen versteht man eine Reihe von Stimmungen (Temperaturen), die in der Renaissance, im Barock, und vielfach auch in späterer Zeit (bis in das 19. Jahrhundert) hauptsächlich für Tasteninstrumente gebräuchlich waren. [1] Die mitteltönige Stimmung mit ihren vielen reinen Terzen verwirklicht fast vollkommen die reine Stimmung für Tasteninstrumente - allerdings nur für eine begrenzte Zahl von Tonarten.

Wie bei der reinen Stimmung ist die Verwendung der charakteristischen reinen großen Terzen (mit dem Frequenzverhältnis \tfrac{5}{4}) grundlegend, für die die reinen Quinten der pythagoreischen Stimmung leicht verengt werden.[2] C-Dur ist tonales Zentrum, um das herum in der strengen Mitteltönigkeit acht reine Terzen (auf E, A, D, G, C, F, B und Es) angesiedelt werden. Die reine Terz gleicht das syntonische Komma (Frequenzverhältnis: \tfrac{80}{81}) dadurch aus, dass vier aufeinander folgende Quinten um je \tfrac{1}{4} syntonisches Komma erniedrigt werden. Bei der reinen Stimmung wird die große Terz (\tfrac{5}{4}) aufgeteilt in einen großen Ganzton (\tfrac{9}{8}) und einen kleinen Ganzton (\tfrac{10}{9}) (mit rationalen Frequenzverhältnissen), bei der mitteltönigen Stimmung – daher der Name – jedoch in zwei gleich große Ganztöne mit dem irrationalen Frequenzverhältnis \sqrt{5/4}.[3]

Um die Wolfsquinte zu vermindern oder zu vermeiden wurde die strenge Mitteltönigkeit in vielen Versuchen modifiziert, wobei aber gleichzeitig die reinen Terzen erhöht (geschärft) werden.

Inhaltsverzeichnis

Aufbau

Prinzip der \tfrac{1}{4}-Komma-mitteltönigen Stimmung: elf leicht temperierte Quinten ergeben acht reine Terzen

Bei der mitteltönigen Stimmung werden elf Quinten des Quintenzirkels jeweils um so viel vermindert, dass die sich aus vier dieser Quinten ergebenden großen Terzen rein oder annähernd rein werden. Bei der gebräuchlichsten und am häufigsten beschriebenen Variante ist die große Terz rein. Die vier Quinten werden daher um je \tfrac{1}{4} des syntonischen Kommas verkleinert. Mit anderen Worten: Verkleinert man die 11 Quinten um \tfrac{1}{4} des syntonischen Komma, so werden die benutzbaren Terzen exakt rein. Die so entstandene Stimmung ist die \tfrac{1}{4}-(syntonisches)-Komma-mitteltönige Stimmung.

Intervall cd de ef fg ga ah hc
rein
(in Cent)
\tfrac{9}{8}
204
\tfrac{10}{9}
182
\tfrac{15}{16}
112
\tfrac{9}{8}
204
\tfrac{10}{9}
182
\tfrac{9}{8}
204
\tfrac{15}{16}
112
mitteltönig
(in Cent)
193 193 117 193 193 193 117
gleichstufig
(in Cent)
200 200 100 200 200 200 100
Wie hier die C-DurTonleiter sind auch die Tonleitern in B-, F-, G-, D- und A-Dur aufgebaut.


Hinweis: Reine Intervalle sind durch ganzzahlige Frequenzverhältnisse charakterisiert, temperierte Intervalle haben dagegen meist ein irrationales Frequenzverhältnis. Deshalb erfolgt der Größenvergleich mit der Einheit Cent.

Beispiel: In der reinen Stimmung ist die reine Terz aufgeteilt in einen großen und einen kleinen Ganzton, bei der mitteltönigen Stimmung hingegen in zwei gleich große Ganztöne.

rein: \frac {9}{8} \cdot \frac {10}{9} = \frac {5}{4}. In Cent: 204 Cent + 182 Cent = 386 Cent = reine Terz.
mitteltönig: \sqrt\frac {5}{4} \cdot \sqrt\frac {5}{4} = \frac {5}{4} . In Cent: 193 Cent + 193 Cent = 386 Cent = reine Terz.
gleichstufig: \sqrt[12]4 \cdot \sqrt[12]4 = \sqrt[12]16. In Cent: 200 Cent + 200 Cent = 400 Cent = gleichstufig temperierte Terz.


In den angegeben Tonarten erhalten wir wegen der reinen Terzen in Tonika, Subdominante und Dominante eine auffallend gute Klangqualität, die jedoch dadurch getrübt wird, dass in anderen Tonleitern unbrauchbare Intervalle entstehen. Die zwölfte „Quinte“, die den Quintenzirkel abschließt, ist in Wahrheit eine verminderte Sexte (in der Regel Gis-Es), die stark von der reinen Quinte abweicht, und in der Regel musikalisch unbrauchbar ist. Sie wird häufig Wolfsquinte genannt. Vier vermeintlich große Terzen, deren Quintenkette die Wolfsquinte enthält, sind verminderte Quarten (Cis-F, Fis-B, Gis-C, H-Es), die ebenfalls in der Regel nicht als große Terzen gebraucht werden können.[4] Es bleiben daher acht reine große Terzen.


Quinten und Terzen in der \tfrac{1}{4}-Komma-mitteltönigen Stimmung. Zum Vergleich: reine große Terz=386 Cent (Frequenzverhältnis \tfrac{5}{4}), reine Quinte=702 Cent (Frequenzverhältnis \tfrac{3}{2}).
Dreiklang c-e-g cis-f-gis(!) d-fis-a es-g-b e-gis-h f-a-c fis-b-cis(!) g-h-d gis-c-es(!) a-cis-e b-d-f h-es-fis(!) c-e-g
Große Terz in Cent \tfrac{5}{4}
386

427
\tfrac{5}{4}
386
\tfrac{5}{4}
386
\tfrac{5}{4}
386
\tfrac{5}{4}
386

427
\tfrac{5}{4}
386

427
\tfrac{5}{4}
386
\tfrac{5}{4}
386

427
\tfrac{5}{4}
386
Quinte in Cent 697 697 697 697 697 697 697 697 738
(Wolfsquinte)
697 697 697 697

Die mit (!) gekennzeichneten Intervalle sind nur in der enharmonischen Verwechslung Terzen und Quinten und man sieht, dass nur die folgenden Dreiklänge spielbar sind:

Es-Dur, B-Dur, F-Dur, C-Dur, G-Dur, D-Dur, A-Dur und E-dur sowie c-Moll, g-Moll, d-Moll, a-Moll, e-Moll, h-Moll, fis-Moll und cis-moll.

Diese Akkorde, wurden in der Lasso-Palestrina-Lechner-Cavelieri-Zeit (um 1600) voll ausgeschöpft, aber ganz selten zum Beispiel der As-Dur- oder der f-Moll-Dreiklang.

Um den As-Dur-Dreiklang spielen zu können, bräuchte man neben der Taste für Gis eine Taste für As 41 Cent höher; um den H-Dur-Dreiklang spielen zu können, bräuchte man neben der Taste für Es eine Taste für Dis 41 Cent tiefer u.s.w.

Siehe unter dem Stichwort Cent (Musik) die Tabellen der Quinten und Terzen in der mitteltönigen, wohltemperierten, gleichstufigen und pythagoreischen Stimmung.

Kadenz F-Dur (fast rein) und As-Dur (mit „Wolf“ und „falschen“ Terzen)

Kadenz F-Dur (fast rein) und As-Dur (mit „Wolf“ und „falschen“ Terzen)

Anhören?/i

Um weitere Tonarten spielbar zu machen wurden - auf Kosten der reinen Terz - wohltemperierte Stimmungen entwickelt, die in letzter Konsequenz zur gleichstufigen Stimmung unserer Tasteninstrumente führte.

Andere bekannte, jedoch geschichtlich in der Stimmpraxis nur selten bis kaum nachzuweisende mitteltönige Stimmungen sind die \tfrac{1}{6}-, \tfrac{1}{5}-, \tfrac{2}{7}-, und \tfrac{1}{3}-Komma-mitteltönige Stimmung, bei denen die 11 Quinten um den entsprechenden Bruchteil des syntonischen Kommas verkleinert werden. Die Verminderung des Missklangs der Wolfsquinte führt jedoch gleichzeitig zu einer Verminderung der Reinheit der „guten“ großen Terzen.

Spricht man gemeinhin von mitteltöniger Stimmung, so ist meistens die \tfrac{1}{4}-Komma-mitteltönige Stimmung gemeint. Nur bei ihr sind die großen Terzen exakt rein. Die \tfrac{1}{4}-Komma-mitteltönige Stimmung lässt sich relativ leicht realisieren, wenn man lernt, die vier temperierten Quinten genau zu stimmen. Die anderen Töne ergeben sich dann über das Einstimmen reiner großer Terzen.

Die reine große Terz ist charakteristisch für die mitteltönige Stimmung

Die mitteltönige Stimmung mit ihren vielen reinen Terzen nähert die reine Stimmung mit lauter reinen Terzen in Kadenzen am besten an.

→ Hauptartikel: Die große Terz in der reinen Stimmung.

Kleiner und großer Halbton

→ Hauptartikel: kleiner und großer Halbton in der reinen Stimmung

Die diatonischen und chromatischen Halbtöne in der \tfrac{1}{4}-Komma-mitteltönigen Stimmung

Wie bei der reinen Stimmung unterscheidet man bei der mitteltönigen Stimmung zwischen diatonischen, großen Halbton mit 117,108 Cent), und dem chromatischen, kleinen Halbton mit 76,049 Cent. Tabelle für \tfrac{1}{4}-mitteltönig:

Intervall c-cis cis-d d-es es-e e-f f-fis fis-g g-gis gis-a a-b b-h h-c
in Cent 76 117 117 76 117 76 117 76 117 117 76 117

Hier gilt auch die Regel des Weißenburger Kantors Maternus Beringer (1610):[5]

Halbtöne auf derselben Linie im Notensystem (die chromatischen) sind als kleiner Halbton (semitus minor) zu intonieren. Halbtöne auf benachbarten Linien (die diatonischen) aber als großer Halbton (semitonus major).

Für die musikalische Praxis ist der Wechsel von großen und kleinen Halbtönen in der mitteltönigen Stimmung folgenreich. So hat der Einsatz von chromatischen Abschnitten mit unterschiedlichen Halbtonschritten eine expressive Wirkung.

Intervalltabelle

Siehe: Intervalle der \tfrac{1}{4}-Komma mitteltönigen Stimmung

Geschichte

Italienisches Cembalo mit „gebrochenen Obertasten“, das ohne Umstimmen ein Spielen in mehreren Tonarten (jeweils mitteltönig temperiert) ermöglicht

Während die große (pythagoreische) Terz im Mittelalter meist als Dissonanz wahrgenommen wurde, bildete sie (als reines Intervall) ab der Renaissance eine wichtige Konsonanz. Auch wenn man vereinzelte Quellen des 15. und frühen 16. Jahrhunderts bereits als praktische Beschreibung der mitteltönigen Stimmung ansehen kann, wurde sie erstmals 1571 durch Gioseffino Zarlino korrekt und eindeutig beschrieben. Im deutschen Sprachraum war es Michael Praetorius, der sie 1619 in seiner „Organographia“ (Syntagma Musicum, Bd. 2) als gängige Praxis beschrieb und drei Arten angab, wie man sie praktisch legen konnte (neben einer nicht bedeutsamen Modifikation, die jedoch keine Tonart zusätzlich ermöglicht). Aufgrund Praetorius’ Beschreibung wurde die mitteltönige Stimmung bis ins 18. Jahrhundert gern als „Praetorianisch“ bezeichnet. Im Orgelbau wurde sie in Deutschland bis weit in das 18. Jahrhundert als Standardstimmung verwendet – in einzelnen Regionen noch darüber hinaus –, weshalb in Orgelbauverträgen und Prüfungsberichten (Abnahmeberichten) die Stimmung nicht bezeichnet zu werden brauchte. In Norddeutschland ist die mitteltönige Stimmung zum Beispiel für sämtliche Orgeln Hamburgs 1729 in gedruckten Quellen belegt, und auch die von Arp Schnitger neu erbaute Orgel des Bremer Doms stand noch bis zur Umstimmung 1775-6 in der mitteltönigen Stimmung. Neuere Forschungen haben auch wieder plausibel gemacht, dass die Orgeln, die Dieterich Buxtehude in Lübeck zur Verfügung standen, in dieser Standardtemperierung standen. Es gibt im übrigen keinerlei Äußerungen Buxtehudes zu Stimmungsfragen – sein Widmungsgedicht für Andreas Werckmeisters Harmonologia Musica, 1702, einer Kontrapunkt- und Improvisationslehre, nimmt auch nicht auf Stimmungsfragen Bezug und kann nicht als Unterstützung Werckmeisterscher Stimmungsentwürfe gedeutet werden.

Die Wolfsquinte und die vier verminderten Quarten wurden im 17. und 18. Jahrhundert als völlig unbrauchbar angesehen. Vermutungen aus jüngerer Zeit, dass diese kompositorisch eingesetzt wurden (also etwa H-Es-Fis als vermeintliches H-Dur, F-Gis-C als vermeintliches f-Moll, etc.), werden jedoch durch Äußerungen der Quellen des 17. und 18. Jahrhunderts regelmäßig widerlegt. [6]

Rekonstruktion des „Cembalo universale“

Um den Tonartenvorrat der gewöhnlichen mitteltönigen Stimmung zu erweitern, wurden an Stätten professioneller Musikpflege in Westeuropa zwischen ca. 1450 und 1700 nicht selten Tasteninstrumente mit zusätzlichen Obertasten (Subsemitonien, engl. split keys) ausgestattet. Solche Instrumente sind verwandt mit den sog. enharmonischen Instrumenten. Bekannt sind Instrumente mit bis zu vier Subsemitonien. Die Entwicklung begann offenbar in Italien und gewann schnell eine gewisse Verbreitung. Nördlich der Alpen war es erst Gottfried Fritzsche, der in Deutschland 1612 die erste Orgel mit Subsemitonien baute (in der kurfürstlichen Schlosskapelle, Dresden). Praetorius beschreibt ein „Cembalo universale“ („Cimbalo cromatico“), das über 19 Töne pro Oktave verfügt: Neben den fünf geteilten Obertasten gibt es zusätzliche schmale Obertasten für das Eis und His.[7]

Auf besaiteten Tasteninstrumenten setzten sich seit Ende des 17. Jahrhunderts langsam aber zunehmend wohltemperierte Stimmungen durch, auch praktische Annäherungen an die gleichstufige Stimmung, d. h. solche Stimmungen, die den Gebrauch aller Tonarten zuließen. Die wohltemperierten Stimmungen waren nicht die heute auf elektronischen Instrumenten und meist auf Klavieren zu hörende gleichstufige Stimmung, sondern solche, bei denen die einzelnen Tonarten mal mehr, mal weniger „gespannt“ klangen (Tonartencharakteristik, die auch im 18. Jahrhundert als subjektives Moment verstanden wurde). Lange konnte man nur vermuten, dass Bach bei der Transposition älterer Werke(!) und teilweisen Neukomposition von Präludien und Fugen der beiden Bände des „Wohltemperirten Claviers“ an die damals noch ganz neuen ungleichstufigen wohltemperierten Stimmungen gedacht hat, auch wenn die gleichstufige Stimmung, praktisch gelegt in seiner späteren Lebensphase nicht auszuschließen ist. Zu beachten ist auch, dass Friedrich Suppig 1722 in einem Manuskript beschrieb, dass alle Claviere in Dresden mitteltönig gestimmt seien – im gleichen Jahr, als Bach den ersten Band des Wohltemperirten Claviers zusammenstellte und mit dem datierten Titelblatt versah. Nach einer neuen, aber noch umstrittenen Deutung um das Jahr 2000 kann die Girlande auf dem Titelblatt zum Wohltemperierten Clavier als Stimmungsanweisung interpretiert werden.

Die Geschichte der mitteltönigen Stimmung ist zwar in ihren theoretischen Verästelungen recht gut bekannt. Jedoch ist die praktische Anwendung, Verbreitung und der offenbar vielfach erst viel später als bisher angenommen erfolgende Übergang zu neueren Stimmungen (oft direkt zu Annäherungen an die gleichstufige Stimmung) in vielen Regionen erst in Ansätzen erforscht, da man allzu oft annahm, dass sich theoretische Stimmungsentwürfe alsbald auch in der Praxis durchsetzten. Wie jedoch Werckmeister und andere, die neue Stimmungen entwarfen, beklagten, folgten die Orgelbauer ihren Entwürfen nicht und blieben noch lange bei der mitteltönigen Stimmpraxis.

Die mitteltönige Stimmung stellte die günstigste Annäherung an das Netz reiner Quinten und reiner Terzen der reinen Stimmung dar. Für die Begleitung von vokaler, instrumentaler und gemischt vokal-instrumentaler Musik bot sie lange Zeit die beste Voraussetzung. Außerdem waren im Gottesdienst Choräle und deren Vorspiele in Kirchentonarten mit Leichtigkeit mitteltönig zu begleiten. Es gab aus der kirchenmusikalischen Praxis heraus lange Zeit keinen Bedarf für eine Welle von Umstimmungen. Gewisse Probleme in der Begleitung von Ensembles ergaben sich jedoch durch die Existenz verschiedener Stimmtonhöhenstandards: In Deutschland etwa standen Orgeln um 1700 gemeinhin im (gemeinen) Chorton (a' = ca. 465 Hz) oder gelegentlich im Hohen Chorton (a' = ca. 495 Hz), während die meisten Instrumente und Sänger im Kammerton (a' = ca. 415 Hz) musizierten. Vom Organisten war hier gefordert zu transponieren, wobei sich leicht ergab, dass die Grenzen der Mitteltönigkeit erreicht oder auch überschritten wurden. Solange dies nicht ständig geschah, konnte der Begleiter „Wolfs“-Töne auslassen, vielleicht umspielen oder mit einer Verzierung versehen (wodurch jedoch der Ton auch hervorgehoben werden kann), auch durch geeignete Registerwahl den hässlichen Ton verdecken. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts war die musikalische Entwicklung der Ensemblemusik so weit fortgeschritten, dass die mitteltönige Stimmung vielfach nicht mehr als geeignet erschien. Hier setzte nun die Entwicklung neuer Stimmungen ein. Sie entsprang also nicht aus Forderungen, in solistischen Werken für Tasteninstrumente „entfernte“ Tonarten zu verwenden.

Aus dieser Erkenntnis ergeben sich Konsequenzen für die Sicht auf vermeintliches Orgelrepertoire, das in mitteltönig nicht-spielbaren Tonarten stand (d. h. Gebrauch von Akkorden machte, die in der mitteltönigen Stimmung nicht verfügbar waren). So waren z. B. weder die Tonumfänge noch die Stimmungen der meisten Orgeln zu Bachs Zeit geeignet für seine „Clavir-Uebung“, 3. Teil, die damit an einem angenommenen Markt für Aufführungsmaterial „vorbeigeschrieben“ wurde. Es muss andere Erklärungen für die Entstehung und den Zweck solcher Musik geben, z. B. Spiel auf besaiteten Pedal-Instrumenten (Pedal-Cembalo, Pedal-Clavichord), pädagogische Grundlagen für komplex kontrapunktische Improvisation etc. Diese Problematik zeigt, dass die Frage der Temperatur, nicht nur der mitteltönigen, zentrale Bedeutung für die Aufführungspraxis hat.

Stimmpraxis

Die Frequenz der Schwebungen bei mitteltönig temperierten Quinten beträgt knapp 1% der Frequenz des Grundtons. Bild und Ton mit Grundton von 278 Hz?/i

Die alten Orgelbauer haben ihre Instrumente ohne Stimmgerät gestimmt. Als physikalische Geräte standen ihnen nur das Monocord und das Pendel sowie ihr eigener Pulsschlag zur Verfügung.

Reine Quinten, Oktaven und Terzen konnte man ohne Weiteres einstimmen. Die Quinten in der \tfrac{1}{4}-mitteltönigen Stimmung mussten jedoch um \tfrac{1}{4} Komma enger gelegt werden. Dafür gab es Anweisungen für die Beobachtung von Schwebungen. Dabei musste man jedoch beachten, dass die Anzahl der Schwebungen pro Zeiteinheit um so größer ist, je höher die Quinten liegen. Nach dem Temperieren von vier etwas engeren Quinten konnte man die Stimmung durch eine reine Terz überprüfen. Die weiteren Töne ließen sich durch reine Terzen leicht stimmen. Hatte man beispielsweise C-G, G-D, D-A und A-E temperiert, konnten die weiteren Töne durch reine Terzen erzielt werden: D-Fis, Es-G, E-Gis, F-A, G-H, A-Cis und B-D. Waren alle zwölf Töne innerhalb einer Oktave gestimmt, vervollständigte man das gesamte Tonspektrum des Instruments durch reine Oktaven.

Beispiel mit den ersten vier mitteltönigen Quinten und der dazugehörigen Terz
Vier \tfrac{1}{4} mitteltönige Quinten und eine reine Terz (a'=465 Hz)

A-Dur-Kadenz

Anhören?/i
Beachte die verschieden schnellen Schwebungen in den Quinten. Keine Schwebung bei der reinen Terz.
Man „hört“ hier: Die Temperierung der Quinten ist so gering, dass sie nicht als Missklang empfunden wird. Jede Quinte hat bei der mitteltönigen Stimmung einen anderen „Farbton“. Im Dreiklang (mit der reinen Terz) hat so jede (spielbare) Tonart ihren eigenen Charakter.

Berechnungen der Schwebungen

Intervall
(siehe Noten)
Frequenzen Schwebungen
pro Sekunde
(Hz)
Schwebungen
in 8 Sekunden
gerundet
c'g' 278,13     415,91 2.59 21
gd' 207,95     310,96 1,93 15
d'a' 310,96     465 2,89 23
ae' 232,5     347,67 2,16 17

Erläuterung: Ist die Grundfrequenz f1, dann hat die reine Quinte darüber die Frequenz f_1 \cdot 3/2.

Die mitteltönige Quinte mit der Frequenz f2 liegt 1/4 Komma darunter:

f_2 = f_1 \cdot q \text { mit } q =\frac {3}{2} \cdot { \sqrt[4]{\frac {80} {81}} }  = \sqrt[4]{5} \approx 1,49535.

Bei reinen Quinten ist der 3. Teilton 3 \cdot f_1 (Oktave + Quinte) des Grundtones identisch mit dem 2. Teilton  2 \cdot f_2 (Oktave) der Quinte. Die Frequenz der Schwebung bei temperierter Quinte errechnet sich dann aus der Differenz dieser Obertöne:

 s = 3 \cdot f_1 - 2 \cdot f_2 = f_1 \cdot(3-2q) \approx 0{,}0093 \cdot f_1 (etwas weniger als ein Prozent der Grundfrequenz).

In unserem Beispiel berechnet sich aus a' = 465 Hz (der „historische“ Kammerton) die Frequenzen von e' vorwärts und von d', g und c' rückwärts folgendermaßen:

 a\!\,' = 465 Hz,  e' = \frac {a' \cdot q} {2} = 347,67 Hz,  d' = \frac {a'} {q} = 310,96 Hz,  g = \frac {d'} {q} = 207,95 Hz und  c' = 2 \cdot \frac {g} {q} = 278,13 Hz.

In heutiger Stimmung (a'=440 Hz, e'=328,29 Hz, d'=294,25 Hz, g=196,77 Hz und c'=263,18 Hz) sind die Werte der Schwebungen:

c'g' \widehat = 2,45 Hz, gd' \widehat = 1,83 Hz, d'a' \widehat = 2,74 Hz, ae' \widehat = 2,05 Hz.

Die reine Terz hat keine Schwebungen, die Pythagoreische Terz c'e' (c'=275,6 Hz; e'=348,8 Hz) jedoch  5 \cdot c'-4 \cdot e'=17{,}2 Hz (Schwebungen in der Sekunde), also etwa zehn Mal so viel wie bei den mitteltönigen Quinten, und wurde deshalb als Missklang empfunden.

Aufbau der Tonleiter

Grundton: C, Beginn des Quintenzirkel bei Es.

Das Frequenzverhältnis des syntonischen Kommas ist \frac{81}{80}, das der Quinte  \frac {3}{2} .

Jede der 11 mitteltönigen Quinten Qm ist eine um \tfrac{1}{4}-syntonisches Komma verkleinerte reine Quinte.

Ihr Frequenzverhältnis ist demnach \frac{3}{2}:( \sqrt[4] {\frac{81}{80}}) = \sqrt[4]{5} \widehat = 696{,}58 Cent.

Abkürzungen: Ok=Oktave, Qm = die \tfrac{1}{4}-Komma mitteltönige Quinte

Ton-Bezeichnung Abstand zum Grundton in Cent Frequenzverhältnis zum Grundton
Es -3Qm + 2Ok 310,26 \frac{4}{5} \cdot \sqrt[4]{5}
B -2Qm + 2Ok 1006,84  \frac{4}{5} \cdot \sqrt{5}
F - Qm + Ok 503,42 \frac{2}{5} \cdot  \sqrt[4]{5^3}
C 0 0  \,1
G Qm 696,58 \sqrt[4]{5}
D 2Qm - Ok 193,16 \frac{1}{2} \cdot \sqrt{5}
A 3Qm - Ok 889,74 \frac{1}{2} \cdot \sqrt[4]{5^3}
E 4Qm - 2Ok (reine Terz) 386,31 \frac{5}{4}
H 5Qm - 2Ok 1082,89 \frac{5}{4} \cdot  \sqrt[4]{5}
Fis 6Qm - 3Ok 579,47 \frac{5}{8} \cdot \sqrt{5}
Cis 7Qm - 4Ok 76,05 \frac{5}{16} \cdot \sqrt[4]{5^3}
Gis 8Qm - 4Ok 772,63 \frac{25}{16}
(Dis) (9Qm - 5Ok) (269,21) (\frac{25}{32} \cdot  \sqrt[4]{5} )

Dier Quintenzirkel der \tfrac{1}{4}-Komma mitteltönigen Quinten geht nicht auf. Die zwölfte Quinte Dis unterscheidet sich vom Beginn des Quintenzirkels Es um ein Intervall - kleine Diesis genannt - mit dem Frequenzverhältnis  \frac {128}{125} \widehat \approx 41 Cent.

Alle möglichen Intervalle der mittetönigen Stimmung findet man im Abschnitt Tonstruktur.


Somit erhalten wir folgende Intervalle:

  • Acht reine große Terzen: Es-G, B-D, F-A, C-E, G-H, D-Fis, A-Cis, E-Gis
  • Elf mitteltönige Quinten: Es-B, B-F, F-C, C-G, G-D, D-A, A-E, E-H, H-Fis, Fis-Cis, Cis-Gis
  • Eine zu große Wolfsquinte: Gis-Es = 7Ok - 11 Qm mit dem Frequenzverhältnis
\frac {2^7} {\sqrt[4]{5^3}} \widehat \approx 737{,}64\,\mathrm{Cent}
  • Vier zu große Terzen (verminderte Quarten): H-Es, Fis-B, Cis-F, Gis-C
\frac{32}{25}\widehat\approx 427{,}37\,\mathrm{Cent}

Bei der mitteltönigen Stimmung stehen nicht alle erhöhten bzw. erniedrigten Töne zur Verfügung. Im obigen Beispiel nur Es, B, Fis, Cis und Gis, nicht aber deren enharmonische Wechseltöne Dis, Ais, Ges, Des und As. Dasselbe gilt auch für die enharmonischen Wechseltöne der übrigen Töne; zum Beispiel stehen auch Fes und Eis nicht zur Verfügung.

In dieser Einschränkung kommt zum Ausdruck, dass drei übereinandergelegte reine große Terzen nicht exakt eine Oktave ergeben. Der höchste Ton einer solchen Terzenkette ist um eine kleine Diësis (ca. 1/5 gleichstufiger Ganzton) tiefer als die reine Oktave des Ausgangstones. Auch bei den Varianten der mitteltönigen Stimmung, bei der die benutzbaren großen Terzen nur annähernd rein sind, bleibt ein großer Unterschied zwischen den enharmonischen Wechseltönen bestehen.

Man kann daher nur in Tonarten annehmbar spielen, in denen die fehlenden Töne nicht benötigt werden.

Literatur

Siehe auch

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Herbert Kelletat: Zur musikalischen Temperatur. I. Johann Sebastian Bach und seine Zeit. 2. Auflage. Merseburger, Berlin 1981, ISBN 3-87537-156-9, S. 17–25.
  2. Die Temperierung der Quinten wird nicht als Missklang empfunden, im Gegenteil: Jede Quinte hat einen eigenen „Farbton“, verursacht durch die Schwebungen, die als ein unterschwelliges Vibrato empfunden werden. Siehe: Stimmpraxis
  3. Die Mittelwertbildung über die Aufteilung des Kommas erfolgt über die additive Wahrnehmung der Intervalle (siehe Intervallraum): Großer Ganzton: 203,910 Cent; kleiner Ganzton: 182,404 Cent; mitteltöniger Ganzton: (203,910 + 182,404)/2 Cent = 173,157 Cent)
  4. Michael Praetorius schreibt über die falschen Terzen (Syntagma musicum. Bd. 2: De Organographia (1619). Nachdruck: Bärenreiter, Kassel 2001, ISBN 3-7618-1527-1, S. 155: „... und ist zum besten daß der Wulff mit seinem wiedrigen heulen im Walde bleibe / unnd unsere harmonicas Concordantias nicht interturbire.“
  5. Maternus Beringer: Musicae, das ist der freyen lieblichen Singkunst. Nürnberg: Georg Leopold Fuhrmann, 1610 (Nachdruck: Bärenreiter, Kassel 1974).
  6. Es gibt keine Hinweise darauf, dass die Wolfs-Intervalle von professionellen Musikern zum Scherz, als Schock-Intervalle oder zur Vermittlung drastischer Affekte von Komponisten verwendet wurden. Die kontrapunktisch korrekte Auflösung von Vorhalten, Dissonanzen, etc. ist davon nicht berührt, wenn zum Beispiel in d(-Moll) über der 5. Stufe A ein übermäßiger Akkord A-Cis-F (A 6 3#) entsteht, der in einer Kadenz so aufgelöst würde: 6 3# - 6 4 – 5 4 – 5 3#. Cis-F ist hier richtig eine verminderte Quarte, die zwischen der großen Terz (Cis) und der kleinen Sexte (F) über dem Grundklang (A) entsteht. Sie wird korrekt in die kleine Terz (D-F) überführt, die mit dem Grundklang (A) einen Quartsextakkord bildet (der natürlich weiter aufzulösen ist).
  7. Michael Praetorius: Syntagma musicum. Bd. 2: De Organographia (1619). Nachdruck: Bärenreiter, Kassel 2001, ISBN 3-7618-1527-1, S. 63–66. Im Organeum in Weener befindet sich eine Rekonstruktion.

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  • Pythagoräische Stimmung — Die pythagoreische Stimmung, auch Quintenreine Stimmung genannt, ist ein Stimmungssystem, das sich dadurch auszeichnet, dass die Abstände der Töne zueinander (Intervalle) durch eine Abfolge von reinen Quinten definiert werden. Die erste Erwähnung …   Deutsch Wikipedia

  • Werckmeister-Stimmung — Andreas Werckmeister veröffentlichte 1681 und 1691 die ersten Beschreibungen verschiedener Wohltemperierter Stimmungen. Diese ersetzten nach und nach die damals vorherrschende Mitteltönige Stimmung und ermöglichten den Musikern damit das Spiel in …   Deutsch Wikipedia

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