Piëtismus

Piëtismus

Piëtismus (v. lat.), eigentlich Frömmigkeit, Gottseligkeit. Jedoch kommt der Name P. nur als Parteiname zweimal in der Protestantischen Kirche vor, einmal zu Ende des 17. Jahrh. u. dann in neuester Zeit. Beide haben nur die Ausbildung einzelner Dogmen, nämlich der von der Sünde u. der Gnade in Christo gemein, aber verschieden sind sie theils in ihren Gegensätzen, denn der ältere P. stand gegen die kirchliche Orthodoxie, der neuere gegen die rationalistische Auffassung der christlichen Lehre; theils in ihren beabsichtigten Folgen, denn der ältere wollte der Schultheologie u. Symbolgläubigkeit gegenüber auf dem Grunde fleißiger Bibellectüre ein praktisches Christenthum erringen; der neue aber macht die Seligkeit von dem Dogma u. dem Symbol abhängig. A) Der ältere P. Der Begründer desselben war Jakob Spener (s.d.). In Frankfurt a. M., wo er keit 1666 Senior des Ministeriums war, hielt er, gegenüber den unfruchtbaren dogmatischen u. polemischen Predigten der lutherischen Geistlichen, seit 1670 Andachtsstunden in seinem Hause (Collegia pietatis), wo bes. die Heilige Schrift praktisch ausgelegt wurde. Weil Spener sich nachtheilig über den tiefen Stand des Kirchenwesens aussprach u. durch seine, bald weit verbreiteten Collegia den Predigern ihre Zuhörer entzog, reizte er die streng orthodoxen Theologen u. Prediger, die ihm u. seinen Anhängern den Namen Pietisten, wegen der Art, wie sie im äußeren Leben ihre Frömmigkeit zeigten, beilegten. Er vertheidigte sich nicht nur ohne Leidenschaft gegen, die ihm gemachten Vorwürfe, sondern, um kein Ärgerniß durch seine Collegia pietatis zu geben, verlegte er dieselben aus dem Hause in die Kirche. Als Spener 1686 nach Dresden kam, hielt er seine Collegia fort, aber da die Leipziger Theologen ihn, weil er Luthers Lehre für nicht praktisch genug erklärte u. die Symbolischen Bücher nicht über die Bibel setzte, der Ketzerei beschuldigten, wurden die Collegia in Leipzig, wo sie bes. durch eine den 18. Juli 1687 gegründete Gesellschaft (Collegium philobiblicum) großen Beifall gefunden hatten, untersagt. Auch in Dresden mußten endlich die Collegia eingestellt werden, nachdem sie seit Speners Weggang nach Berlin (1691) allerdings nicht nur dem. kirchlichen Leben großen Eintrag zu thun, sondern mehrfach in Schwärmerei auszuarten angefangen hatten. Früh schon war Halle der Hauptsitz der Pietisten (daher sie auch Hallenser genannt wurden) geworden u. es wurde nun auch der Sitz der Pietistischen Streitigkeiten mit den Orthodoxen, am heftigsten nach Speners Tode (1705). Die Behauptungen der Pietisten in diesem Streite waren: dem Christen geziemt es, mehr fromm als gelehrt zu sein, zur Frömmigkeit führt mehr als der blose Cultus, bes. wirksam dazu ist die häusliche Andacht; die Bekehrung des Menschen (Wiedergeburt) geschieht nicht nach u. nach, sondern durch einen plötzlichen Durchbruch der göttlichen Gnade, sie ist also mehr übernatürliche Wirkung u. eine Erleuchtung des Verstandes braucht nicht vorherzugehen; gute Werke sind nöthig zur Seligkeit; nur Wiedergeborne können wahre Einsicht in die Theologie haben u. das Predigeramt würdig verwalten. Ihre Moral näherte sich der Ascetik u. verwarf alle Ergötzungen u. Vergnügungen des Lebens, selbst auf öffentliches Verbot des Tanzes trug Spener an. Indem die Pietisten in Berufung auf die Offenbarung Johannis eine glänzende Zukunft der Kirche durch den Sturz des Papstthums u. eine allgemeine Judenbekehrung hofften, wurden sie Chiliasten u. Schwärmer. Unter den kirchlichen Anstalten tadelten sie bes. die Privatbeichte, die Absolution u. das Beichtgeld. Auch der Terministische Streit (s.d.) über das Ziel der göttlichen Gnade ging aus den Pietistischen Streitigkeiten hervor. Zu den Anhängern Speners gehörten in Halle A. H. Francke, Joach. Lange, Paul Anton, auch (früher) Thomasius, in Berlin Kaspar Schade u. And. Die Pietistischen Streitigkeiten wurden bald durch den Einfluß der Wolfschen Philosophie beseitigt, u. der P. verlor an reger Thätigkeit, als ihn die Gegner nicht mehr bekämpften. Obschon der Spenersche P. die Wissenschaft nicht förderte u. die ganze Religion oft zu einem äußeren Werkdienst machte, so hat er doch in den Häusern u. in vielen Gemüthern einen edeln religiösen Sinn genährt u. dem scholastischen u. polemischen Geist erfolgreich entgegengearbeitet. B) Der neuere od. moderne P. Dieser ganz uneigentlich so genannte P. hat seinen Grund in der Opposition der Orthodoxie gegen den, seit der Mitte des 18. Jahrh. bedeutend hervortretenden Rationalismus, welcher das kirchliche System bestritt. Diese Opposition wurde im 19. Jahrh. durch viele mitwirkende Ursachen erfolgreich. Zunächst war es die politische Richtung, bes. seit 1813 in den Befreiungskriegen, welche eine gewisse religiöse Begeisterung hervorgerufen u. in die Kreise der gelehrten Jugend gebracht hatte, wo man jenes religiöse Element nicht nur in Studentenverbindungen nährte, sondern auch mit einer gewissen Schwärmerei den Vernunftglauben bekämpfte. Dazu hatte Klaus Harms 1817 das Zeichen gegeben, u. bald gab es Conventikel u. Tractätchen, um auch auf die Menge zu wirken. Diese Richtung wurde auch von den Regierungen begünstigt, theils um so eine Ableitung für politische Fragen zu erhalten, theils weil man glaubte, der Rationalismus erzeuge u. nähre die Keime der Revolution. Dazu kam in der Literatur die Gründung der Romantischen Schule, welche zu der katholisirenden Tendenz des Mittelalters zurückstrebte, u. das gleichzeitige Bestreben, sich in die Geheimnisse der Natur u. des Geisterreichs zu versenken. Aus diesen Richtungen, wozu auch die Philosophie, theils mit wahren, theils mit vorgegebenen Bestrebungen den Kirchenglauben zu stützen, kam, hat sich eben jene religiöse Anschauung gebildet, die sich seit 1840 immer mehr mit der lutherischen Orthodoxie verband u. welche man deshalb den orthodoxen P. nennt. Eigenthümlich ist demselben, mit dem älteren P., die [127] Ausbildung einzelner Lehren des Christenthums zu Lieblingsdogmen, nämlich derer von der Sünde u. der gänzlichen Verderben des Menschen u. des ganzen Geschlechts u. von der alleinigen Rettung durch die Gnade Gottes in Christo u. durch dessen Opfertod. Die Schrifterklärung des P. bewegt sich unter vielfacher Benutzung alttestamentlicher Stellen gern in Allegorien. Außerdem tritt derselbe der Kritik, welche einzelne kanonische Bücher od. Theile derselben als unecht bezeichnet, entschieden entgegen. Der Haß der Vernunft ist dem P. mit dem Mysticismus gemein, u. daher kommt es mit, daß man die Begriffe des P. u. Mysticismus im gemeinen Leben oft verwechselt. Die Art, wie der P. auch im Äußeren eine ascetische Strenge zeigte u. unter Absonderung von den Andern besondere Kreise zu bilden strebte u. auf kirchliche Institutionen u. gute Werke einen großen Werth legte, war die Veranlassung, daß man seine Anhänger mit den Pharisäern des Judenthums verglichen hat, bes. weil mehrfache Enthüllungen bei Manchen einen wesentlichen Unterschied in Schein u. Wesen ihres Glaubens u. Lebens bekundete. Als Mittel zu seiner Verbreitung u. Befestigung braucht der P. die Conventikel (s.d.), ferner die Tractätchen, die Missionsstunden, wo man außer der Bekehrung der fremden Heiden sein Augenmerk auf alle Nichtpietisten richtet, die Conferenzen Gleichgesinnter, selbst die Studentenverbindung des Wingolf (s.d.) etc. Das Hauptorgan des P. ist seit 1827 die Evangelische Kirchenzeitung. Der P. war fortwährend von Regierungen, bes. in Preußen, begünstigt worden, u. außer in u. um die Hauptstadt war es bes. das Wupperthal, wo er in seiner höchsten Blüthe stand u. noch steht. Aber er schadete sich hier selbst eine Zeit lang durch die schneidende Opposition gegen die von dem König Friedrich Wilhelm III. gewünschte Union u. Agende, bes. in Schlesien, u. seit 1858 ist in Preußen eine Reaction gegen diesen P. eingetreten, s. u. Protestantische Kirche. Aber auch in Sachsen u.a. deutschen Ländern hat der P. seine Anhänger gefunden, im Königreich Sachsen waren es bes. die Muldenthäler, die vor 1830 auch von oben begünstigt wurden, nachdem aber diese Begünstigung aufgehört hatte, über Bedrückungen klagten u. mit Andern sich von dem berüchtigten Stephan (s.d.) berücken ließen u. nach Amerika auswanderten. Damit hingen die pietistischen Regungen in einem kleinen Theile des Herzogthums Altenburg zusammen, wo die wenigen Pietisten sich mit ihren zwei pietistischen Seelsorgern den Stephanianern anschlossen. (In dieser Sache erschien das seiner Zeit vielbesprochene Altenburger Consistorialrescript vom 13. Nov. 1838). In Württemberg fand schon Spener u. Francke eine rege Theilnahme u. viele Anhänger, u. jetzt noch ist der P. dort weit verbreitet; man unterscheidet dort alte Pietisten mit kirchlicher Lehre, bes. unter Anschluß an den alten Bengel, mit regelmäßiger Theilnahme am Gottesdienste u. bes. mit praktischer Tendenz, doch hatten sie auch besondere Versammlungen; die Michelianer (s.d.) mit einer theosophischen; der Böhmischen verwandten Tendenz, u. die Pregizerianer (s.d.) mit besonderer Betonung der Rechtfertigungslehre. Hierher gehören ferner. das Auftreten der Margarethe Wildenspruch (s.d.) in der Schweiz, die Erscheinungen in Königsberg unter den Geistlichen Ebel u. Diestel u. And. (s. u. Protestantische Kirche). Trotz dieser Auswüchse hat der P. dadurch wohlthätig gewirkt, daß er auf dem Gebiete christlicher Vereinsthätigkeit manches Gute zu Stande gebracht, daß er die Kirche, ihre Stellung u. ihren Einfluß zu heben gesucht, daß er die nüchterne rationalistische Verflachung siegreich bekämpft, daß er zu manchen wissenschaftlichen Forschungen Veranlassung gegeben u. der Unentschiedenheit des älteren Supernaturalismus ein Ende gemacht, wie überhaupt das innere religiöse Leben vielfach angeregt hat. Verwandt sind den deutschen Pietisten die Momiers (s.d.) in der Schweiz u. die Methodisten (s.d.) in England. Über den älteren P. vgl. sämmtliche Spenersche Schriften (s. u. Spener); Buddeus, Wahrheit u. gründliche Erzählung, 1710; über den neueren P.: Bretschneider, Die Grundlage des P., Lpz. 1833; Märklin, Darstellung u. Kritik des modernen P., Stuttg. 1839, Dorner, Hamb. 1840; Nanz, Der P. in Württemberg, 1841.


Pierer's Lexicon. 1857–1865.

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