Musik des Mittelalters

Musik des Mittelalters

Als mittelalterliche Musik wird europäische Musik bezeichnet, wie sie seit dem 9. Jahrhundert aufgeschrieben wurde und in der Folgezeit bis etwa 1430 entstanden ist. In der Musikwissenschaft wird das musikalische Mittelalter in drei Epochen unterteilt: Die Zeit der Gregorianik bis etwa 1100 mit vorwiegend einstimmiger Musik, die Musik des 12. und 13. Jahrhunderts (Notre-Dame-Schule) mit der Entwicklung mehrstimmiger Musik und die Musik von etwa 1300 bis 1450 (Ars Nova, Trecento) mit einer zunehmenden Ausdifferenzierung unterschiedlicher Stile in verschiedenen Ländern.

Inhaltsverzeichnis

Gregorianik ca. 900–1100

Gregorianischer Choral (Liturgische Musik)

Der heilige Geist, dargestellt als Taube, gibt Gregor I. die Choralmelodien ein, der sie einem Schreiber diktiert (aus dem Antiphonar des Hartker von St. Gallen, um 1000)

Die Rückbesinnung auf Papst Gregor I. († 604) als Verfasser des Chorals im 9. Jahrhundert dürfte auf eine Zuschreibung durch Johannes Diaconus in seiner Vita Gregorii zurückgehen, der beschreibt, Papst Gregor I. habe den Choral vom heiligen Geist empfangen, eine Vorstellung, die sich in zahlreichen mittelalterlichen Buchillustrationen wiederfindet, die Gregor mit dem heiligen Geist in Gestalt einer Taube zeigen, die ihm die Melodien diktiert. Inzwischen gilt als sicher, dass die mehreren tausend Choralmelodien nicht auf eine Person zurückgehen. Ob das Repertoire der gregorianischen Choräle aber auf eine einzige in der Karolingerzeit mit Neumen niedergeschriebene Sammlung zurückgeht, ist nicht geklärt.

Im Mittelalter war der Choral funktionaler Bestandteil der Liturgie von Messe und Offizium (Stundengebet). Zu jeder Hore gehören Psalmen mit den dazugehörigen Antiphonen, Hymnen und Cantica und die Schriftlesung mit den entsprechenden Responsorien bzw. Versikel.

Die Melodien und Texte für das Stundengebet (Matutin, Laudes, Terz, Sext, Non, Vesper und Komplet) sind in einem liturgischen Buch, dem Antiphonale, zusammengestellt. Musikalisch sind Matutin, Laudes und Vesper herausragend. Zur Vesper gehört das Magnificat, zu den Laudes das Benedictus, in der Komplet wird neben dem Nunc dimittis je nach Zeitpunkt im Kirchenjahr eine der vier marianischen Antiphonen, Alma redemptoris mater, Ave Regina caeloreum, Regina caeli oder Salve Regina gesungen.

Zur Liturgie der Heiligen Messe gehören ein variabler Teil, abhängig vom Kirchenjahr und besonderen Festtagen und ein unveränderlicher Teil. Die variablen Anteile werden Proprium Missae, der feststehende Anteil Ordinarium Missae genannt. Zum Proprium gehören die Gesänge Introitus, Graduale, Halleluja, Tractus, Offertorium und Communio. Das Ordinarium besteht aus Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus, Benedictus und Agnus Dei. Die Choräle für Poprium und Ordinarium der Messe wurden im Graduale Romanum zusammengefasst. Besonders häufig benötigte Choräle aus Antiphonale und Graduale wurden auch im Liber Usualis notiert. Die Texte der Messe finden sich im Missale, die des Offizium im Breviarium.

Die Rolle Gregors aus Sicht des 19. Jahrhunderts

Im 19. Jahrhundert, mit dem Beginn der wissenschaftlichen Erforschung der Musik des Mittelalters, wurde Gregor als Schöpfer zahlreicher musikalischer Phänomene identifiziert. Diese Einschätzung beruhte auf einer unkritischen Beschäftigung mit den damals neu entdeckten Quellen, in denen der gregorianische Choral als Basis aller sakralen Musik dargestellt wurde. Heute geht man davon aus, dass im Mittelalter die Musik als Ganzes vielfach nur deshalb auf Gregor zurückgeführt wurde, um auch neue Phänomene aus der göttlichen Eingebung des Chorales an Gregor, und damit als gottgegeben, abzuleiten. Dies entspricht der mittelalterlichen wissenschaftlichen Methode, alles Neue von einer anerkannten Autorität (auctoritas) abzuleiten und letztlich die Einheit des Wissens festzustellen.

Der Lexikontext aus Meyers Konversations-Lexikon von 1880 ist ein gutes Beispiel für die Haltung des 19. Jahrhundert gegenüber Gregor:

„Von höchster Wichtigkeit aber sind die Fortschritte, welche die Musik dem Papst Gregor der Große (gest. 604) zu danken hat. Dieser vervollständigte das System der Kirchentonarten, indem er den vier Ambrosianischen Tonarten, den so genannten authentischen, vier weitere hinzufügte, die Plagaltonarten genannt wurden […] Die enge Zusammengehörigkeit der authentischen und plagalischen Töne (deren Verhältnis von den Schriftstellern des Mittelalters durch die Bezeichnung ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ treffend charakterisiert ist) zeigt sich am deutlichsten darin, dass der musikalische Schwerpunkt, der Grund- oder Finalton, beiden gemeinsam ist […]“ Ein weiteres Verdienst um die Musik erwarb sich Gregor durch die Verbesserung der schon von den Päpsten Silvester und Hilarius im 4. und 5. Jahrhundert gegründeten Kirchengesangschulen sowie durch Zusammenstellung der zu seiner Zeit bekannten Kirchengesänge in dem so genannten Antiphonarium centone, das bis zur Gegenwart die Grundlage des römischen Kirchengesanges geblieben ist. Den Gipfel seiner musikreformatorischen Tätigkeit aber bezeichnet die Einführung der nach ihm benannten Vortragsweise, des Gregorianischen Gesanges oder Cantus planus (lat., ebener Gesang), so genannt, weil er nicht, wie der antike und auch noch der Ambrosianische Gesang, den Zeitwert der Töne dem Metrum der Dichtung unterordnete, sondern es dem Sänger überließ […] die Textesilben, wie in der ausdrucksvollen Rede, nach Belieben zu dehnen und zu verkürzen.“

Musiktheorie

Hucbald von Saint-Amand: De harmonica institutione

Der erste, der es unternahm, feste Regeln für das gleichzeitige Erklingen zweier oder mehrerer Tonreihen auszustellen, war Hucbald (bzw. ein unbekannter Autor, der als „Pseudo-Hucbald“ bezeichnet wird). Er folgte dabei teils der antiken Musiklehre, die in der lateinischen Bearbeitung des Boëthius († 525) zu seiner Zeit wiederum Gegenstand des Studiums geworden war, teils den bereits vor ihm an musikalischen Instrumenten gemachten praktischen Erfahrungen; die von ihm benutzten Namen Diaphonie („Zusammenklang“) und Organum („Musikinstrument“) deuten auf die eine wie auf die andere Quelle.

Das Verfahren Hucbalds bestand zunächst darin, dass er zu einer Tonreihe eine zweite in der schon von den Griechen als vollkommenste Konsonanz anerkannten Quinte hinzufügte; sodann gewinnt er durch Oktavenverdoppelung der tiefen Stimme Quartenparallelen in den beiden Oberstimmen; endlich durch Oktavenverdoppelung der zweiten Stimme einen vierstimmigen Satz, z. B. Neben dieser rein mechanischen Tonkombination empfiehlt er aber noch eine andere von nur zwei Stimmen, deren eine meist auf derselben Tonhöhe verweilt, während die andere sich in verschiedenen Intervallen um sie herum bewegt.

Indessen war auch mit dieser Art des Organums, wiewohl es schon eine annähernd kunstmäßige Gestalt zeigt, für die Ausbildung der mehrstimmigen Musik noch nicht viel gewonnen, und man wird die begeisterten Äußerungen Hucbalds bezüglich der Wirkung dieses „lieblichen Zusammenklanges“ mit Vorsicht aufnehmen müssen.

Guido von Arezzo: Micrologus (1025)

Auch dem ein Jahrhundert später wirkenden, als Musikreformator zu hohem Ruhm gelangten Guido von Arezzo († 1050) sollte es nicht gelingen, die Kunst des mehrstimmigen Tonsatzes wesentlich zu fördern; dagegen ist ihm ein anderer wichtiger Fortschritt zu verdanken, die Ausbildung einer den erhöhten Bedürfnissen der Musik entsprechenden Notenschrift. Als solche waren von den Griechen die 24 Buchstaben des Alphabets (für die Instrumente in verkehrter Stellung) benutzt worden, von Gregor dem Großen aber die des lateinischen Alphabets und zwar, in richtiger Erkenntnis der Notwendigkeit einer Vereinfachung der antiken Notation, nur die sieben ersten als zur Bezeichnung der diatonischen Tonleiter hinreichend. Beide Notierungsarten aber litten an dem Fehler, dass sie das Steigen und Fallen der Melodie nicht anschaulich darstellten.

Dies vermochte eine dritte schon zu Gregors Zeit bekannt gewesene und auch von ihm neben den Buchstaben benutzte Tonschrift, die Neumen, bestehend in einer großen Zahl von Zeichen, Punkten, Strichelchen und Schnörkeln, deren Ursprung bis zu einem gewissen Grade in den Accenten der griechischen Schriftsprache zu suchen ist; doch war die Stellung der einzelnen auf- und absteigenden Tonzeichen, solange man dieselbe nicht mit Hilfe eines Liniensystems präzisierte, zu unbestimmt, um nicht die verschiedensten Lesarten zuzulassen. Diesem Übelstand nun half Guido ab, indem er die Versuche seiner Vorgänger mit erst einer, dann zwei bald schwarzen, bald farbigen Linien dadurch zum Abschluss brachte, dass er vier Linien nebst den dazwischenliegenden Spatien benutzte und so die Möglichkeit gewann, den Neumen im Umfang einer Oktave (genau einer None) ihren bestimmten Platz anzuweisen.

Von den mancherlei weiteren Erfindungen, welche die Zeitgenossen und Nachfolger des gefeierten Mannes ihm zum Teil mit Recht, zum Teil mit Unrecht zugeschrieben haben, verdient namentlich seine Gesanglehrmethode Erwähnung, mit der er behauptete, innerhalb eines Jahres oder höchstens in zwei Jahren die Ausbildung eines Sängers vollenden zu können. Diese Methode bestand darin, dass der Schüler die Intervallverhältnisse eines zu erlernenden Gesanges durch Vergleichen mit einem ihm schon bekannten schneller erfasst. Als einen zu solchen Vergleichen geeigneten Melodientypus empfahl Guido den Johannes-Hymnus des Paulus Diaconus, in der die Sänger bei Heiserkeit von Johannes dem Täufer, dem „Patron der hellen Stimme“ (vox clamantis), Heilung erflehten: Der Vorteil, den gerade dieser Hymnus dem Schüler bot, war ein doppelter: einmal, weil ihre einzelnen Melodiephrasen (nach heutiger Ausdrucksweise „Takte“) die für die Kirchentonarten charakteristischen Intervallverhältnisse darstellten, sodann, weil die Anfangstöne dieser Phrasen eine aufsteigende diatonische Skala bilden. Dieser zufällige Umstand veranlasste später die romanischen Völker, die Töne der Tonleiter mit den Silben ut re mi fa sol la zu bezeichnen. Das si für die siebente Stufe wurde erst später, nachdem das Oktavensystem allgemein angenommen war, in Frankreich hinzugefügt.

Quellen

  • Codex Blandiniensis, Brüssel, Bibliothèque Royale, Codex 10127-10144 entstanden 8./9. Jh., eine der ältesten Handschriften mit den Texte der Messgesänge.

Notre-Dame und Minnesang (Ars antiqua) etwa 1100 bis 1300

Ab dem Ende des 12. Jahrhunderts wurde die mehrstimmige Komposition immer wichtiger, zunächst besonders in den Gattungen Organum und Conductus. Wichtige Vertreter der sogenannten Notre-Dame-Schule waren die Komponisten Léonin und Pérotin. Mit zunehmender Stimmenzahl wurde es notwendig, auch den Rhythmus der Stücke genau zu fixieren, was bisher nicht möglich gewesen war. Diese Funktion erfüllte zunächst die Modalnotation, die wenig später durch die Mensuralnotation ersetzt wurde, dessen Regeln zuerst von Franco von Köln (Ende 13. Jahrhundert) formuliert wurden.

Wie seine Vorgänger geht auch Franco von den Griechen aus, indem er zunächst nur zwei Notenwerte, die Longa und die Brevis, annahm, entsprechend der langen und kurzen Silbe der antiken Prosodie. Die Vereinigung dieser beiden Notengattungen, deren letztere die Hälfte der erstern galt, ergibt den Modus, der entweder als Trochäus oder als Jambus erscheint, selbstverständlich aber stets dreiteilig ist; so erklärt es sich, dass in den frühsten Zeiten der Mensuralmusik der dreiteilige Rhythmus allein Anwendung fand und, als später auch der zweiteilige in Gebrauch kam, der vollkommene genannt wurde, letzterer aber der unvollkommene. Im weiteren Verlauf seiner Darstellung freilich verlässt Franco die Traditionen des Altertums, denn hier erscheinen als neue Notenwerte die doppelte Longa (Maxima) und die halbe Brevis (Semibrevis).

Mit diesen Zeichen, zu denen noch das für die Pause kommt, war es schon möglich, eine rhythmisch mannigfaltige Musik zu notieren; nur litt die Mensuralnotation des Mittelalters an dem Übelstand, dass der Wert der Noten nicht durch ihre Gestalt allein, sondern auch durch ihre Stellung zur Nachbarnote bedingt war, was ihre Entzifferung sehr erschwerte. Die Schwierigkeiten häuften sich noch bei den so genannten Ligaturen, d. h. Gruppen von mehreren in ein Zeichen zusammengezogenen Noten, welche auf einer Silbe gesungen wurden, und in denen der Wert der einzelnen Noten sich nach dem rechts oder links befindlichen auf- oder absteigenden Strich usw. bestimmte.

Zudem war das wichtige Hilfsmittel zur exakten Wiedergabe der Mensural- oder, wie sie auch genannt wurde, Figurenmusik, der Taktstrich, um diese Zeit noch unbekannt; erst im 16. Jahrhundert erscheint er hier und da, bis er im Anfang des 17. Jahrhundert allgemein in Gebrauch kommt.

Ars Nova, Trecento ca. 1300-1450

Liederhandschrift von Manesse. Dargestellt ist Heinrich von Meißen

Auf einer ungleich höheren Stufe zeigt sich die neue Kunst des mehrstimmigen Tonsatzes zur Zeit des Marchettus von Padua und des Johannes de Muris, Doktors der Theologie an der Universität zu Paris (um 1300). In den Schriften dieser Männer erscheint zuerst das Verbot der noch von Hucbald ihres Wohlklangs wegen gepriesenen Quinten- und Oktavenparallelen nebst verschiedenen anderen für den mehrstimmigen Tonsatz noch bis heute gültig gebliebenen Lehren. Auch findet sich bei de Muris schon das Wort Kontrapunkt statt des bis dahin gebräuchlichen Ausdrucks Discantus als Bezeichnung eines zweistimmigen Tonsatzes.

Zur vollen Entfaltung aber gelangt die mehrstimmige Musik erst Ende des 14. Jahrhunderts mit Guillaume Dufay, der als Mitglied der päpstlichen Sängerkapelle nach Zurückverlegung des heiligen Stuhls von Avignon nach Rom hier die für Ausbildung des Kontrapunktes erfolgreichste Periode eröffnete, welche nach der hauptsächlich dabei beteiligten Nation die niederländische genannt wird. Von hoher Bedeutung wurde es für die Wirksamkeit der niederländischen Tonsetzerschule, dass inzwischen neben der geistlichen auch die weltliche Musik zum Leben erwacht war.

Die Ausbildung der Vulgärsprachen, die pädagogischen Bemühungen der seit der Zeit Karls d. Gr. blühenden Universitäten und Klosterschulen, von welch letztern namentlich die zu St. Gallen auch die Musik mit Eifer pflegte, endlich die Einflüsse des Morgenlandes teils von dem maurischen Spanien her, teils während der Kreuzzüge, alles dies hatte zur Entfesselung der künstlerischen, im besondern der dichterischen und musikalischen, Triebe der abendländischen Völker mitgewirkt.

Im südlichen Frankreich erklingt zuerst der Gesang der Troubadoure und erweckt bald darauf bei den germanischen Völkern die Kunst des Minnesangs. Waren es in beiden Fällen vorwiegend die höheren Gesellschaftsklassen, welche sich der Pflege des Gesanges annahmen, so traten die bürgerlichen Elemente der Bevölkerung und die bis dahin gering geachtet gewesenen Instrumentalmusiker in gleicher Absicht zu zunftmäßig geordneten Genossenschaften zusammen und förderten, wenn auch in beschränkter Weise, das Verständnis für Dicht- und Tonkunst.

Die Schulen der Meistersinger in Nürnberg, Ulm, Straßburg, die Instrumentalgenossenschaften Nikolai-Bruderschaft zu Wien (1288) und Confrérie de Saint-Jullen des ménestriers zu Paris (1330, für Musikantenzünfte) dürfen in diesem Sinn musikgeschichtliche Bedeutung beanspruchen, wie tief auch ihre Leistungen an Kunstwert unter denen der Troubadoure und Minnesänger stehen und nicht minder unter den Erzeugnissen des Volksgesanges, von dessen hoher Blüte zu damaliger Zeit das im 15. Jahrhundert verfasste so genannte Lochamer-Liederbuch unzweideutige Kunde gibt.

Weit entfernt, der ausschließlich von der Kirche gepflegten Kunstmusik hinderlich in den Weg zu treten, gewährte vielmehr dieser Aufschwung des weltlichen Gesanges den niederländischen Kontrapunktisten eine schätzbare Unterstützung zur Lösung ihrer Aufgabe, im allgemeinen durch die ermutigende Teilnahme, welche nun auch aus weitern Kreisen ihren Arbeiten entgegengebracht wurde, im besondern, indem ihnen der Volksgesang das melodiöse Material zu ihren Kompositionen lieferte; denn auf selbständige Erfindung von Melodien musste die Kunstmusik verzichten, solange der Kampf mit der Technik des mehrstimmigen Tonsatzes die Kraft des Komponisten für sich allein in Anspruch nahm.

Dieses erklärt die der heutigen Zeit befremdliche Verwendung volkstümlicher Melodien zum thematischen Inhalt der Messen, Motetten und anderer Kirchenkompositionen der niederländischen Schule sowie die noch auffallendere Praxis jener Zeit, die dem Volksgesang entnommene Melodie, sofern sie als Gegenstimme zu einer Melodie des Gregorianischen Gesanges ertönte, mit ihrem weltlichen Text zu dem lateinischen der anderen Melodie singen zu lassen.

Das ausschließliche Streben nach Beherrschung der Form und die Freude an der Überwindung der kontrapunktischen Schwierigkeiten war endlich auch noch die Ursache der für die niederländische Schule charakteristischen Neigung, die zuvor erwähnte Verwickeltheit der Mensuralnotation nicht zu vermindern, sondern sogar geflissentlich zu erhöhen.

Namentlich schienen die Nachahmungen in Kanonform bestimmt, den Scharfsinn des Tonsetzers wie des Ausführenden auf die Probe zu stellen, und wenn man sich anfangs begnügte, wie auch heute bei Notierung eines Kanons nur eine Stimme hinzuschreiben und den Eintritt der übrigen Stimmen durch ein Zeichen anzudeuten, so unternahm man es später, selbst gleichzeitig eintretende Stimmen mit nur einer Notenreihe zu notieren, der Kunst des Sängers es überlassend, aus den hinzugefügten Zeichen die Absicht des Komponisten zu enträtseln.

Ihren Höhepunkt erreichte diese Richtung mit Johannes Ockeghem (etwa 1455 bis 1490 am Hof der Könige von Frankreich angestellt), von dem unter anderm eine Messe existiert, in welcher das „Kyrie“ statt der Schlüssel, Taktzeichen usw. nur mit einem Fragezeichen versehen ist. Dennoch zeigt sich schon bei diesem Meister, der mit Recht als der Vater des Kontrapunktes gilt, neben der scholastischen Künstelei das Streben nach ausdrucksvoller Tongestaltung, und es bedurfte nur noch eines Menschenalters weiterer Arbeit, um dem geistigen Gehalt der Musik im Kampf gegen die spröde Materie zum Sieg zu verhelfen: mit Josquin des Prés (gest. 1521), einem Schüler Ockeghems und wie dieser am französischen Königshof vorwiegend wirksam, ist die Entwickelungsperiode des niederländischen Kontrapunktes überwunden und an Stelle des mühseligen Stimmenkombinierens die freie Entfaltung des schöpferischen Geistes getreten; er ist der erste der Niederländer, dessen Werke von echter Genialität erfüllt sind, und mit Recht konnte sein Zeitgenosse Martin Luther von ihm sagen: „Josquin ist ein Meister der Noten; diese haben tun müssen, wie er gewollt, andre Komponisten müssen tun, wie die Noten wollen“.

Siehe auch

Studium und Fortbildung

Der weltweit einzige grundständige musikpraktische Vollzeitstudiengang für die Musik des Mittelalters wird an der Schola Cantorum Basiliensis – der Hochschule für alte Musik in Basel – angeboten. Eine zweijährige berufsbegleitende Fortbildung wird an der Akademie Burg Fürsteneck unter der Leitung von Marc Lewon und Uri Smilansky angeboten.

Literatur

Weblinks

Meyers Konversationslexikons logo.svg Dieser Artikel basiert auf einem gemeinfreien Text aus Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage von 1888–1890. Bitte entferne diesen Hinweis nur, wenn du den Artikel so weit überarbeitet oder neu geschrieben hast, dass der Text den aktuellen Wissensstand zu diesem Thema widerspiegelt und dies mit Quellen belegt ist, wenn der Artikel heutigen sprachlichen Anforderungen genügt und wenn er keine Wertungen enthält, die den Wikipedia-Grundsatz des neutralen Standpunkts verletzen.

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