Naturvölker

Naturvölker

Naturvölker, im Gegensatz zu den Kulturvölkern die tiefere, primitive Schicht der Menschheit. Eine scharfe Sonderung beider Schichten ist nicht möglich, da die Kulturvölker aus sehr verschieden begabten Individuen zusammengesetzt sind und oft echte N. in gewissen einzelnen Zügen der Kultur eine auffallend hohe Entwickelung zeigen. Körperliche Unterschiede kommen kaum in Betracht, um so mehr geistige. Die Neigung zur Arbeit und meist auch zum Fortschritt vererbt sich im allgemeinen bei den Angehörigen der Kulturvölker schließlich als eine Art Gehirndisposition, die den langsam oder gar nicht fortschreitenden, mit ihrem Zustand zufriedenen Naturvölkern fehlt. Das Wort Naturvolk weist auf einen andern Gesichtspunkt der Unterscheidung hin. Die Völker, die man als N. zusammenfaßt, stehen im guten wie im schlimmen Sinn der Natur näher als wir, sie sind nicht durch eine so breite Schicht menschlich beeinflußter oder umgestalteter Dinge, Begriffe und Abstraktionen von den unbewußt schaffenden Naturkräften geschieden. Freilich läßt sich auf Grund dieser Verhältnisse keine scharfe Trennungslinie ziehen, besser hält man sich an gewisse Kulturgüter, vor allem die Schrift, deren Besitz einem Volk ein dauerndes Gedächtnis verleiht und ihm damit die für alle große Kulturarbeit unentbehrliche historische Tiefe schafft. Die Anfänge der Bilderschrift, die auch die N. kennen, heben sich von den höhern Schriftsystemen genügend deutlich ab. Auch im Wirtschaftsleben lassen sich beträchtliche Gegensätze erkennen; es ist hierbei rätlich, bei den Naturvölkern selbst eine unterste Schicht, die nur aneignende Wirtschaft treibt und infolgedessen zum unsteten Umherwandern gezwungen ist, von den mehr seßhaften primitiven Ackerbauern und Viehzüchtern zu unterscheiden. Erst die eigentlichen Kulturvölker, deren Ackerbau den Boden nicht erschöpft, sind fest und dauernd mit diesem verbunden. In gesellschaftlicher Beziehung erscheinen die Angehörigen der N. viel enger an die Gesellschaftsformen und -Bräuche gebunden, während sich der Kulturmensch ein bedeutendes Maß individueller Freiheit errungen hat. Aus dieser Gebundenheit an die Gesellschaft, der eine harmonische Anpassung an die umgebende Natur entspricht, erklärt sich der konservative Zug der N., die geringe Fähigkeit und Neigung zum Fortschritt, die ein weiteres bezeichnendes Merkmal ist. Die Kulturvölker sind im Gegenteil durch den Wettbewerb, der zwischen ihnen stattfindet, zu beständigem Vorwärtsschreiten gezwungen, da jeder beschauliche Stillstand wirtschaftlichen Niedergang und zuletzt den Verlust der politischen Freiheit herbeiführt. Dieser Wettbewerb nötigt auch dazu, klare Einsicht in das Wesen der Naturkräfte zu gewinnen und überhaupt wissenschaftlich zu streben und zu denken, während den Naturvölkern ein Mangel abstrakten Denkens, eine Hinneigung zur mythischen Deutung der natürlichen Vorgänge und ein Vorwiegen des triebartigen Handelns über die überlegte Tätigkeit eigen ist. Gerade aus dieser Eigenschaft aber entsteht eine harmlos glückliche Stimmung, die allerdings, da die Kräfte meist nicht in regelmäßiger Arbeit entladen werden, von Ausbrüchen wilder Leidenschaft unterbrochen zu werden pflegt. In jeder Hinsicht also bilden die N. den primitivern, zurückgebliebenen Teil der Menschheit, dessen Studium von höchstem Wert für die Kulturgeschichte ist, dessen richtige Behandlung durch die höher entwickelten Völker eine schwierige und verantwortungsreiche Aufgabe ist, die man leider oft in der schlechtesten Weise gelöst hat. Vgl. Völkerkunde.


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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