Lamartine

Lamartine

Lamartine (spr. -tin'), Alphonse Marie Louis de, berühmter franz. Dichter, wurde 21. Okt. 1790 in Milly bei Mâcon als der Sohn eines armen Edelmanns geboren und starb 1. März 1869 in Passy. Schon in der Jesuitenschule zu Belley empfing er die Keime einer sentimentalen Religionsschwärmerei. Nach längerm Aufenthalt in Italien trat er in die neuerrichtete königliche Garde, ein Dienst, dem die Hundert Tage (1814) ein Ende machten. Hierauf folgten Reisen und Zerstreuungen, deren Eindrücke er in den »Méditations poétiques« (1820; deutsch von G. Schwab, Stuttg. 1826) wiedergab. Diese geben reichen Stimmungen echt poetischen, zuweilen freilich auch flach-rhetorischen Ausdruck. Der Dichter wurde zum Gesandtschaftsattaché in Florenz (wo er Mary Anne Birch, eine junge reiche Engländerin, heiratete), später zum Sekretär der Gesandtschaft in Neapel, endlich zum Geschäftsträger in Toskana ernannt. 1823 erschienen seine »Nouvelles méditations« mit den bemerkenswerten Gedichten: »La mort de Socrate« und »Dernier chant de Child-Harold« (1825). Eine beleidigende Äußerung über Italien, die letzteres enthielt, zog ihm einen Zweikampf mit Oberst Pepe zu, in dem er schwer verwundet wurde. Nach der Veröffentlichung des »Chant du sacre« (auf die Krönung Karls X., 1825) und der »Harmonies poétiques et religieuses« (1830, 2 Bde.), in denen Phrase und religiöse Begeisterung vorherrschen, wurde er in die Akademie gewählt (1829). Seit der Julirevolution näherte sich L. der Politik, und nachdem er 1832 eine Reise nach dem Orient unternommen hatte, auf der er mehr als fürstlichen Luxus entfaltet hatte, wurde er 1834 zum Deputierten erwählt und veröffentlichte 1835 seine Reisebeschreibung »Voyage en Orient« (4 Bde.), deren wissenschaftlicher Wert gleich Null ist. Wohl die beste und wohltuendste seiner sämtlichen Dichtungen ist »Jocelyn« (1836, 2 Bde.; deutsch von J. Bernhard, Hamb. 1880), ein reizendes, angeblich aus dem Tagebuch eines Dorfpfarrers entnommenes Idyll. An Wert tief unter diesem Gedicht steht »La chute d'un ange« (1838, 2 Bde.), worin L. mit wenig Glück Byron nachahmt; auch der Versuch, den er in den »Recueillements poétiques« (1839) macht, die Muse in den Dienst der Politik zu zwingen, war wenig gelungen. Leider ging ihm für die Politik das Allernotwendigste, der Sinn für das Praktische und Reale, ab; im übrigen bot er in seiner politischen Farbe ein wunderliches Gemisch, das im Saint-Simonismus ebensogut und ebensostark wie in religiöser Orthodoxie schillerte. Als »démocrate conservateur«, wie er sich selbst bezeichnete, wollte er die konstitutionelle Monarchie befestigen und diese mit allen Freiheiten und Fortschritten der Neuzeit ausstatten. Seine in Ischia geschriebene, 1847 in 8 Bänden erschienene »Histoire des Girondins« (deutsch, Leipz. 1847–48, 8 Bde.) bildet in sofern die großartige Illustration zu diesem Glaubensbekenntnis, als diese Helden der Revolution mit dem Glorienschein der Poesie umgeben werden, freilich der geschichtlichen Wahrheit zum Trotz. Ein von Ludwig Philipp ihm angebotenes Ministerportefeuille schlug er aus, weil sein politischer Scharfblick doch so weit reichte, ihn die fernere Unmöglichkeit dieses Regiments voraussehen zu lassen. Den Glanzpunkt seines Lebens bildet die Februarrevolution von 1848; seine Rolle in ihr hat er in seinen »Trois mois an pouvoir« (1848) geschildert. Er nahm Anteil an der Opposition gegen Guizot und an der Bankettbewegung und wurde 24. Febr. zum Mitglied der provisorischen Regierung und darauf zum Minister des Auswärtigen der neuen Republik ernannt. Der Ruhm, der eigentliche Schöpfer dieser Republik und eine Zeitlang der populärste Mann Frankreichs gewesen zu sein, bleibt ihm. Berühmt, und mit Recht, ist sein Manifest vom 6. März geworden; der Tag der Eröffnung der neuen Konstituante (4. März), in die er in zehn Departements gewählt war, gestaltete sich für ihn zu einem Triumphtag. Jedoch lehnte er das von der Versammlung ihm angebotene Präsidium der neuen Regierung ab, und sein Einfluß schwand schnell, wie er gestiegen war; nach dem Staatsstreich vom 2. Dez. 1851 trat er, kaum beachtet, völlig von der Staatskarriere zurück. Seine schon 1849 erschienene »Histoire de la révolution de 1848« (2 Bde.) kann nicht als unparteiische Darstellung jener denkwürdigen Episode gelten, weil L. immer mehr an sich selbst als an die Objektivität der Ereignisse denkt. Seine Memoiren (u. d. T.: »Raphael, pages de la vingtième année«, 1849) und ihre Fortsetzung (»Nouvelles confidences«, 1851), eine offene Darlegung aller seiner Jugendverirrungen, stoßen ab durch süßliche Sentimentalität und Ausmalung widerwärtiger Dinge; am besten gelungen ist die Episode »Graziella«, die er später besonders herausgab. Die »Histoire de la Restauration« (1851, 8 Bde.) ist schon ein finanzielles Unternehmen. L. war jetzt gezwungen, das, was Verschwendung und unglückliche Spekulation vergeudet hatten, durch den Ertrag seiner Feder möglichst wieder einzuholen. Allein trotz fabrikmäßiger Produktion (1850 erschien das dramatische Gedicht »Toussaint Louverture«, ausgeführt in der Porte St.-Martin; 1851: »Geneviève, mémoires d'une servante«; 1852: »Graziella;« 1853: »Les Visions«. eine Art Geschichte der menschlichen Seele; 1854. »Histoire des Constituants«, 4 Bde., und »Histoire de la Turquie«, 8 Bde.; 1855: »Histoire de la Russie«, 2 Bde.; 1856–59 endlich der von krasser Unwissenheit und Ungründlichkeit strotzende »Cours familier de littérature«, 6 Bde.) vermochte er den Aufwand, den er trotz seiner bedrängten Lage einzuschränken nicht die moralische Kraft hatte, nicht entfernt zu decken. Die zu seinen Gunsten veranstalteten Anrufungen der öffentlichen Wohltätigkeit in Subskriptionen, Lotterien etc. hatten nicht den gehofften Erfolg; charakteristisch ist, daß er sich nicht scheute, dabei persönlich für sich einzutreten. 1867 wurde ihm dann durch Gesetz die lebenslängliche Rente eines Kapitals von 500,000 Frank zugebilligt. 1886 ist ihm in Passy eine Statue errichtet worden. Sein Bildnis s. Porträttafel »Klassiker der Weltliteratur II« (bei Art. »Literatur«). L. hatte nach dem Mißerfolg einer Subskription es selbst unternommen, seine »Œuvres complètes« herauszugeben (1860–66, 41 Bde.). Eine Ausgabe in 13 Bänden erschien Paris 1885–87, eine neue Gesamtausgabe bei Hachette (das., seit 1900). Nach seinem Tod erschienen noch: »Le manuscrit de ma mère« (1871); »Mémoires inédits 1790–1815« (1870, 1881); »Souvenirs et portraits« (1871, 3 Bde.); »Poésies inédites« (hrsg. 1873 von seiner von ihm adoptierten Nichte Valentine de L., 3. Aufl. 1885); »Correspondance« (1873–75, 6 Bde.; 2. Aufl. 1882, 4 Bde.); »Lettres à L. 1818–1865« (1893), »A. de L. par lui-même, 1790–1847« (1892). Übersetzungen seiner Werke existieren in allen Sprachen; eine deutsche besorgten G. Herwegh, Diezel u.a. (Stuttg. 1839–53, 30 Bde.). Vgl. Mazade, L., sa vie littéraire et politique (1872); Ollivier, L. (1874); Ronchaud, La politique de L., choix de discours et écrits politiques (1878, 2 Bde.); Alexandre, Souvenirs sur L. (1884); Lady Domvile, Life of L. (Lond. 1888); Reyssié, La jeunesse de L. (1892); E. Deschanel, L. (1893, 2 Bde.); Zyromski, L. poète lyrique (1898); Quentin-Bauchart, L. homme politique (1903); Mehnert, Über Lamartines politische Gedichte (Erlang. 1903).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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