Oikeiosis

Oikeiosis

Oikeiosis (οἰκείωσις) von griech. oikeioun (zu eigen machen), dt. etwa „Zueignung“ oder Selbsterhaltungstrieb, ist ein Grundbegriff der Philosophie der antiken Philosophenschule der Stoa.

Oikeiosis wird gemeinhin verstanden als ein „Prozeß, durch den ein Lebewesen schrittweise seiner selbst inne und dadurch mit sich selbst vertraut und einig wird“ (M. Forschner 1993, 51). Die Relation des geneigten Gerichtetseins auf sein eigenes Sein wird nicht konstituiert durch eigene Zwecksetzung oder Wahl - es ist aller Erfahrung und jedem Entschluß vorgeordnet -, sondern wird gestiftet durch die schöpferische Universalnatur" (Maximilian Forschner 1981,1995). Die Oikeiosislehre dient der Begründung der stoischen Ethik. Tugend heißt für die Stoa, mit rechter Vernunft der eigenen und der universalen Natur entsprechend zu leben. Durch ein "derartiges Leben, durch das die Menschen ... ihre artspezifische Natur erfüllen und vollenden ... (können sie) eben dadurch unter allen Wesen im Kosmos den größten Beitrag zu der besten Selbstbewahrung und Selbstgestaltung der kosmischen Natur leisten" (Chang-Uh Lee, 2002, S. 39).

Vor einigen Jahren wurde die Oikeiosislehre aus der Sicht der Soziobiologie von Robert Bees neu beleuchtet. Bees versuchte in seiner Tübinger Habilitationsschrift von 2001 nachzuweisen, dass die vorliegenden Deutungen der Oikeiosis auf einem Übersetzungsfehler beruhen: Da das Verbum oikeiousthai keine mediale, sondern eine passive Form sei, handle nicht der Mensch als Subjekt (indem er sich selbst irgendetwas zueignen würde), sondern die Natur, die für die Stoiker ein göttliches mit Vernunft begabtes Lebewesen ist. Der Mensch werde insofern von der Natur bestimmten Objekten ‚zugeeignet‘, sich selbst, seinen Nachkommen und seinen Mitmenschen: „oikeiosis ist ein angeborener Mechanismus, der eine (instinktive) Hinwendung zu etwas bewirkt, das per definitionem ‚eigen‘, d.h. der Natur angemessen ist, in dem Sinne, daß die ausgelöste Handlung der Erhaltung des Individuums und der Art nützt. Stoische Oikeiosis bezeichnet eine genetische Programmierung […] des Verhaltens, die die Anweisungen zur Liebe zu sich selbst, zu den Nachkommen und zu den Mitmenschen (daraus resultierend zum jeweiligen Streben nach deren Erhaltung) gibt. Zu unterscheiden sind drei Formen der Oikeiosis, die sich nach ihren Bezugspunkten in Egoismus und Altruismus gliedern lassen“ (S. 258). Bees kommt zu dem Ergebnis: „Die Oikeiosis beschreibt keinen Prozeß der Selbsterkenntnis, beschreibt, wenngleich Voraussetzung für das Erreichen des Telos, keine sittliche Handlung. Sie steht für eine genetische Programmierung des Verhaltens, die Auslösung von Trieben aufgrund einer pränatalen Disposition, die die göttliche Allnatur im Menschen wie in allen Lebewesen angelegt hat. In klarer Übereinstimmung mit dem Modell der modernen Soziobiologie ist durch drei Formen der Oikeiosis das Wirkungsgefüge erfaßt, in dem das Überleben von Individuum und Gesellschaft gewährleistet wird“ (S. 338). Das Ziel, so Bees, ist die Selbsterhaltung des Kosmos, der für die Stoiker ein Gott ist, der durch das Überleben seiner Geschöpfe selbst überlebt (vgl. bsd. S. 166ff., 172, 237). Der These der Arbeit von Bees stand bereits vor ihrer Veröffentlichung (2004) die These der Arbeit von Chang-Uh Lee (2002) entgegen, die Oikeiosis sowohl transitiv als auch intransitiv, d. h. sowohl im Sinne einer Ausrichtung der Lebewesen durch die Allnatur mit dem Ziel der Selbsterhaltung und Selbstentfaltung des Kosmos als auch im Sinn einer Ausrichtung des Menschen zur (stufenweisen) Selbstaneignung mit dem Ziel der Selbsterhaltung und Selbstenfaltung seiner Vernunft zu verstehen. So gesehen ist sowohl die Allnatur als auch der Mensch Subjekt der Oikeiosis. Die unterschiedliche Interpretation hat Konsequenzen grundsätzlicher Art für das Verständnis der stoischen Ethik. Während "für die gesamte stoische Ethik" nach Bees gilt: "Was die Vernunft des Erwachsenen zu leisten hat, ist dem Naturtrieb seine Zustimmung zu geben" (S. 14), ist in der Sicht der Stoa nach Lee und Forschner der Mensch nach vollendeter Oikeiosis vernünftiger und selbstmächtiger "Gestalter seiner Triebe" (Diogenes Laertius VII, 86). Die These von Bees stellt bislang im Rahmen der Stoa-Forschung eine Sondermeinung dar.

Zu den wichtigsten Quellen des Oikeiosis-Konzepts gehören Schriften Ciceros (besonders De finibus bonorum et malorum), Diogenes Laertius' und Hierokles. Der Begriff traf mit Beginn der Neuzeit im Rahmen der Neurezeption der Stoa auf gesteigertes Interesse (z. B. im Rahmen aufkommender Konzepte von "Selbsterhaltung").

Weblinks

Stoicorum Veterum Fragmenta III, ed. Arnim; Fragmente 178 - 196 (Quellensammlung)

Literatur

  • Maximilian Forschner, Oikeiosis. Die stoische Theorie der Selbstaneignung, in: Stoizismus in der europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik (Hrsg. B. Neumeyr, J. Schmidt, B. Zimmermann), Berlin-New York 2008, Bd. 1, S. 169 - 192.
  • Robert Bees: Die Oikeiosislehre der Stoa. I. Rekonstruktion ihres Inhaltes (= Epistemata. Würzburger Wissenschaftliche Schriften. Reihe Philosophie, Bd. 258), 2004 (Habilitationsschrift Tübingen 2001), ISBN 3-8260-1700-5
  • Maximilian Forschner, Über das Glück des Menschen, Darmstadt 1993
  • Chang-Uh Lee, Oikeiosis. Stoische Ethik in naturphilosophischer Perspektive, Alber-Reihe Thesen Bd. 21, Freiburg/München 2002, Zugl.: Erlangen, Nürnberg, Univ. Diss., 1999, ISBN 3-495-48060-9
  • Maximilian Forschner, Die stoische Ethik. Über den Zusammenhang von Natur-, Sprach- und Moralphilosophie im altstoischen System, Stuttgart 1981, 2. Aufl. Darmstadt 1995.

Wikimedia Foundation.

Игры ⚽ Нужно сделать НИР?

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Oikeiosis — Oïkéiosis Oïkéiosis est un concept stoïcien grec ancien qui signifie appropriation de soi par soi , par laquelle l être vivant s appartiendrait, c est à dire qu il ne passerait pas à coté de lui même,et saisirait son être comme le sien propre [1] …   Wikipédia en Français

  • Oïkéiosis — est un concept stoïcien grec ancien qui signifie appropriation de soi par soi , par laquelle l être vivant s appartiendrait, c est à dire qu il ne passerait pas à côté de lui même,et saisirait son être comme le sien propre [1]. Sénèque écrivait:… …   Wikipédia en Français

  • Oikeiosis —   [griechisch »Aneignung«, »Zueignung«] die, , in der stoischen Ethik angenommener Grundtrieb des Lebewesens nach Selbsterhaltung, vermöge dessen es sich als sich selbst »zugehörig« erfährt; er ergibt sich aus der sinnlichen Selbstwahrnehmung und …   Universal-Lexikon

  • Oikeiosis — Oi|kei|o|sis [ɔy...] die; <aus gr. oikeíōsis »Aneignung«> in der stoischen (1) Ethik angenommener Grundtrieb des Lebewesens nach Selbsterhaltung …   Das große Fremdwörterbuch

  • Peripatetic school (The) — The Peripatetic school1 Robert W.Sharples THE HISTORY OF THE SCHOOL AND OF ARISTOTLE’S WRITINGS The history of Peripatetic philosophy after Aristotle falls into two phases, divided by the renewal of interest in the works we now possess after… …   History of philosophy

  • De officiis — Titelblatt einer Ausgabe von De officiis aus dem Jahre 1560 von Christopher Froschouer. De officiis (lat.: Von den Pflichten oder Vom pflichtgemäßen Handeln) ist ein philosophisches Spätwerk Marcus Tullius Ciceros. Es wurde im Jahr 44 v. Chr.… …   Deutsch Wikipedia

  • стоицизм — Основание Стои Генезис и развитие Стои     В конце IV в. до н.э., уже после основания Сада , в Афинах родилась другая школа, которой было суждено стать знаменитейшей. Основателем был Зенон, молодой семит, родившийся на острове Крит около 333 332… …   Западная философия от истоков до наших дней

  • Stoiker — Als Stoa (griech. Στοά) wird eines der wirkungsmächtigsten philosophischen Lehrgebäude in der abendländischen Geschichte bezeichnet. Tatsächlich geht der Name (griechisch στοὰ ποικίλη – „bemalte Vorhalle“) auf eine Säulenhalle auf der Agora, dem… …   Deutsch Wikipedia

  • Stoisch — Als Stoa (griech. Στοά) wird eines der wirkungsmächtigsten philosophischen Lehrgebäude in der abendländischen Geschichte bezeichnet. Tatsächlich geht der Name (griechisch στοὰ ποικίλη – „bemalte Vorhalle“) auf eine Säulenhalle auf der Agora, dem… …   Deutsch Wikipedia

  • Stoizismus — Als Stoa (griech. Στοά) wird eines der wirkungsmächtigsten philosophischen Lehrgebäude in der abendländischen Geschichte bezeichnet. Tatsächlich geht der Name (griechisch στοὰ ποικίλη – „bemalte Vorhalle“) auf eine Säulenhalle auf der Agora, dem… …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”