Arierparagraph

Arierparagraph

Als Arierparagraph bezeichnet man historische rassistische und antisemitische Bestimmungen einer Organisation, die nur „Arier“ als vollberechtigte Mitglieder oder als Staatsbürger zuließen und damit vor allem Juden, aber auch andere gesellschaftliche Minderheiten als angebliche „Nichtarier“ ausschlossen. Solche Bestimmungen gab es bei nationalistischen politischen Parteien, Vereinen und Verbänden in Deutschland und Österreich seit etwa 1880 und als staatliche Gesetze und Verordnungen in der Zeit des Nationalsozialismus von 1933 bis 1945.

Inhaltsverzeichnis

Frühe Arierparagraphen

Der österreichische Rassenantisemit Georg von Schönerer erweiterte das Linzer Programm des österreichischen Deutschnationalismus 1885 um einen der frühesten dokumentierbaren Arierparagraphen. Viele deutschnationale Sport-, Gesangs-, Schul- und andere Vereine, Lesezirkel und Studentenverbindungen nahmen seitdem ebenfalls solche Bestimmungen in ihre Satzungen auf.

In der Weimarer Republik beschloss die Deutsche Burschenschaft als Dachverband österreichischer und deutscher Burschenschaften in Eisenach 1920 einen Aufnahmestop für Juden und verlangte fortan ein Ehrenwort von allen Neumitgliedern, „frei von jüdischem oder farbigem Bluteinschlag“ zu sein und keine jüdischen oder farbigen Ehepartner zu haben oder künftig zu wählen.[1] Auch anfangs nicht offen völkische Wehrverbände schlossen nach ideologischen Konflikten um die „Judenfrage“ Menschen jüdischer Abstammung aus: so der Jungdeutsche Orden, der Nationalverband Deutscher Offiziere, der Verband nationalgesinnter Soldaten, der Nationalverband Deutscher Soldaten und der Stahlhelm (1924).[2] Die Deutsche Adelsgenossenschaft ließ seit 1920 nur noch Adelige „reinen deutschen Blutes“ als akzeptable Mitglieder gelten.[3]

Zeit des Nationalsozialismus

Staat

Am 7. April 1933 erließ die nationalsozialistische Reichsregierung unter Reichskanzler Adolf Hitler das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums. Dieses erste rassistische Gesetz des NS-Regimes folgte dem Judenboykott vom 1. April 1933 und enthielt in Paragraph 3 die Anweisung:

Beamte, die nicht arischer Abstammung sind, sind in den Ruhestand zu versetzen.

Ziel war die Gleichschaltung des öffentlichen Dienstes durch Entlassung missliebiger, vor allem jüdischer und politisch als oppositionell eingestufter Beamter. Mit dem am selben Tag erlassenen Gesetz über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft, der Verordnung über die Zulassung von Ärzten zur Tätigkeit bei den Krankenkassen vom 22. April und dem Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen vom 25. April wurde der Arierparagraph in der Folgezeit auf immer mehr Bereiche des gesellschaftlichen Lebens ausgedehnt.

Die Einführung des Arierparagraphen war der erste Schritt des NS-Regimes zum gesetzlichen Ausschluss der Juden und anderer sogenannter Nichtarier aus der Gesellschaft und ihrer fortschreitenden Entrechtung. Der zweite Schritt waren die antisemitischen Nürnberger Rassengesetze vom 15. September 1935, durch die auch anfangs noch geltende Ausnahmen wie das Frontkämpferprivileg für jüdische Frontsoldaten des Ersten Weltkriegs abgeschafft wurden.

Diese Gesetze beruhten auf der Behauptung einer angeblichen jüdischen Rasse mit erblichen und daher unveränderlichen minderwertigen Eigenschaften. Deren „zersetzenden Geist“ müsse man „mit den Mitteln der Rassenhygiene“ bekämpfen.[4]

Verbände

Auch nahezu alle Organisationen und Verbände übernahmen seit 1933 Arierparagraphen in ihre Statuten und Regelungen.

Kirchen

Im Bereich der Deutschen Evangelischen Kirche (DEK) verfügten einige Landeskirchen seit Herbst 1933 analog zum staatlichen Arierparagraphen den Ausschluss von Christen jüdischer Herkunft aus Kirchenämtern: Pfarrer und höhere Kirchenbeamte mussten in den Ruhestand versetzt werden, wenn sie jüdische Eltern oder mindestens ein jüdisches Großelternteil hatten.

Die Generalsynode der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union beschloss als erste Leitung einer evangelischen Landeskirche am 6. September 1933 einen solchen kirchlichen Arierparagraphen. Am 12. September 1933 folgte der Thüringer Landeskirchentag mit einem analogen "Gesetz über die Stellung der kirchlichen Amtsträger zur Nation". Entsprechende Maßnahmen beschlossen in den Folgejahren auch die Landeskirchen in Sachsen, Schleswig-Holstein, Braunschweig, Lübeck, Mecklenburg, Hessen-Nassau und Württemberg. Der Ausschluss betraf etwas über 100 Personen, vor allem Theologen. Die Initiative dazu ging von der Kirchenpartei der Deutschen Christen (DC) aus, die seit den Kirchenwahlen im Juli 1933 einige Synodenmehrheiten und Kirchenleitungen erobern konnten.

Der altpreußische Beschluss veranlasste Martin Niemöller mit weiteren Gegnern der DC zur Gründung des Pfarrernotbundes, dessen Mitglieder den von Dietrich Bonhoeffer angeregten oder formulierten Satz unterschrieben:[5]

„Ich bezeuge, daß eine Verletzung des Bekenntnisstandes mit der Anwendung des Arierparagraphen im Raum der Kirche Jesu Christi geschaffen ist.“

Zugleich sollten sie die jüdischstämmigen Christen vor Angriffen schützen und materiell unterstützen. Die theologischen Fakultäten von Marburg und Erlangen erstellten Gutachten zur Vereinbarkeit des Arierparagraphen mit der Verfassung der DEK; die Marburger verneinten diese, die Erlanger empfahlen nur zurückhaltende Anwendung. 20 deutsche Neutestamentler erklärten, dass ein kirchlicher Arierparagraph nicht vom Neuen Testament legitimiert sei.[6]

Aus dieser Opposition zu den DC ging 1934 die Bekennende Kirche hervor, die mit deren Positionen auch kirchliche Arierparagraphen als gegen das evangelische Glaubensbekenntnis gerichtete Häresie ablehnte. Den staatlichen Arierparagraph dagegen betrachteten die meisten evangelischen, auch bekennenden, Christen als politisch erlaubt oder sogar erforderlich.

Siehe auch

Literatur

  • Ursula Trüper: Das Blut der Väter und Mütter. Otto Hegner und der Arierparagraph. In: Ulrich van der Heyden, Joachim Zeller (Hrsg.) ... Macht und Anteil an der Weltherrschaft. Berlin und der deutsche Kolonialismus. Unrast-Verlag, Münster 2005, ISBN 3-89771-024-2
  • Heinz Liebing (Hrsg.): Die Marburger Theologen und der Arierparagraph in der Kirche: eine Sammlung von Texten aus den Jahren 1933 und 1934; aus Anlaß des 450-jährigen Bestehens der Philipps-Universität Marburg. 1. Auflage, Elwert, Marburg 1977, ISBN 3-7708-0578-X

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Peter Kaupp: Burschenschaft und Antisemitismus, S. 2
  2. Wolfgang R. Krabbe: Politische Jugend in der Weimarer Republik, Universitätsverlag Dr. N. Brockmeyer, Dortmund 1993, S. 157
  3. Stephan Malinowski: Vom König zum Führer: Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat. Akademie-Verlag, 3. Auflage 2004, ISBN 305004070X, S. 336
  4. Herbert Sallen: Zum Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland. Konzepte, Methoden und Ergebnisse der empirischen Antisemitismusforschung. Haag und Herchen, Frankfurt/Main 1977, S. 51ff.
  5. Joachim Mehlhausen: Nationalsozialismus und Kirchen, in: Theologische Realenzyklopädie, Band 24, Walther de Gruyter, Berlin/New York 1994, S. 54f
  6. Jan Rohls: Protestantische Theologie der Neuzeit Band 2: Das 20. Jahrhundert. Mohr/Siebeck, Tübingen 1997, ISBN 3161466446, S. 405f

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