Nostratische Sprachen

Nostratische Sprachen

Nostratisch bezeichnet eine hypothetische Makrofamilie eurasischer und afrikanischer Sprachen. Der Begriff wurde von Holger Pedersen 1903 geprägt und leitet sich vom Lateinischen nostras "aus unserem Lande, heimisch" her. In den frühen 1960er Jahren wurde die nostratische Idee von den russischen Linguisten Vladislav Illich-Svitych und Aharon Dolgopolsky wieder aufgenommen und durch intensive Sprachvergleiche mit konkretem Inhalt versehen.

Die nostratische Makrofamilie ist grün dargestellt

Inhaltsverzeichnis

Die nostratische Makrofamilie

Die genaue Zusammensetzung des Nostratischen variiert von Autor zu Autor, der gemeinsame Kernbestand ist aber Indogermanisch, Uralisch, Altaisch und Kartwelisch. Des Weiteren wird meistens das Dravidische dazugerechnet, ursprünglich auch die große Gruppe der afroasiatischen Sprachen. Manche Autoren beziehen neuerdings noch das Eskimo-Aleutische mit ein.

Die nostratische Makrofamilie nach Dolgopolsky 1998

Das Afroasiatische wird heute häufig als ein Schwesterphylum des Nostratischen aufgefasst. Das Altaische wird von den Nostratikern im umfassenden Sinne inklusive des Koreanischen und Japanischen verstanden. Neuerdings wird die elamische Sprache von manchen Forschern als eigene Komponente des Nostratischen gesehen, die nicht näher mit dem Dravidischen verwandt sei.

Ursprung und moderne Wiederbelebung

Die nostratische Hypothese wurde Anfang des 20. Jahrhunderts von dem dänischen Linguisten Holger Pedersen aufgestellt, nachdem schon vorher Verwandtschaften des Indogermanischen einerseits zum Semitischen, andererseits zum Uralischen und Altaischen vermutet worden waren. Heinrich Koppelmann schlug 1933 eine Eurasische Sprachfamilie vor, die neben dem Indogermanischen, Uralischen und Altaischen auch das Niwchische (Giljakische), Ainu und Sumerische umfassen sollte. Dabei verglich er vor allem Indoeuropäisch und Koreanisch, schloss aber Japanisch aus.

Diese Hypothesen blieben jedoch weitgehend unbeachtet, bis sie in den 1960er Jahren von Vladislav Illich-Svitych und Aharon Dolgopolsky wiederbelebt wurden. Illich-Svitych fasste Indogermanisch, Afroasiatisch, Kartwelisch, Uralisch (mit Jukagirisch), Drawidisch und Altaisch zur neuen Einheit Nostratisch zusammen. Dies wurde von Dolgopolsky im Wesentlichen bestätigt. Allerdings schloss er das Drawidische zunächst aus; das Altaische ersetzte er durch seine Untergruppen Türkisch, Mongolisch und Tungusisch. Später wurde versucht, auch die tschuktscho-kamtschadalischen (1972) und eskimo-aleutischen Sprachen (1984) hinzuzufügen. Diese Ansätze haben sich unter den Nostratikern nicht allgemein durchsetzen können. Eine neuere Tendenz geht dahin, das Afroasiatischen nicht länger als Untergruppe des Nostratischen, sondern vielmehr als seinen gleichrangigen Parallelzweig zu betrachten (siehe unten).

Grundidee und Problematik

Die indogermanische Hypothese war im 19. Jahrhundert sehr erfolgreich, und so versuchten Linguisten, das Verfahren, mit dem man die indogermanische Ursprache erschlossen hatte, bei anderen Sprachgruppen zu wiederholen. So wurden große Sprachfamilien, ähnlich der indogermanischen, nachgewiesen (z.B. Uralisch, Türkisch, Mongolisch, Tungusisch, Dravidisch und Afrosasiatisch). Man untersuchte dann die Frage, ob der Stammbaum sich noch weiter in die Vergangenheit zurückverfolgen lassen könnte und die Ursprachen einzelner Sprachfamilien wieder untereinander verwandt seien.

Dabei gibt es zwei Aspekte auseinanderzuhalten, einerseits eine faktische gemeinsame Verwandtschaft und andererseits die Möglichkeit, diese Verwandtschaft angesichts der langen Zeit der Trennung von einer gemeinsamen Ursprache (beim Nostratischen mindestens 10.000 Jahre) heute noch nachzuweisen.

Die Indizien für solch entfernte Verwandtschaften sind jedoch spärlich und teilweise zweifelhaft. So werden etwa von Allan R. Bomhard andere Lautgesetze angenommen als von Aharon Dolgopolsky, was zu ganz unterschiedlichen Wortgleichungen führt und das Vertrauen in die nostratische Hypothese natürlich schmälert. Von den meisten Linguisten wird die nostratische Hypothese deshalb auch nicht akzeptiert; sie halten es für unrealistisch, mehr als 10.000 Jahre zurückliegende Sprachverwandtschaften zu rekonstruieren.

Beziehung zur Hypothese „Eurasiatisch“

Eine zunächst teilweise konkurrierende Hypothese stellte Joseph Greenberg in Form der eurasiatischen Makrofamilie auf. Diese deckt sich insbesondere beim Indogermanischen, Uralischen und Altaischen ("Euraltaischen") mit dem Nostratischen, schließt jedoch das Afroasiatische, Dravidische und Kartwelische aus. Da heute meist das Afroasiatische als ein Parallelzweig des Nostratischen (und nicht als eine Untergruppe) angesehen wird, haben sich das nostratische und eurasiatische Modell inhaltlich (aber nicht methodisch) sehr aneinander angeglichen. Die größten Unterschiede bestehen im Kartwelischen und Dravidischen, an beiden Familien halten die Nostratiker in der Regel fest.

Der scheinbare Widerspruch rührte von der Definition des Nostratischen als "mit dem Indoeuropäischen verwandt" her. Da die Nostratiker etablierte Methoden der vergleichenden Sprachwissenschaften anwandten (und anwenden), kamen für sie zunächst nur verfügbare Protosprachen für Vergleiche in Frage. Dadurch waren Sprachfamilien mit noch nicht rekonstruierten Protosprachen ausgeschlossen, also auch das von Pedersen vorgeschlagene Eskimo (Eskimo-Aleut) sowie dem Niwchischen und Chukcho-Kamschadkisch.

Heute sehen die meisten Nostratiker Eurasiatisch als wichtigen Teil des Nostratischen an, was sich im Aufbau der "Tower of Babel"-Datenbank ebenso widerspiegelt wie in Bomhards Klassifikation des Nostratischen:

  • Nostratisch
    • Eurasiatisch (mit Indogermanisch, Uralisch-Jukagirisch, Altaisch, Koreanisch-Japanisch-Ainu, Nivchisch, Tschuktscho-Kamtschadalisch, Eskimo-Aleutisch)
    • Kartwelisch
    • Elamo-Dravidisch
    • Afroasiatisch (früheste Abspaltung vom Nostratischen)

Beispiel einer nostratischen Wortgleichung

Im folgenden sei eine Wortgleichung als Beispiel aus Dolgopolsky 1998 auszugsweise und in vereinfachter phonetischer Notation zitiert. Als nostratische Wurzel Nr. 34 wird *tap- „ein Ziel treffen“ behandelt. Dazu ergeben sich folgende Parallelen:

  • Indogermanisch *top- „auf etwas treffen; Ort, wo man hingelangt“ > griechisch tópos „Ort“, top-azo „ziele hin, vermute, errate“; lettisch pa-tapt „hingelangen“, litauisch pri-tapti „antreffen, erfahren“
  • Afroasiatisch *tbb „zu einer Information gelangen, erfahren“ > syrisch tab „Information erhalten“, ähnlich arabisch.
  • Uralisch *tap „finden“ > finnisch tapaan „finden, treffen“
  • Altaisch *t'ap „ein Ziel treffen“
    • Türkisch *tupa „zu einer Einigung gelangen“
    • Mongolisch *taba „raten, ein Rätsel lösen“
  • Dravidisch *tapp „vereinbarter Zeitpunkt“ > tamilisch tappu „erwarteter Moment, vereinbarter Zeitpunkt“, malayalam tappu „passende Zeit, gute Gelegenheit“.

Schon dieses eine Beispiel zeigt die ganze Problematik nostratischer Wortgleichungen, da man offensichtlich mit weiten Bedeutungsfeldern und großzügiger phonetischer Übereinstimmung arbeiten muss, um entsprechende Parallelen zu finden. Dabei ist es nicht unwahrscheinlich, dass sich eine Variante der vermuteten Wurzel *tap mit einer ähnlichen Bedeutung in den vielen hundert Sprachen der Untergruppen des Nostratischen finden lässt.

Siehe auch

Literatur

  • Bomhard, Allan R. and John C. Kerns: The Nostratic Macrofamily. A Study in Distant Linguistic Relationship. Mouton De Gruyter. Berlin/New York 1994.
  • Dolgopolsky, Aharon: The Nostratic Macrofamily and Linguistic Palaeontology. The McDonald Institute for Archaeological Research, Oxford 1998.
  • Greenberg, Joseph H.: Indo-European and its Closest Relatives. The Eurasiatic Language Family. Vol. 1 Grammar. Vol. 2 Lexicon. Stanford University Press, Stanford (Calif.) 2000 und 2002.
  • Koppelmann, Heinrich: Die Eurasische Sprachfamilie. Carl Winters Universitätsbuchhandlung, Heidelberg 1933.
  • Pedersen, Holger: Die indogermanisch-semitische Hypothese und die indogermanische Lautlehre. Indogermanische Forschungen 22, 1908.
  • Pedersen, Holger: Zur Frage der Urverwandtschaft des Indoeuropäischen mit dem Finno-Ugrischen. MSFO 67, 1933.
  • Renfrew, Colin and Daniel Nettle (Hrsg.): Nostratic: Examining a Linguistic Macrofamily. The McDonald Institute for Archaeological Research, Oxford 1999.
    (Das Buch ist eine Sammlung von ausführlichen Stellungnahmen - von zustimmend über kritisch bis ablehnend - zu Dolgopolsky The Nostratic Macrofamily von 1998. Autoren sind u.a. Colin Renfrew, Allan R. Bomhard, Vitaly Shevoroshkin, Christopher Ehret, Sergei Starostin, R. L. Trask, Lyle Campbell, Alexis M. Ramer, Bernard Comrie, David Appleyard, Rainer Voigt, Alan S. Kaye, Kamil V. Zvelebil und Alexander Vovin).

Periodikum

  • Mother Tongue: Journal of the Association for the Study of Language in Prehistory (ASLIP). Seit 1995.

Weblinks


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