Modernisierungstheorie

Modernisierungstheorie

Eine Modernisierungstheorie ist eine Theorie, die die Ursachen für Modernisierung erklärt.

Der Begriff bezieht sich auf eine Gruppe von Entwicklungstheorien aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen.

Inhaltsverzeichnis

Annahmen und Argumentation

Die Modernisierungstheorien schöpfen dabei aus einer Reihe von wirtschaftswissenschaftlichen, sozialwissenschaftlichen und geschichtswissenschaftlichen Disziplinen. Ihnen allen gemeinsam ist die Annahme, Entwicklungshemmnisse würden nicht so sehr aus wirtschaftlichen Defiziten, sondern aus den Eigenarten und Wertvorstellungen traditionaler Gesellschaften entspringen. Gründe für Unterentwicklung seien somit endogene Faktoren, wie z. B. mangelnde Investitionsneigung, Korruption, Misswirtschaft, Mangel an Good Governance. Grundzüge dieses Gedankenganges finden sich bereits bei Max Weber in "Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus" (1905), auch wenn Weber anders als die Anhänger der Modernisierungstheorien die Entwicklung des modernen Betriebskapitalismus äußerst kritisch sah.

Kern der Modernisierungstheorien ist der postulierte Gegensatz zwischen "moderner" (mit den Attributen dynamisch – rational – städtisch) und "traditioneller" (mit den Attributen statisch – irrational/fatalistisch – agrarisch) Welt, wie man ihn z. B. auch in dem Strukturalismus von Raúl Prebisch findet.

Die Modernisierungstheoretiker sahen Traditionen als Hindernisse für den take off des ökonomischen Wachstums. Es war ihnen durchaus bewusst, dass die Modernisierung gewaltige, radikale Veränderungen der 'traditionalen' Gesellschaften bedeuten würde. Sie meinten aber, dass das Wachstum diesen Preis wert sei.

"Die ökonomische Entwicklung eines unterentwickelten Volkes durch es selbst ist unvereinbar mit der Aufrechterhaltung der traditionellen Gebräuche und Sitten. Ein Bruch mit letzteren ist eine Vorbedingung des wirtschaftlichen Fortschritts. Was nötig ist, ist eine Revolution der Totalität der sozialen, kulturellen und religiösen Institutionen und Gewohnheiten und also auch in seiner psychologischen Haltung, seiner Philosophie und seiner Lebensweise. Was also erfordert wird, kommt in Wirklichkeit einer sozialen Desorganisation gleich. Unglück und Unzufriedenheit in dem Sinn, dass man mehr wünscht als zu jedem gegebenen Zeitpunkt verfügbar ist, muss hervor gerufen werden. Das Leiden und die Entwurzelung, die dabei verursacht werden, mögen anstößig sein, aber das scheint der Preis zu sein, der für ökonomische Entwicklung zu zahlen ist, die Bedingung wirtschaftlicher Entwicklung." [1]

Traditionelle Gesellschaften sollten sich anpassen oder verschwinden.[2]

Das Konzept der Modernisierung begreift Entwicklung als unumkehrbaren und zielgerichteten Wachstumsprozess und steht damit in einem ausdrücklichen Gegensatz zu zyklischen Vorstellungen der geschichtlichen Entwicklung. Dazu werden evolutionäre Universalien aufgelistet, die für jegliche Entwicklung von Gesellschaft charakteristisch sein sollen (Talcott Parsons[3]).

Differenzierungstheorem: Die Spannungen, die in jeder Gesellschaftsstruktur bestehen, können durch Differenzierung, etwa durch Herausbildung unterschiedlicher sozialer Rollen oder durch Aufteilung der Machtsphären, gemindert werden.

Mobilisierungstheorem: Gesellschaftliche Entwicklung setzt die Mobilisierung von Legitimität bzw. die Erhöhung des Erwartungsniveaus und der Beteiligung sowie die Verfügbarmachung von Ressourcen voraus (Kapital, Kaufkraft, Naturschätze, Technik). Technische, organisatorische oder kulturelle Innovationen in den Industrieländern können dabei einen Demonstrationseffekt auslösen, indem sie eine Steigerung der Leistungsfähigkeit vorstellen, und zur weltweiten Ausbreitung bzw. Nachahmung dieser Praktiken anreizen.

Partizipationstheorem: Je höher der Differenzierungsgrad einer Gesellschaft, desto mehr werden Vermittlungsmechanismen zwischen den einzelnen Teilen der Gesellschaft erforderlich. Die größere Abhängigkeit aller von einer Zentralinstanz erfordert ein höheres Niveau der Beteiligung aller zur Stiftung von Legitimät der zentralen Entscheidungen.

Theorem der Konfliktinstitutionalisierung: Strukturell bedingte Interessenkonflikte werden durch die Institutionalisierung der Austragungsformen in ihrem gesamtgesellschaftlichen Störwert reduziert.

Modernisierung durchläuft dabei verschiedene konkrete Phasen der Entwicklung, die jeweils Vorbedingungen für die weitere Entwicklung schaffen und aufeinander aufbauen. So stellt z.B. die Urbanisierung, die für die Industrialisierung nötigen Arbeitskräfte in städtischen Zentren bereit, und führt dadurch z. B. zu einem Anstieg des Bildungsniveaus.

Ausgangs des 20. Jahrhunderts wurde in der (deutschen) Soziologie besonders von Ulrich Beck das Schlagwort von der reflexiven Modernisierung ins Spiel gebracht. Die Moderne hat nicht mehr die traditionale Gesellschaft zur Basis und zum Gegenspieler, sondern die herausgebildete moderne Gesellschaft selbst übernimmt diese Funktionen.

Bekannte Vertreter

Beiträge zum Feld der Modernisierungstheorien kommen u.a. von folgenden Vertretern:

Kritik

Gegner der Modernisierungstheorien bringen folgende Kritikpunkte an:[4]

  • "Tradition" und "Moderne" seien in vielen Ansätzen idealtypische Konstruktionen, die nicht der Wirklichkeit entsprächen. Weder die traditionellen noch die modernen Gesellschaften entsprächen einem dieser Idealtypen, sondern stellten unterschiedliche Kombinationen traditioneller und moderner Elemente dar. Es herrschten große Unterschiede zwischen den Entwicklungsländern, die 'Dritte Welt' habe es nie gegeben. Diese Heterogenität erfordere unterschiedliche Entwicklungsstrategien für die einzelnen Länder.
  • Auch die Vorstellung der Interdependenz der Subprozesse der Modernisierung hat einen idealtypischen Charakter.
  • Die Vorstellung von Modernisierung als unausweichlichen, unumkehrbaren, gleichartig ablaufenden und progressiven Prozess sei eine Naturalisierung des sozialen Wandels, die auf der Metapher der Entwicklung beruhe. Dieser soziale Evolutionismus gehe der biologischen Evolutionstheorie voraus.[5] Dass wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Fortschritt sich aber nicht synchron und schon gar nicht zwangsläufig linear entwickeln, zeigten die vielen Modernisierungsdiktaturen und irrationale Reaktionen auf das Scheitern der Entwicklung (vgl. den zunehmenden Fundamentalismus in den arabischen Staaten)[6]. Der Vorstellung von Modernisierung als nachholender Entwicklung (gegenüber den Vorreiterstaaten wie z. B. den USA) stehe die Erfahrung gegenüber, dass Geschichte sich nicht wiederholt. Die Situation der Entwicklungsländer sei eine ganz andere als die der europäischen Staaten des 18. und 19. Jahrhunderts. Überdies vergrößere sich der Abstand zwischen den reichsten und den ärmsten Ländern immer mehr. Ein 'Einholen' sei schon aus ökologischen Gründen nicht möglich, da der Ressourcenverbrauch pro Kopf der reichsten Länder nicht verallgemeinerbar sei.
  • Ein weiterer Aspekt sei die Fokussierung auf die USA oder die westlichen Industrieländer als Vorbild und Ziel, welches es zu erreichen gilt. Dieser "Eurozentrismus" lasse keine anderen Wege zu und im Kontext der politischen Gegebenheiten zu dieser Zeit (Kalter Krieg) wurde so das westliche System für die Entwicklungsländer als einzig anzustrebendes System vorgestellt. Analog wurde von den "sozialistischen" Ländern ihr Entwicklungsmodell als allgemein verbindlich propagiert.
  • Kennzeichnend für die Modernisierung sei ein elementarer Mangel an Demokratie. Bei der Entwicklung der Pläne durch die Weltbank und andere Modernisierungsagenturen würden allenfalls die Regierungen, nicht aber die betroffenen Bevölkerungen konsultiert. Diese erlebten die Modernisierung daher häufig als Angriff auf ihre Lebensweise - wobei sie sie sich aber bisweilen auch mit dem Angreifer identifizierten. [7] Die Modernisierungstheorien rechtfertigten ein solches undemokratisches Vorgehen aufgrund eines blue print, da sie von der vermeintlichen Überlegenheit des Wissens der Experten ausgingen.[8]

Siehe auch

Literatur

  • Berger, Johannes (1996): Was behauptet die Modernisierungstheorie wirklich - und was wird ihr nur unterstellt? In: Leviathan, 1996, Heft 1, S. 45-62.
  • Fischer,Monika E. (2007): Raum und Zeit. Die Formen des Lernens Erwachsener aus modernisierungstheoretischer Sicht. Baltmannsweiler: Verlag Schneider Hohengehren, ISBN 978-3-8340-0266-2
  • Flora, Peter (1974): Modernisierungsforschung. Zur empirischen Analyse der gesellschaftlichen Entwicklung. Opladen: Westdeutscher Verlag.
  • Mergel, Thomas: Modernisierung, Europäische Geschichte Online, hrsg. vom Institut für Europäische Geschichte (Mainz), 2011, Zugriff am: 18. Mai 2011.
  • Rostow, Walt W. (1960/1971/1991): The Stages of Economic Growth: A Non-Communist Manifesto. Erste Auflage 1960, Zweite Auflage 1971, Dritte Auflage 1991, jeweils Cambridge University Press, ISBN 978-0-521-40928-5
  • Rullmann, Anja (1996): Modernisierung und Dependenz. Paradigmen internationaler Kommunikationsforschung. in: Meckel, Miriam/Kriener, Markus (Hg.): Internationale Kommunikation. Eine Einführung. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 19-47.

Einzelnachweise

  1. "Economic development of an underdeveloped people by themselves is not compatible with the maintenance of their traditional customs and mores. A break with the latter is a prerequiste to economic progress. What is needed is a revolution in the totality of social, cultural and religious institutions and habits, and thus in their psychological attitude, their philosophy and their way of life. What is, therefore, required amounts in reality to social disorganization. Unhappiness and discontentment in the sense of wanting more than is obtainable at any moment is to be generated. The suffering and dislocation that may be caused in the process may be objectionable , but it appears to be the price that has to be paid for economic development; the condition of economic progress."J.L. Sadie, "The Social Anthropology of Economic Underdevelopment", The Economic Journal , No. 70, 1960, p.302, zitiert in: Gérald Berthoud, "Market" in: The Development Dictionary, hrg. von Wolfgang Sachs, London: Zed Books, 1992, pp. 70-87, Zitat pp. 72-73
  2. Über das Verschwinden indigener Gesellschaften als Preis des Fortschritts siehe John H. Bodley, Der Weg der Zerstörung. Stamesvölker und industrielle Zivilisation, München: Trickster, 1983
  3. Evolutionäre Universalien der Gesellschaft. In: Theorien des sozialen Wandels, hrg. Wolfgang Zapf, Köln Berlin 1969, S. 55-74
  4. Vgl. stellvertretend Anja Rullmann: »Modernisierung und Dependenz. Paradigmen internationaler Kommunikationsforschung«, in Miriam Meckel, Markus Kriener (Hrsg.): Internationale Kommunikation. Opladen: Westdt. Vlg. 1996, S. 19-47, dort S. 28 ff.
  5. vgl. Condorcet, Esquisse d'un tableau historique des progrès historique de l'esprit humain, Paris: GF Flammarion, 1988 (geschrieben 1794), und Gilbert Rist, The history of development , London : Zed Books, 3. Auflage 2008
  6. vgl. zum islamistischen Fundamentalismus als Reaktion auf das Scheitern der Entwicklung Gilles Kepel: Der Prophet und der Pharao : das Beispiel Ägypten: die Entwicklung des muslimischen Extremismus, München [u.a.] : Piper, 1995
  7. vgl. zur Ambivalenz der Menschen, die zu 'Unterentwickelten' erklärt wurden, gegenüber der Modernisierung Gustavo Esteva, FIESTA, jenseits von Entwicklung, Hilfe und Politik, Frankfurt am Main: Brandes & Apsel, 1995
  8. Ahnherr aller Modernisierungstheoretiker ist neben Condorcet vor allem Auguste Comte. Der aufgrund wissenschaftlicher Einsicht von Experten gestaltete soziale Wandel soll bei Comte wie bei den Modernisierungstheoretikern die autonome, unvorhersehbare, eventuell revolutionäre Veränderung von unten ersetzen bzw. verhindern. Vgl. Auguste Comte, Rede über den Geist des Positivismus, Hamburg: Meiner 1994

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