Altkatholizismus

Altkatholizismus

Altkatholizismus, Name für eine kirchliche Bewegung, die den von der nationalen Idee getragenen Widerstand der Gewissenhaftigkeit und der Wissenschaftlichkeit im deutschen Katholizismus gegen die im Unfehlbarkeitsdogma vollendete ultramontane Entwickelung der römischen Kirche darstellt. Bisher war es unter Beihilfe der Politik deutscher Regierungen der Kurie gelungen, den Widerspruch der deutschen Wissenschaft (Hermes, Günther, Frohschammer u.a.) zu unterdrücken, Männer, die sich römischen Zumutungen unfügsam zeigten, von den Bischofsstühlen zu entfernen oder zurückzuhalten (Sedlnitzky, Schmid) und in Klerus und Gemeinde den Ultramontanismus zur Herrschaft zu bringen. Als aber trotz der Einsprache der deutschen Theologie, trotz des Protestes einer starken Minorität auf dem vatikanischen Konzil 18. Juli 1870 das Dogma von der Unfehlbarkeit zu stande gekommen war, als dieselben deutschen Bischöfe, die sich vorher so entschieden dagegen ausgesprochen hatten, das Dogma dennoch (in Bayern mit Umgehung des Plazet) verkündigten und gegen die opponierenden Fakultäten von München, Bonn und Breslau sowie gegen einzelne Geistliche und Religionslehrer mit kirchlichen Zensuren einschritten, und als zugleich in dem Verhalten des Klerus und der katholischen Partei des Reichstags es sich unverhohlen zeigte, daß das Streben dahin gehe, den päpstlichen Willen auch zum obersten Gesetz der Staaten zu machen: da wurde es vielen der Besten zur Gewissenspflicht, sich der Einführung eines Dogmas zu widersetzen, das für den Papst eine schrankenlose Gewalt über jeden einzelnen wie über Kirche und Staat in Anspruch nehme, und mit dem kein Recht, keine Freiheit, keine Gewissenhaftigkeit bestehen könne. Ein Brief des Stiftspropstes Döllinger zu München vom 28. März 1871 an den Erzbischof Scherr, in dem er in schneidiger Sprache begründete, daß er als Christ, als Theolog, als Geschichtskundiger, als Bürger das Dogma nicht annehmen könne, und den der Erzbischof mit der Exkommunikation beantwortete, gab der in vielen Kreisen verbreiteten Stimmung Ausdruck und Anlaß zu einer weiter gehenden Bewegung, die von einem Aktionskomitee in München geleitet wurde. Die anfängliche Hoffnung, die Annahme des Dogmas in der deutschen Kirche noch rückgängig machen zu können, schwand, als der deutsche Episkopat in einem gemeinsamen Hirtenbriefe seine Unterwerfung aussprach. Ihr stellte der Kongreß der Altkatholiken in München (September 1871) die Behauptung entgegen, die Infallibilisten seien, durch den Jesuitismus verführt, vom Glauben der alten Kirche abgefallen, und diese bestehe rechtmäßig nur in ihnen fort. Damit war das Schisma ausgesprochen. Unter dem Schutz und der Begünstigung des Staates bildete sich eine Anzahl altkatholischer Gemeinden, deren kirchlichem Bedürfnis der Erzbischof von Utrecht (s. Utrechter Kirche) entgegenkam. In einer Reihe wissenschaftlicher und populärer Schriften entwickelten inzwischen die Führer der Bewegung, Schulte, Friedrich, Reinkens, Michaelis u.a., aus Kirchenrecht und Kirchengeschichte die Ungültigkeit und Unstatthaftigkeit des Dogmas, seinen Widerspruch mit Religiosität und Sittlichkeit. Der zweite Kongreß, in Köln September 1872, hielt in seinen Anträgen an den Staat den bisherigen Anspruch, die rechte katholische Kirche zu sein, fest und beauftragte ein Komitee, die Einleitung zu einer Rekonstituierung der Kirche durch eine Bischofswahl zu treffen. Zugleich wurde auch die von Döllinger angeregte Frage nach der Möglichkeit einer Wiedervereinigung der getrennten Konfessionen ins Auge gefaßt und offen ausgesprochen, daß man nicht, wie anfänglich beabsichtigt gewesen, nur auf den Zustand des 7. Jahrh., vor der Trennung von der griechischen Kirche, zurückgreifen könne, sondern daß eine Revision der Entwickelung in Lehre, Verfassung und Kultus notwendig sei.

Eine Delegiertenversammlung nahm 4. Juni 1873 in Köln ein Organisationsstatut an, nach dem die Leitung der Kirche bei dem Bischof ruht, dem ein Spezialausschuß von neun Personen, teils Geistlichen, teils Laien, zur Seite steht. Dieser Ausschuß wird von der Synode erwählt, die jährlich in der Pfingstwoche zusammentritt, und zu der sämtliche Geistliche und für jede Gemeinde, bez. für je 200 selbständige Männer ein Laiendeputierter berufen werden. Bei der Bischofswahl vereinigten sich die Stimmen auf den bisherigen Professor in Breslau, Jos. Hubert Reinkens (s. d.), der am 7. Okt. 1873 durch den preußischen Kultusminister in Berlin als Bischof der altkatholischen Gemeinden Preußens vereidigt wurde. Die neue Organisation hält an dem auch vom preußischen Obertribunal anerkannten Grundsatze fest, daß die Altkatholiken keineswegs aus der katholischen Kirche ausgeschieden seien, sondern daß sie nur durch Umstände außer ihrer Macht an der Teilnahme der vollen Gemeinschaft gehindert würden. Auf dem dritten Kongresse in Konstanz 1873 wurde eine Synodal- und Gemeindeordnung angenommen.

In Deutschland wurden seit 1874 alljährlich die kirchenverfassungsmäßigen Synoden in Bonn gehalten; ebenso fanden Kongresse statt 1876 in Breslau, 1877 Mainz, 1880 Baden, 1884 Krefeld, 1888 Heidelberg, 1890 Köln, 1892 Luzern, 1894 Rotterdam, 1897 Wien. Die schwierige Frage der Aufhebung des Zwangszölibats der Geistlichkeit, die Professor v. Schulte in Bonn (»Der Zölibatszwang und dessen Aufhebung«, Bonn 1876) im Prinzip bejahte, während er die praktische Ausführung als eine Sache der Zweckmäßigkeit hinstellte, beschäftigte mehrere Synoden. Endlich wurde auf der fünften Synode 1878 unter Hinweis darauf, daß die neue Reichsgesetzgebung (Gesetz über die Eheschließung 6. Febr. 1875) das Ehehindernis der Priesterweihe nicht mehr kennt, mit 75 gegen 22 Stimmen das Zölibat abgeschafft. Geistliche, welche die ideale Seite des Zölibats hervorhoben, wie Reusch und Tangermann, sind durch diesen Beschluß der Sache des A. entfremdet worden. Günstig wirkte dagegen das am 4. Juli 1875 vom König bestätigte preußische Gesetz über die Rechte der altkatholischen Kirchengemeinden an dem kirchlichen Vermögen. Überhaupt beharrten Staatsregierung und Gerichte auch noch nach der Schwenkung der innern Politik seit 1878 an der Auffassung, daß die Altkatholiken als katholische Christen zu betrachten und zu behandeln seien, während die bayrische Regierung sie 1890 zur aus der römisch-katholischen Kirche ausgeschiedenen Privatkirchengesellschaft mit sehr beschränkten Rechten umstempelte. In Preußen existierten 1901: 16 staatlich anerkannte Pfarren und 20 noch nicht förmlich konstituierte Gemeinden, in Baden 21 (17), in Bayern 4 (10), in Hessen 2 (2). Eine genaue Angabe der Seelenzahl ist deshalb nicht möglich, weil sich bei den Volkszählungen stets nur ein Teil der Altkatholiken als solche einträgt. Die Gesamtzahl wird sich auf rund 50,000 mit 54 Geistlichen belaufen. Bischof ist seit 1896 der frühere Professor der Theologie Th. Weber (s. d.).

Auch in andern Ländern hat sich die altkatholische Bewegung verbreitet. Besondere Ausdehnung und Bedeutung erlangte sie in der Schweiz. Die Synodalverfassung der dortigen »christkatholischen« Kirche von 1875 entspricht im allgemeinen der deutschen, und auch in Bezug auf die Zurückstellung der Ohrenbeichte hinter einer allgemeinen Bußandacht vor der Kommunion herrscht Übereinstimmung zwischen beiden Nationalkirchen. Übrigens hat diese Kirche in ihren auf der Synode zu Olten 1876 aufgestellten Prinzipien viel entschiedener mit der hierarchischen Tradition gebrochen, als dies den deutschen Altkatholiken möglich gewesen war. Die altkatholische Fakultät in Bern stellte sich derjenigen in Bonn würdig zur Seite. Bischof ist seit 1876 der bisherige Berner Pfarrer Eduard Herzog. 1901 zählte man 41 Gemeinden mit 56 Geistlichen und rund 50,000 Seelen. In Österreich wurde die altkatholische Religionsgemeinschaft durch Verordnung des Kultusministers vom 18. Okt. 1877 anerkannt. 1901 gab es dort, besonders in Nordböhmen, etwa 17,600 Altkatholiken mit 14 Geistlichen. Bistumsverweser ist M. Czech in Warnsdorf. In Holland gibt es etwa 8000 Altkatholiken mit 30 Geistlichen. Für die übrigen Länder ist die Statistik dadurch erschwert, daß die altkatholische Bewegung vielfach mit andern reformkatholischen Bestrebungen durcheinander geht. In Italien zählt man 8 Gemeinden mit ca. 10 Geistlichen, in Spanien 3000 Anhänger (1170 Kommunikanten) mit 11, in Portugal 330 Kommunikanten mit 5, in Mexiko 1000 mit 13 Geistlichen. – Altkatholische Zeitschriften: »Deutscher Merkur« (Münch., seit 1870), erscheint seit 1900 als wissenschaftliche Beilage zum »Altkatholischen Volksblatt« (Bonn, seit 1885); »Altkatholisches Kirchenblatt« (das., seit 1874); »Der Katholik« (Bern, seit 1877); »Revue Internationale de Théologie« (das., seit 1893); »De Oud-Katholiek« (Rotterdam, seit 1874); »La Luz« (Madrid); »La Riforma cattolica«. Vgl. Friedberg, Aktenstücke, die altkatholische Bewegung betreffend (Tübing. 1876); v. Schulle, Der A. (Gießen 1887); Herzog, Beiträge zur Vorgeschichte der christkatholischen Kirche der Schweiz (Bern 1896).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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