Mordanschlag von Solingen

Mordanschlag von Solingen
Gemeinsame Demonstration von Deutschen und Türken am Tatort im Juni 1993

Der Mordanschlag von Solingen war ein am 29. Mai 1993 in Solingen (Nordrhein-Westfalen) verübtes Verbrechen, dem fünf Personen zum Opfer fielen. Die häufig als „Brandanschlag von Solingen“ bezeichnete Tat hatte einen rechtsextremem Hintergrund.

Inhaltsverzeichnis

Fünffacher Mord

Nach den Pogromen in Hoyerswerda und Rostock sowie dem Brandanschlag von Mölln änderte der Bundestag am 26. Mai 1993 den Artikel 16 des Grundgesetzes, das Recht auf Asyl. Drei Tage später erfolgte der Mordanschlag in der westdeutschen Stadt Solingen.

Bei dem Brandanschlag auf ein Zweifamilienhaus, das von Menschen türkischer Abstammung bewohnt war, starben fünf Menschen (zwei Frauen, drei Mädchen). Hülya Genç (9), Gülüstan Öztürk (12) und Hatice Genç (18) kamen in den Flammen ums Leben. Gürsün İnce (27) und Saime Genç (4) erlagen ihren Verletzungen nach einem Sprung aus dem Fenster. Ein sechs Monate alter Säugling, ein dreijähriges Kind und der 15 Jahre alte Bekir Genç wurden mit lebensgefährlichen Verletzungen ins Krankenhaus gebracht. Bekir Genç erlitt schwerste Verbrennungen und unterzog sich seit dem Anschlag 30 Operationen und Hauttransplantationen, 14 weitere Familienmitglieder erlitten zum Teil lebensgefährliche Verletzungen.

Ermittlungen und Verurteilungen

Bundesanwaltschaft und Polizei konnten bereits am 4. Juni 1993 drei Männer im Alter zwischen 16 und 23 Jahren aus der Solinger Neonazi-Szene festnehmen. Auch der vierte Tatverdächtige wurde, nach den ersten Festnahmen, rasch ermittelt. Zwei der Männer entsprachen dem Täterbild, wie es Zeitungen oft nach rechtsextremen Anschlägen präsentieren: vorverurteilte rechtsextreme Jugendliche mit zerrüttetem Elternhaus, frühzeitig gewaltauffällig, der braunen Szene zugehörig. Doch die zwei anderen Tatverdächtigen passten nicht in das übliche Raster: Einer wuchs in einer Solinger Handwerksfamilie auf, der vierte entstammte einer Arztfamilie.[1] Diese beiden bestreiten jedoch bis heute vehement, etwas mit dem Anschlag zu tun gehabt zu haben. Nach 127 Verhandlungstagen wurden alle vier Angeklagten am 13. Oktober 1995 vor dem Düsseldorfer Oberlandesgericht zu langjährigen Haft- oder Jugendstrafen verurteilt.

Der sechste Strafsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf verurteilte den 24-jährigen Markus G. (er gestand als einziger Angeklagter die Tat) wegen fünffachen Mordes, 14-fachen Mordversuches und besonders schwerer Brandstiftung zu 15 Jahren Freiheitsstrafe. Der 18-jährige Felix K., der 19-jährige Christian R. und der 22-jährige Christian B. wurden zur höchsten Jugendstrafe von zehn Jahren verurteilt. Nach Berufungen wurde das Urteil 1997 vom Bundesgerichtshof bestätigt. Das Landgericht Wuppertal verurteilte die vier Täter im Mai 2000 zur Zahlung von 250.000 Mark Schmerzensgeld an Bekir Genç. Das Urteil konnte jedoch damals zeitweise nicht vollstreckt werden, da zwei Täter noch in Haft saßen, Christian B. angab, kein Geld zu haben und der vierte Täter, der Arztsohn Felix K., nicht erreichbar war. Das Meldeamt verweigert einem Pressebericht aus 2003 zufolge die Herausgabe der Anschrift mit der Begründung, dass der Haftentlassene eine schützenswerte Person sei.[2]

Inzwischen sind die vier Attentäter wieder auf freiem Fuß. Zwei von ihnen wurden wegen guter Führung vorzeitig aus der Haft entlassen.[3]

Reaktionen, Gedenken

Der Hülyaplatz in Frankfurt am Main-Bockenheim erinnert mit einer auf ein Hakenkreuz schlagenden Figur an eines der Opfer

Der Solinger Anschlag war 1993 der Höhepunkt einer Welle fremdenfeindlicher, rassistischer Anschläge auf Menschen ausländischer Herkunft in Deutschland. Der Anschlag löste heftige Reaktionen aus: Anfangs friedliche Demonstrationen führten in Solingen an mehreren Tagen zu gewaltsamen Ausschreitungen. Diese wurden vorwiegend aus dem Umfeld der Grauen Wölfe angestachelt.[4]

Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl kam 1993 nicht nach Solingen. Sein Beileid bekundete er durch seinen Sprecher – noch dazu mit den Worten, er lehne den „Beileidstourismus“ anderer Politiker vor dem Tatort ab. Dieses Verhalten wurde im In- und Ausland sehr kontrovers diskutiert.

In der Unteren Wernerstraße Nr. 81 erinnern nur noch ein paar Kellerstufen an das Haus der Familie Genç. Ein grüner Drahtzaun steht davor, am linken Ende davon steht ein Gedenkstein mit der Inschrift „An dieser Stelle starben als Opfer eines rassistischen Brandanschlags Gürsün Ince, Hatice Henk, Gülüstan Öztürk, Hülya Genç und Saime Genç“. 1998 hat die Stadt gemeinsam mit dem Verein „SOS Rassismus” Terrassen angelegt und darauf auf Wunsch der Familie Genç fünf junge Kastanien gepflanzt.

Genç-Preis für friedliches Miteinander

Am 26. Mai 2008, kurz vor dem 15. Jahrestag des Anschlags, wurde im Solinger Theater- und Konzerthaus ihm Rahmen einer Gedenkveranstaltung erstmals der mit 10.000 Euro dotierte Genç-Preis für friedliches Miteinander vergeben. Er wurde von der Türkisch-Deutschen Gesundheitsstiftung mit ihrem Gründer und Ideengeber Yaşar Bilgin gestiftet und soll zukünftig alle zwei Jahre vergeben werden. Die ersten Preisträger waren der Kölner Oberbürgermeister Fritz Schramma und Kamil Kaplan. Schramma erhielt die Auszeichnung für seine Rolle als Vermittler im Streit um den Bau der Kölner Großmoschee. Kaplan verlor bei der Brandkatastrophe von Ludwigshafen im Februar 2008 mehrere Angehörige. „Trotz des großen Verlusts habe er in der Öffentlichkeit viel beachtete Worte des Ausgleichs, der Besonnenheit, der Verständigung und der Versöhnung gefunden“, heißt es in der Begründung der Jury.

Reaktionen im Ausland

In den Niederlanden wurden damals aufgrund des Entsetzens über die Tat Plakate mit folgender Aufschrift aufgestellt: „Solingen, 29. Mai 1993. Dit nooit meer.” (Übersetzung: Das nie wieder!) Nach einem Aufruf eines niederländischen Radiosenders wurden mehrere Millionen Postkarten mit der Aufschrift "Ik ben woedend!"[5] (Übersetzung: Ich bin wütend!) an Helmut Kohl geschickt. Die Aktion wurde in der Folge heftig in beiden Ländern diskutiert.[6]

Die Überlebenden der Familie Genç

Familie Genç bewohnt heute ein mit Versicherungs- und Spendengeldern finanziertes Haus, das mit Überwachungskameras ausgestattet ist. Einigen Familienangehörigen wurde es ermöglicht, Jobs bei der Stadt anzunehmen. Die Überlebenden leiden bis heute unter den Folgen der Gräueltaten und haben Angst vor weiteren Übergriffen. Psychologische und medizinische Betreuung ist nach wie vor nötig.

Die Mutter, Großmutter und Tante der Ermordeten, Mevlüde Genç, bemühte sich in den Jahren nach den Morden immer wieder, Versöhnung zwischen der Bevölkerung Solingens und ihrer Familie beziehungsweise der türkischstämmigen Bevölkerung in der Stadt zu erreichen. Mevlüde Genç, die mittlerweile einen deutschen Pass hat, wurde das Bundesverdienstkreuz verliehen.

Das Mahnmal

Das Mahnmal Solinger Bürger und Bürgerinnen
Tafel am Mahnmal

Ursprünglich war der Familie Genç versprochen worden, dass im Zentrum der Stadt ein Platz gefunden wird, um der fünf Ermordeten zu gedenken. Dies wurde auch mit einem Ratsbeschluss am 3. März 1994 abgesegnet. Das Mahnmal wurde dann jedoch 2,5 Kilometer außerhalb des Zentrums vor der Mildred-Scheel-Schule, auf die Hatice Genç ging, errichtet. Dies wurde damit begründet, dass es den sozialen Frieden in der Stadtmitte nicht gefährden solle. 10.000 Menschen kamen 1994 am ersten Jahrestag des Brandanschlags zur Einweihung. Gestaltet wurde das Mahnmal von Heinz Siering, dem Leiter der Solinger Jugendhilfe-Werkstatt: Zwei große Metallfiguren, umrahmt von einem Wall aus handgroßen Metallringen, zerreißen ein Hakenkreuz. Jeder Ring – inzwischen sind es mehr als 5.000 – trägt einen Namen. Bei der Einweihung wurden die ersten fünf Ringe durch die Menge gegeben, sie trugen die Namen der fünf ermordeten Frauen und Kinder. Auf der aus Ringen bestehenden Umfassung ist eine Metallplatte befestigt. Sie trägt folgende Beschriftung:

"Mahnmal Solinger Bürger und Bürgerinnen. Wir wollen nicht vergessen. Wir wollen nicht wegsehen. Wir wollen nicht schweigen. Viele Menschen in dieser Stadt trauern und erinnern an den Brandanschlag vom 29. Mai 1993, bei dem 5 türkische Mädchen und Frauen um ihr Leben kamen. Verbunden wie diese Ringe wollen wir Miteinander leben."

Zitate

„Wir wenden uns heute, einen Tag nach dem Urteil, an alle jungen Leute in Deutschland und in der Türkei ... Der Richter hat das gestern richtig als sinnlose Tat bezeichnet, die auf Rassenhass beruht ... Dabei haben wir Jugendlichen, egal, ob wir Deutsche oder Türken sind, egal, welche Hautfarbe wir haben oder aus welchem Land wir kommen, gemeinsame Interessen. ... Wir müssen uns gemeinsam für Verbesserungen einsetzen. Hass spaltet nur und führt im schlimmsten Fall zu solchen schrecklichen und sinnlosen Taten. ... So etwas sollte sich nie mehr wiederholen.“

Fadime und Bekir Genç: In: Metin Gür, Alaverdi Turhan: Die Solingen-Akte

„Das Bewegendste ist für mich die Haltung der Familie Genç. Da war kein Hass, kein Abschied, sondern stets der Ruf nach Versöhnung zwischen den Menschen und den Völkern. Das ist das positive Signal nach der schrecklichen Tat.“

Johannes Rau: anlässlich des 10. Jahrestages

Film

  • Yvonne Dobrodziej: Der Solinger Brandanschlag – 10 Jahre danach. Dokumentarfilm

Literatur

  • Metin Gür, Alaverdi Turhan: Die Solingen-Akte. Patmos Verlag, Düsseldorf 1996, ISBN 3-491-72352-3
  • Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung: SchlagZeilen – Rostock: Rassismus in den Medien. 1993, ISBN 3-927388-32-7

Musik

  • Erwähnung im Track Stift her der Beginner

Siehe auch

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Die Solinger "Einzeltäter sind organisierte nazis - Recherchen und Zeitungsartikelauswertungen zu den Tätern und ihrem Umfeld, in: ZAG - Zeitung antirassistischer Gruppen, Nr. 8, 3. Quartal 1993, S. 31 - 33
  2. Der Spiegel: Ausländerfeindlichkeit: Der Denkzettel, Hatice Akyün, Alexander Smoltczyk, 26. Mai 2003
  3. Familie Genç lebt heute ohne einen Gedanken an Rache, Westdeutsche Zeitung 26. Mai 2008
  4. Dürfen faschistische ImmigrantInnen gegen rassistischen Terror protestieren? - Erklärungen autonomer Gruppen zu den Ausschreitungen, in: ZAG - Zeitung antirassistischer Gruppen, Nr. 8, 3. Quartal 1993, S. 34
  5. Die Postkarte auf www.duitslandweb.nl
  6. Niederländischer Wikipediaartikel zu der Postkartenaktion

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