Schleiermacher

Schleiermacher

Schleiermacher, 1) Friedr. Daniel Ernst, geb. 21. Novbr. 1768 in Breslau, wo sein Vater als reformirter. Feldprediger stand, besuchte seit 1783, das Gymnasium der Brüdergemeinde in Niesky u. seit 1785 das Seminar derselben in Barby u. studirte, seit, 1787 auf der Universität in Halle Theologie. Im Jahr 1790 wurde er Hauslehrer bei dem Grafen Dohna-Schlobitten in Preußen u. trat nach Auflösung dieses Verhältnisses in das unter Gedike's Leitung stehende Seminar für Gelehrte Schulen in Berlin ein. Im Jahr 1794 wurde er Hülfsprediger in Landsberg an der Warthe u. 1796 Prediger an der Charite u. dem Invaliden-Hause in Berlin. Seine ersten literarischen Arbeiten waren hier Übersetzungen eines Theils der Predigten Blair- u. Fawcetts (Berl. 1798, 2 Bde.). Im Jahr 1801 wurde er Hofprediger in Stolpe, welche Stelle er 1804 mit der eines Universitätspredigers u. Professors der Theologie in Halle vertauschte. In dieser Zeit hatte sich S-s geistige Richtung im wesentlichen entschieden; sie entwickelte u. befestigte sich unter dem doppelten Einflüsse eines tiefen u. lebendigen religiösen Bedürfnisses u. der in der Form der Schellingschen Identitätsphilosophie sich darstellenden philosophischen Speculation. Die Art, wie er dem ersteren vermittelst der letzteren einen Ausdruck zu geben suchte, charakterisiren seine berühmten, zuerst anonym erschienenen Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern (Berl. 1799, 4. Aufl. 1846); ebenso gehören hierher die Monologen (ebd. 1800, neue Aufl. 1846). Auf Veranlassung von Dav. Friedländers Sendschreiben jüdischer Hausväter an Teller schrieb er die Briefe eines Predigers außerhalb Berlin (ebd. 1800). Die vertraute Freundschaft mit Friedrich Schlegel veranlaßte ihn die Vertrauten Briefe über Schlegels Lucinde, welche ihm später mancherlei Mißdeutungen zuzogen, in dessen Athenäum anonym erscheinen zu lassen (bes. gedruckt Berl. 1801, mit einem Vorwort von Gutzkow wieder herausgeg. Hamb. 1835). Mit Schlegel vereinigte er sich auch zur Übersetzung des Plato, welche er aber allein fortführte, u. welche, obwohl nicht ganz vollendet, nicht nur durch die Kunst der Übertragung, sondern auch durch die Einleitungen zu den platonischen Dialogen für das Studium der einzelnen Philosophie epochemachend geworden ist (Berl. 1804–10. 5 Bde., 2. Aufl. 1817–28, 6 Bde., u. Aufl. 1855 f.). Kurz vor seiner Übersiedelung nach Halle war seine Kritik aller bisherigen Sittenlehre erschienen (Berl. 1803, 2. Aufl. 1834), in welcher er das Ideal der wissenschaftlichen Darstellung der Ethik zu entwerfen u. die größere od. geringere Entfernung der bisherigen ethischen Systeme von demselben mit seiner Dialektik darzulegen unternahm u. an welche sich die später in den Denkschriften der Berliner Akademie erschienenen Abhandlungen über die wissenschaftliche Behandlung des Tugendbegriffes, des Pflichtbegriffes, den Begriff des Erlaubten, den Unterschied zwischen Naturgesetz u. Sittengesetz, den Begriff des höchsten Gutes anschlössen. Neben seiner Thätigkeit als philosophischer Schriftsteller u. akademischer Lehrer wirkte S. auch als Kanzelredner; schon während seines Aufenthaltes in Stolpe, hatte er die erste Sammlung seiner Predigten (Berl. 1801, 3. Aufl. 1816) erscheinen lassen; denen außer einzelnen Predigten allmälig noch sechs Sammlungen (Berl. 1808–33. Sammlung 2–4, 2. Aufl. 1816–26) folgten; sie sind ausgezeichnet durch ihren Gedankenreichthum, durch die Vielseitigkeit u. den Ernst, mit welchem sie alle Verhältnisse des Leben vom sittlichreligiösen Gesichtspunkte auffassen, u. durch die Gediegenheit der Entwickelung, mit welcher sie auf die denkende Überzeugung des Zuhörereinzuwirken suchen. In Halle schrieb er auch die Weihnachtsfeier, 1806, 2. Aufl. Berl. 1827. Nachdem Halle dem von Napoleon gebildeten Königreich Westfalen einverleibt worden war, wurde es S. unerträglich daselbst zu bleiben; er ging 1807 nach Berlin, wurde, nachdem er in den ersten Jahren dort öffentliche Vorlesungen gehalten hatte, 1809 Pastor an der Dreifaltigkeitskirche, 1810 bei der Gründung der Universität Professor der Theologie an derselben, 1811 Mitglied der königlichen Akademie der Wissenschaften u. 1814 Secretär ihrer philosophischen, Nasse. In die ersten Jahre seine Aufenthaltes in Berlin fallen die Schrift Über den sogenannten ersten Brief des Paulus an den Timotheus (Berl. 1808), die Gelegentlichen Gedanken über Universitäten in deutschem Sinne (Berl. 1808), die, 1808 in Wolfs Museum der Alterthumswissenschaft veröffentlichte Untersuchung Herakleitos der Dunkle, wieder hergestellt aus den Trümmern seines Wertes, endlich seine Theilnahme an der 1810 von de Wette u. Lücke herausgegebenen ideologischen Zeitschrift. Später (1823–29) betheiligte er sich auch an dem von Schuderoff u. Röhr herausgegebenen Magazin von Fest- u. anderen Predigten. In Berlin hatte S. das Feld gefunden, auf welchem sich der Reichthum seiner Kräfte ganz entfalten konnte, u. in der bewunderungswürdigen Vielseitigkeit seiner nach den verschiedensten Richtungen eingreifenden Thätigkeit war er eine der bedeutendsten geistigen Größen während der ersten glänzenden Periode[227] der Berliner Universität. In der Zeit des politischen Druckes durch die französische Fremdherrschaft ließ er das muthige Vertrauen auf die Abschüttelung derselben niemals fallen u. wirkte mit warmem Patriotismus zu Erweckung u. Kräftigung derselben Gesinnung auch in Anderen; als akademischer Lehrer hielt er Vorträge über die verschiedensten theologischen u. philosophischen Wissenschaften; um den Zusammenhang u. die Zielpunkte namentlich der theologischen Studien zum Gegenstande eines lebendigen Bewußtseins zu machen, schrieb er seine Kurze Darstellung des theologischen Studiums (Berl. 1811, neue Aufl. 1830); als Prediger übte er namentlich auf den gebildeten Theil des Publicums einen überaus segensreichen Einfluß aus; den politischen Verdächtigungen, welche Heinrich Schmalz gegen den Tugendbund ausgesprochen hatte, trat er lebhaft entgegen; in Beziehung auf das kirchliche Dogma vertrat er bei Gelegenheit des Streites über die von Harms aufgestellten Thesen, namentlich gegen Ammon die Freiheit der wissenschaftlichen Prüfung u. betheiligte sich an dem preußischen Agendenstreit unter dem Namen Pacificus Sincerus durch die Schrift: Über das liturgische Recht evangelischer Landesfürsten (Götting. 1824); die Schriften der königlichen Akademie bereicherte er, abgesehen von den obengenannten, durch eine große Anzahl von Reden u. Abhandlungen, vorzugsweise über einzelne schwierige Punkte der Geschichte der antiken Philosophie. Der reifste Ausdruck seiner religiosen Überzeugungen ist das Werk: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche (Berl. 1821 f., 2 Bde., 2. Aufl. 1830 f.), welches nicht sowohl dadurch eine so tiefgreifende Bedeutung für die Gestaltung der evangelischen Dogmatik gehabt hat, daß es die Religion für das Gefühl der absoluten Abhängigkeit von Gott erklärte, sondern dadurch, daß es sich in der Auffassung u. Behandlung der christlichen Dogmen über den damals herrschenden Gegensatz zwischen Rationalismus u. Supernaturalismus zu erheben u. mit dialektischer Kunst das dem religiösen, von der philosophischen Reflexion unabhängigen Bedürfniß Wesentliche von dem Unwesentlichen auszuscheiden suchte. Das ergänzende Seitenstück zu dem christlichen Glauben ist die aus seinem Nachlasse von Jonas herausgegebene Christliche Sitte (Berl. 1837) als die der Darstellung des christlichen Glaubens parallele Construction des christlichen Lebens. S. st. am 12. Febr. 1834. Nach seinem Tode erschien S-s literarischer Nachlaß (herausgeg. von Zabel, Berl. 1835, 2 Bde.), Predigten über das Evangelium Marci u. den Brief an die Kolosser enthaltend; zugleich unternahmen seine Freunde u. Anhänger die Herausgabe seiner Werke in drei Abtheilungen, von denen die erste die Schriften zur Theologie, die zweite die Predigten, die dritte die Schriften zur Philosophie enthält. Von den hier aus S-s Papieren u. Vorlesungen veröffentlichten Werken sind aus der theologischen Abtheilung, außer der Christlichen Sitte, die Einleitung in das Neue Testament (herausgeg. von Lücke, 1846), die Hermeneutik u. Kritik mit besonderer Beziehung auf das Neue Testament (herausgeg. von Demselben, 1838), die Geschichte der christlichen Kirche (herausgeg. von Bonnell, 1840), die praktische Theologie (herausgeg. von Jul. Frerichs, 1848); aus der philosophischen Abtheilung die Dialektik (herausgeg. von Jonas, 1829), der Entwurf eines Systems der Sittenlehre (herausgeg. von Alex. Schweizer, 1837), die Lehre vom Staat (herausgeg. von Chr. A. Brandis, 1843), die Erziehungslehre (herausgeg. von E. Platz, 1849), die Vorlesungen über die Ästhetik (herausgeg. von Lommatzsch, 1842), die Geschichte der Philosophie (herausgeg. von H. Ritter, 1839), die Psychologie (herausgeg. von George, 1862), hervorzuheben. Vgl. S-s Briefwechsel, herausgeg. von W. Gast, Berl. 1852; Aus S-s Leben, in Briefen herausgeg. von Dilthey, Berl. 1858–61, 3 Bde.; Auberlen, S., ein Charakterbild, Basel 1859; K. Schwarz, S., seine Persönlichkeit u. seine Theologie, Gotha 1861; Alex. Schweizer, Darstellung der Wirksamkeit S-s als Prediger, Halle 1834. 2) Andreas August Ernst, geb. 1787 in Darmstadt, studirte 1803–5 in Gießen, Göttingen u. Paris, wurde 1808 bei der Hofbibliothek in Darmstadt angestellt, 1811 wirklicher Bibliothekar, 1821 Rath bei der Oberfinanzkammer, 1830 Geheimer Cabinetssecretär während Ludwigs II. Regierung, seit 1834 mit dem Titel Geh. Rath, trat 1848 in Ruhestand u.st. 13. August 1858 in Auerbach an der Bergstraße. Er schr.: De l'influence de l'écriture sur le langage; Mémoire suivi des Grammaires bramane et malaie, Darmst. 1835; Alphabet harmonique pour transcrire les langages asiatiques en lettres européennes, ebd. 1835; Entwurf eines Lehrplans für Gymnasien u. Realschulen, ebd. 1835; Bemerkungen über den Studienplan für die großherzoglich hessische Landesuniversität in Gießen, ebd. 1843; Bibliographisches System der gesammten Wissenschaftskunde, Braunschweig 1852, 2 Thle.


Pierer's Lexicon. 1857–1865.

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