Verwandtschaft

Verwandtschaft

Verwandtschaft (Cognatio, Consanguinitas), das auf Zeugung, resp. Abstammung und die dadurch entstandene Gemeinschaft des Blutes oder auf Adoption (s. Annahme an Kindes Statt) sich gründende Verhältnis zwischen mehreren Personen (Verw and ten). V. in diesem Sinne heißt im altdeutschen Rechte Sippschaft. Diese durch Zeugung entstandene V. ist eine wahre, natürliche, leibliche (Blutsverwandtschaft), die durch Adoption begründete dagegen nur eine fingierte oder sogen. bürgerliche V. Die von demselben Stammvater abstammenden Personen werden häufig unter dem Wort Sippe, Linie zusammengefaßt, die vom nächsten Stammvater abstammenden unter der Bezeichnung Parentel. Die Eltern mit ihren Kindern bilden die erste, die Großeltern mit ihren Kindern und Enkeln die zweite, die Urgroßeltern mit ihren Abkömmlingen die dritte Parentel. Auf dieser Parentelordnung ist die gesetzliche Verwandtenerbfolge des Bürgerlichen Gesetzbuches (§ 1924 ff.) aufgebaut. Die Linie der Vorfahrenverwandtschaft bezeichnet man als aufsteigende Linie (linea ascendens), und die in ihr Stehenden heißen Aszendenten; dieselbe Linie nach der Richtung der Nachkommenschaft heißt absteigende Linie (linea descendens) und die in ihr Stehenden Deszendenten. Der Ausdruck gerade Linie bezeichnet die V. derjenigen Personen, von denen die eine von der andern abstammt, z. B. Eltern und Kinder. Sind Personen nicht in gerader Linie verwandt, aber von derselben dritten Person abstammend, so liegt Seitenverwandtschaft (Kollateralverwandtschaft) vor, und die so verwandten Personen sind Seitenverwandte, z. B. Geschwister. Von denselben Eltern erzeugte Blutsverwandte sind vollbürtige leibliche Geschwister, haben sie nur eins von beiden Eltern gemeinschaftlich, so sind sie halbbürtige, Halbgeschwister. Verwandte, deren V. auf Zeugung (durch Männer) beruht, heißen Agnaten, altdeutsch Schwertmagen; beruht die V. auf Geburt (durch Weiber), so heißen sie Kognaten, altdeutsch Spillmagen. Erstgeborne (primogeniti) sind diejenigen, vor denen die Eltern noch keine Kinder gehabt haben; alle Nachgebornen heißen Secundogeniti. Entferntere Verwandte, nach dem »Sachsenspiegel« von den Geschwisterkindern an, hießen im altdeutschen Recht Magen. Die Seitenlinien sind entweder gleiche, wenn jede der Linien, die in Frage kommen, gleich viele Abstufungen hat (z. B. Geschwisterkinder sind miteinander in gleicher Linie verwandt), oder sie sind ungleiche Linien (z. B. Neffe und Oheim sind in ungleicher Linie verwandt). Die Nähe, der Grad, der V. bestimmt sich nach der Anzahl der sie vermittelnden Geburten, soviel Geburten, soviel Grade (Bürgerliches Gesetzbuch, § 1589). Hiernach sind Vater und Sohn im ersten. Großvater und Enkel im zweiten Grade gerader Linie, Bruder und Schwester im zweiten, Oheim und Neffe im dritten Grade der Seitenlinie miteinander verwandt. Das kanonische Recht zählt in der geraden Linie wie das Bürgerliche Gesetzbuch, in der Seitenlinie dagegen nur bis zum gemeinsamen Stammvater und nicht wie das Bürgerliche Gesetzbuch durch denselben hindurch. Ist die eine Seite länger, so bestimmt sich immer danach die V. Ein uneheliches Kind ist nur mit seiner Mutter und deren Verwandten, nicht aber mit dem Vater und dessen Verwandten verwandt (§ 1539). Unter Doppelverwandtschaft (mehrfache V.) versteht man eine V., die dadurch entsteht, daß Verwandte sich heiraten (Vetter und Cousine), wenn jemand sich nacheinander mit unter sich Verwandten verheiratet (der Witwer seine Schwägerin), wenn unter sich Verwandte sich mit Personen verheiraten, die gleichfalls unter sich verwandt sind (zwei Brüder heiraten zwei Schwestern). Diese Doppelverwandtschaft ist besonders bei Erbschaftsregelung von besonderer Wichtigkeit, da sie gegebenenfalls die Veranlassung zu doppelten Erbteilen sein kann. Außerdem gibt sie Veranlassung zu den unglaublichsten, allerdings nur theoretischen Verwandtschaftsbeziehungen, besonders wenn noch Befreiung von Ehehindernissen dazukommt. So kann z. B. ein Mann der Vater, Schwiegervater und Ehemann seiner eignen Frau auf diese Weise werden. Unter künstlicher V. versteht man die durch Annahme an Kindes Statt (s. d.), durch Legitimation (s. d.), Einkindschaft (s. d.) entstandene V. Vgl. Spahn, V. und Vormundschaft nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch (Berl. 1901); Blume, Das Verwandtschaftsrecht des Bürgerlichen Gesetzbuches (das. 1906).

Die oben entwickelten Rechtsgrundsätze beruhen auf dem Begriff der Familie (s. d.), wie er in den zivilisierten Staaten maßgebend ist. Bei zahlreichen unzivilisierten Völkerstämmen aller Erdteile wird dagegen der Vater nicht zur Familie gerechnet, und die V. sowie das darauf beruhende Erbrecht gilt nur in der weiblichen Linie, so daß nicht der leibliche Vater, sondern der Mutterbruder als der nächste Aszendent gilt und von seinem Neffen beerbt wird. Darauf gründen sich dann weitere eigentümliche, uns sehr fremdartig dünkende Bezeichnungen und Verwandtschaftssysteme bei den verschiedensten Völkern. So begrüßt der junge Sandwichinsulaner alle Groß- und Urgroßeltern,-Onkel und -Tanten als Kupuna (Ahne), sämtliche Oheime väterlicher- und mütterlicherseits gleich dem eignen Vater als Makua Kana (d. h. Vater) und die entsprechenden weiblichen Verwandten als Makua Waheena (d. h. Mutter). Ebenso nennt der Vater sämtliche Neffen und Großneffen brüderlicher- und schwesterlicherseits gleich den eignen Söhnen Kaikee Kana (d. h. Sohn). Ähnliche Verwandtschaftsbezeichnungen kehren bei den verschiedensten Naturvölkern wieder. Vgl. Lubbock, Die Entstehung der Zivilisation (deutsch, Jena 1875); Morgan, Systems of consanguinity and affinity of the human family (Washington 1869); Schiller-Tietz, Inzucht und Konsanguinität (Osterwieck 1887) und Folge, Bedeutung und Wesen der Blutsverwandtschaft (2. Aufl., Neuwied 1892); Wilken, Over de verwantschap bij de volken van het Maleische ras (Amsterd. 1883); W. R. Smith,Kinship and marriage in early Arabia (Cambr. 1885); Cunow, Die Verwandtschaftsorganisationen der Australneger (Stuttg. 1894); Schurtz, Urgeschichte der Kultur (Leipz. 1900). – Über geistliche V. s. d.

Der in der neuern Geometrie vorkommende Ausdruck V. ist gleichbedeutend mit Transformation (s. d.). Zwischen zwei Ebenen z. B. besteht eine V., wenn die Punkte der einen Ebene so auf die Punkte der andern bezogen oder abgebildet sind, daß jedem Punkte der ersten Ebene ein Punkt der zweiten zugeordnet ist und umgekehrt. Bestimmt man in jeder von beiden Ebenen die Punkte durch Koordinaten (s. d.) und sind x, y die Koordinaten eines Punktes der ersten, x', y' die eines Punktes der zweiten Ebene, so kann man die V. durch zwei nach x und y auflösbare Gleichungen: x' = f(x, y), y' = φ (x, y) ausdrücken, wo f und φ gewisse Funktionen (s. d.) sind. Diese Gleichungen stellen dann die Transformation dar, die mit der V. gleichbedeutend ist. Besonders wichtig sind die linearen Verwandtschaften (die Kollineationen), bei denen solchen Punkten der einen Ebene, die in gerader Linie liegen, stets solche Punkte der andern Ebene entsprechen, die ebenfalls in gerader Linie liegen. – Über V. in der Chemie s. Chemische Verwandtschaft. – Über V. der Töne vgl. Tonverwandtschaft.


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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