Mystik

Mystik

Mystik (v. gr.), das Streben, das Übersinnliche u. Göttliche durch innere Anschauung zu ergreifen u. dem Gemüthe bis zur Vereinigung u. Verschmelzung mit demselben nahe zu bringen, sammt der daraus hervorgehenden Denk-, Gefühls- u. Handlungsweise (Mysticismus). Wo ein übermächtig starkes religiöses Bedürfniß ohne das innere Gegengewicht eines klaren Denkens weder durch den einfachen historischen Glauben an eine äußere Offenbarung, noch durch den Versuch über den Inhalt des religiösen Glaubens durch begriffsmäßiges Denken sich Rechenschaft zu geben, sich befriedigt findet, liegen die psychologischen Veranlassungen der M. sehr nahe, u. es gibt fast keine ausgebildete Form der Religion, unter deren Bekennern nicht Formen der M. u. des Mysticismus vorkämen. Die M. ist daher auch sehr vielgestaltig; sie ist bald gedankenlos träumend, bald tiefsinnig grübelnd; bald entsagend, bald genußsüchtig; bald still u. in sich gezogen, bald schwärmerisch u. gewaltthätig; bald mild u. werkthätig fromm, bald leidenschaftlich u. verfolgungssüchtig, u. so wie es zwischen ihr u. der gemüthlichen u. innigen Hingabe an Gott leise Übergänge gibt, so können sich mit ihr auch bald gefühlsselige, bald selbstquälerische Phantasien u. Wahnvorstellungen u. in der Theurgie u. Magie die Meinung einer wunderthätigen Macht über die Kräfte der Natur verbinden. Während die Alten mit dem Worte Mystes zunächst denjenigen bezeichneten, welcher in gewisse geheimnißvolle religiöse Gebräuche (Mysterien, s.d.) eingeweiht war, nimmt der moderne Sprachgebrauch das Wort M. vorherrschend in der Bedeutung einer Verirrung des religiösen Gefühls u. des Strebens nach religiöser Erkenntniß. Ein uralter Sitz der M. ist der phantasiereiche u. sinnliche Orient; die schriftlichen Denkmale der indischen u. altpersischen Religionen, sowie die Philosophie u. Dichtkunst dieser Völker sind reich an mystischen Lehren u. Ansichten, u. Beispiele einer ausschweifenden, oft im höchsten Grade selbstquälerischen Askese sind in Indien bei den Fakiren, Yogis u. Sanjassis (Büßende) nicht selten. (Vgl. Bochinger, La vie contemplative, ascétique et monastique chez les Indous, Strasb. 1831). Auch auf dem Boden des Islam sind viele mystische Richtungen entstanden, s. Ssufismus; Proben aus der[615] pantheistischen M. der persischen u. arabischen Philosophen u. Dichter s. in Tholuck, Blüthensammlung aus der orientalischen M., Berl. 1825. Der sinnlich heitere u. klare Volksgeist der alten Griechen u. der praktisch verständige, thatkräftige Geist der Römer waren nicht darauf angelegt, der M. einen weitverbreiteten Einfluß zu verschaffen, obwohl Orakel u. Augurien, geheimnißvolle Gebräuche u. Symbole zum Theil abgeschlossener religiöser Gesellschaften, sammt der allegorischen Auslegung der Mythen der Volksreligion auch bei ihnen mystische Elemente enthielten (s. Orpheus, Orphiker). Auf dem Gebiete des antiken Heidenthums bildete sich unter dem Einflusse orientalischer Anschauungen die Mystik erst durch die Neuplatoniker (s.d.) aus, als die Culturelemente des antiken Lebens mit dem Christenthum in einen Kampf geriethen. Dem Offenbarungsbegriff des Christenthums stellten diese Philosophen, unter ihnen zuerst Plotinos (s.d.), eine unmittelbare Anschauung des Göttlichen gegenüber, welche dem Menschen durch Entrückung aus der Sphäre des empirischen Bewußtseins (Ekstasis) zu Theil werde, u. bezeichneten als das höchste Ziel des geistigen Lebens auch in sittlicher Beziehung eine die Schranken des persönlichen Bewußtseins vernichtende Wiederaufnahme u. Versenkung in die Tiefen der Gottheit; womit sich bei den späteren Neuplatonikern die Behauptung der Möglichkeit verband, diese Vereinigung durch äußere. Handlungen, durch Anwendung angeblich aus uralter Zeit überlieferter geheimnißvoller Formeln u. Ceremonien herbeizuführen (Theurgie). Nicht blos durch den Einfluß orientalischer u. neuplatonischer Vorstellungsweisen, sondern auch durch die Erhöhung u. Steigerung des religiösen Gefühls, welche die Christen sich in einem unmittelbaren Verhältniß zu Christus als dem Sohne Gottes sich denken ließ, kam die M. in die Christliche Kirche. Schon die Allegoriker des 3. Jahrh., namentlich Origenes (s.d.), sprachen nach dem Vorgange mancher jüdischen Schriftausleger von einem mystischen Sinne der heiligen Schrift; während um dieselbe Zeit die Askese u. das aufkommende Mönchswesen mit seiner Tendenz nach Erhebung über die Bedürfnisse der sinnlichen Natur die Praktische Seite dieser mystischen Richtung darstellt. In einer Art von systematischer Form erscheint im 5. Jahrh. die christliche M. (Mystische Theologie) in den dem Dionysius Areopagita (s.d.) fälschlich beigelegten Schriften. Die Quelle der mystischen Erkenntniß ist in diesen Schriften nicht wie bei den Neuplatonikern eine vom Menschen ausgehende Erhebung der Seele zu Gott u. Vereinigung mit Gott, sondern die göttliche Gnade, eine geheimnißvolle u. unmittelbare Einwirkung Gottes; daher die Kirche die M. als die Erkenntniß Gottes u. den Umgang mit Gott aus der erleuchtenden Gnadenwirkung von dem historisch überlieferten Glauben (der Pistis) u. der speculativen Erkenntniß (der Gnosis) unterschied. Diese Schriften des sogenannten Dionysius Areopagita erhielten besonders seit dem 12. Jahrh., namentlich durch Hugo u. Richard a S. Victore (s.d.) Verbreitung u. Einfluß, u. durch das 13. bis 15. Jahrh. hindurch zieht sich der Mysticismus als Gegensatz der Scholastik, welche in der trocknen, verstandesmäßigen, oft unfruchtbar spitzfindigen Form, in welcher sie den Inhalt des christlichen Glaubens behandelte, den Bedürfnissen des religiösen Gefühls u. der praktischen Frömmigkeit nicht entsprach. Unter die vornehmsten mystischen Theologen der Lateinischen Kirche dieser Zeit gehören Bernhard von Clairvaux, Johann von Fidanza (Bonaventura), Gerson, Tauler, Hermann von Fritzlar, Heinrich Suso, Eckard, Heinrich von Nördlingen, Thomas a Kempis u.s.w., Männer, die zum großen Theil ohne Überspannung u. schädliche Schwärmerei im Gegensatze zu der unerquicklichen Dialektik der kirchlichen Dogmatik das Hauptgewicht auf innige Hingabe des Gemüths an Gott u. werkthätige Liebe gegen die Menschen legten, durch ihre Predigten u. Schriften großen u. wohlthätigen Einfluß auf das Volk ausübten u. der Reformation des 16. Jahrh. den Boden bereiteten. Die Reformatoren, insofern ihr Streben auf eine Geltendmachung der praktischen Frömmigkeit gerichtet war, standen dem Mysticismus des Mittelalters weniger scharf gegenüber, als der Scholastik, obwohl sie frühzeitig durch die Ausschreitungen der Wiedertäufer, Schwenkfeldianer u. anderer sectirerischer Erscheinungen vor den möglichen Verirrungen der M. gewarnt wurden. Überhaupt führte im Zeitalter der Reformation die allgemeine Aufregung der Gemüther u. der unbefriedigte Drang nach tieferer Erkenntniß der Welt u. Gottes auch auf den Gebieten der Wissenschaft zu mancherlei mystischen Träumereien, die sich vom 15. bis zu Anfang des 17. Jahrh. erhielten u. sich theils auf die jüdische Kabbala (s.d.), theils auf die angeblichen Schriften des Hermes Trismegistus, theils auf unmittelbare Offenbarungen beriefen. Repräsentanten dieses Gährungsprocesses, in welchem theosophische Einbildungen mit dem Glauben an Alchemie u. Astrologie, speculativer Tiefsinn mit Phantasterei, religiöse Schwärmerei mit den rohen Anfängen einer Naturphilosophie, reformatorische Gedanken mit dem sinnlosesten Aberglauben bunt durcheinander laufen, sind u.a. Franc. Patritius, Theophrastus Paracelsus, Joh. Bapt. u. Frz. Mercurius van Helmont, Valent. Weigel, E. Stiefel, Jac. Böhme (s.d. a.). Der Verbreitung der M. war in Deutschland namentlich auch die mit den Leiden des Dreißigjährigen Kriegs verbundene geistige Ermattung günstig. Gegen Ende des 17. Jahrh. trat innerhalb der Französisch-katholischen Kirche in dem Quietismus (s.d.) die M. als eine Reaction gegen den Mechanismus einer blos äußerlichen Gottesverehrung auf, wie in ähnlicher Weise in Deutschland seit Spener (s.d.) der oft an die Grenze der M. streifende Pietismus im Gegensatze zu der starren kirchlichen Dogmatik sich ausbreitete. Sehr fruchtbar war auch England an mystischen Secten, zu denen die Quäker, Antinomer, Sabbatarier, Familisten, Engelsbrüder, Inspirirten (s.d. a.) u.a. gehörten, die sich zum Theil, wie z.B. in den Shakers (s.d.), nach den Vereinigten Staaten von Nordamerika verpflanzt haben. Zu den bedeutenderen Mystikern des 18. Jahrh. gehören Em. von Swedenborg, auf den die sogenannte Neue Kirche ihren Ursprung zurückführt, der Graf von Zinzendorf, Stifter der Herrnhutschen Brüdergemeinde, Heinrich Jung genannt Stilling, der Marquis von St. Martin. Gegen Ende des 18. u. in den ersten Jahrzehenden des 19. Jahrh. machte sich den Wirkungen der Aufklärungsperiode, dem nüchternen Kriticismus der Kant'schen Philosophie u. der wachsenden Unkirchlichkeit des Zeitalters gegenüber theils in der Poesie u. Philosophie vielfach ein mystisches Element geltend, welches eines von den [616] Merkmalen ist, um deren willen man diese geistige Richtung in neuerer Zeit mit dem Namen der Romantik bezeichnet hat; theils bildeten sich, wie früher bei den Württembergischen Separatisten, in Conventikeln u. einzelnen Gemeinden zu Elberfeld, Barmen, im Wupperthal etc. mystische Vereine, die sich zur Verbreitung ihrer Ansichten unter andern auch namentlich der sogenannten Tractätchen (s.d.) bedienten. An dem Streite zwischen Rationalismus u. Supernaturalismus betheiligte sich die M. nur wenig; sie leugnet mit dem letzteren die Hinlänglichkeit der natürlichen Kräfte zur Erkenntniß göttlicher Dinge u. religiöser Lebensführung u. hält dazu eine göttliche Erleuchtung für nöthig; sie behauptet aber zugleich mit dem ersteren, daß dazu eine geoffenbarte Lehre nicht nöthig sei, sondern daß eine fortgesetzte innere Erleuchtung des Individuums die objective Offenbarung ersetzen u. ergänzen könne. Insofern alle Religion u. alle Philosophie zuletzt irgendwo auf etwas Geheimnißvolles, nicht weiter zu Erklärendes, also ein Mysterium, stößt, könnte es scheinen, als sei die Mystik auch für das nüchternste Denken unvermeidlich; der Unterschied besteht aber darin, ob man die Grenze des menschlichen Wissens u. somit das Mysterium als solches anerkennt, od. dasselbe als durch irgend eine wunderbare innere od. äußere Erleuchtung für gelöst hält. Bleibt die M. bei dieser Zuversicht als individueller Überzeugung od. Lehrmeinung stehen, so ist sie theoretische M. u. als solche unschädlich; führt sie dagegen zu Hochmuth, Verachtung u. Verfolgung Andersdenkender, Vernachlässigung der Pflichten des thätigen Lebens u., wie nicht selten der Fall ist, auf dem Umwege geistiger Entzückungen zu groben, sinnlichen, namentlich geschlechtlichen Verirrungen, so zeigen sich praktische Folgen, die auf den Werth ihres. theoretischen Gehaltes einen Rückschluß gestatten. Im Sprachgebrauche des gewöhnlichen Lebens nennt man ohne strenge Einschränkung auf das religiöse Leben mystisch häufig ganz allgemein das Geheimnißvolle, Räthselhafte, dem gewöhnlichen Verstande Unfaßbare, den gewohnten Gedanken- u. Erfahrungskreis Überschreitende. Vgl. Lobeck, Aglaophamus s. de theologiae mysticae Graecorum causis, Königsb. 1829, 2 Bde.; Creuzer, Symbolik u. Mythologie der alten Völker, fortgesetzt von Mone, 3. Aufl., Lpz. u. Darmst. 1837–44, 4 Bde.; Schmid, Der Mysticismus des Mittelalters, Jena 1824; Görres, Die christliche Mystik, Regensb. 1836 f., 4 Bde.; Helfferich, Die christliche M. in ihrer Entwickelung u. ihren Denkmalen, Hamb. 1842, 2 Thle.; Noack, Die christliche M., Königsb. 1853, 2 Bde.; Deutsche Mystiker des 14. Jahrh., herausgegeben von Pfeiffer, Lpz. 1845; Carriere, Die philosophische Weltanschauung der Reformationszeit, Stuttg. u. Tübing. 1847; Ewald, Briefe über die alte M. u. den neuern Mysticismus, Lpz. 1822; Borger, De Mysticismo, Leyd. 1821 (deutsch von Stange, Altona 1826; Anhang dazu, ebd. 1827); Hudtwalcker, Über den Einfluß des sogen. Mysticismus auf das Überhandnehmen der Geisteskrankheiten u. des Selbstmordes, Hamb. 1827; von Cölln, Historische Beiträge zur Erörterung der Begriffe Pietismus, Mysticismus etc., Halberst. 1830; Heinroth, Geschichte u. Kritik des Mysticismus, Lpz. 1830; Derselbe, Über die Quellen des Mysticismus, Bremen 1830; Noack, Die christliche M., Königsb. 1853.


Pierer's Lexicon. 1857–1865.

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