Panikstörung

Panikstörung
Klassifikation nach ICD-10
F41.0 Panikstörung (episodisch paroxysmale Angst)
F40.01 Agoraphobie mit Panikstörung
ICD-10 online (WHO-Version 2011)

Die Panikstörung gehört zur Gruppe der Angststörungen. Die Betroffenen leiden unter plötzlichen Angstanfällen, ohne dass objektiv gesehen eine reale Gefahr besteht. Diese Panikattacken stellen eine extreme körperliche Angstreaktion („Bereitstellungreaktion“) aus scheinbar heiterem Himmel dar, die die Betroffenen als extreme Bedrohung ihrer Gesundheit erleben. Der Körper bereitet sich mit erhöhter Adrenalin-Ausschüttung blitzschnell auf eine Kampf-/Fluchtreaktion vor.

Inhaltsverzeichnis

Vorkommen

Etwa ein bis vier Prozent der Bevölkerung erkranken im Laufe ihres Lebens an einer Panikstörung. Das Alter, in dem das geschieht, ist unterschiedlich; häufig ist der Betreffende jedoch zwischen zwanzig und Mitte dreißig. Die Angst äußert sich oft in Gedanken, plötzlich zu sterben oder der Vorstellung, verrückt zu werden.

Das Auftreten vereinzelter Panikattacken im Leben stellt an sich noch keine Erkrankung dar. Erst wenn mehrere Panikattacken im Monat auftreten und sich vermehrt eine „Angst vor der Angst“ – die sogenannte Erwartungsangst – entwickelt, diese über einen längeren Zeitraum anhält (mindestens 1 Monat) und zu Beeinträchtigungen im täglichen Leben führt, spricht man gemäß den Kriterien der Weltgesundheitsorganisation (WHO, ICD-10) von einer Panikstörung.

Die Angst davor, plötzlich eine Panikattacke zu erleben in einer Situation, der man nicht schnell entfliehen kann oder wo keine Hilfe verfügbar ist, führt häufig dazu, dass Betroffene beginnen, enge Räume, Menschenansammlungen oder weite Reisen zu vermeiden. In schweren Fällen können sie die eigene Wohnung nicht mehr allein verlassen. Dieses Vermeidungsverhalten bezeichnet man als Agoraphobie.

Etwa 3,5 Prozent (Studie von 1994) bis 4,7 Prozent (Studie von 2005) aller Menschen erkranken in ihrem Leben an einer Panikstörung. Die Störung bricht in der Regel zwischen dem 15. und 24. Lebensjahr aus, kann jedoch - insbesondere bei Frauen - auch erst im dritten oder vierten Lebensjahrzehnt ausbrechen. Frauen sind häufiger von der Störung betroffen als Männer. Wie eine Studie ergab, nimmt die Prävalenz in jüngeren Generationen zu.[1]

Symptome

Körperliche Reaktionen bei der Panikstörung sind unter anderem Atemnot, Engegefühle in der Brust, Herzrasen oder -stolpern, gelegentlich auch Herzschmerzen, Zittern, Schweißausbrüche, Taubheitsgefühle oder Kribbeln, Übelkeit und andere Beschwerden. In der Regel bessern sich die Symptome analog zum Adrenalin-Abbau nach etwa 15 bis 20 Minuten. Psychische Symptome der Panikstörung sind Schwindelgefühle, Derealisation und Depersonalisation, Angst vor Kontrollverlust, verrückt zu werden oder „auszuflippen“ und die Angst zu sterben. Allgemeine Symptome sind Hitzegefühle oder Kälteschauer mit Gänsehaut.

Diagnose nach ICD-10

Für die Diagnose einer Panikstörung nach ICD-10 (F41.0) müssen wiederholte Panikattacken vorliegen (d. h. mehr als eine). Eine Panikattacke wird definiert als einzelne Episode von intensiver Angst oder Unbehagen die abrupt beginnt, innerhalb weniger Minuten ein Maximum erreicht, mindestens einige Minuten dauert und von mindestens vier (aus einer Liste von vierzehn) Angstsymptomen begleitet wird. Mindestens ein Symptom davon muss vegetativer Art sein (Herzklopfen/-rasen, Schweißausbrüche, Zittern oder Mundtrockenheit).

Eine Panikstörung wird häufig in Zusammenhang mit einer Agoraphobie diagnostiziert und dann unter F40.01 (Agoraphobie mit Panikstörung) klassifiziert.

Differentialdiagnose

Diagnostisch abzugrenzen ist die Panikstörung von Panikattacken, die im Zusammenhang mit Phobien auftreten. Ebenfalls zu unterscheiden ist die Panikstörung von Panikattacken, die sich im Kontext einer depressiven Störung zeigen. Eine eindeutige Diagnose setzt voraus, dass innerhalb eines Monats mehrmals ein schwerer vegetativer Angstanfall erfolgt ist. Die Situationen, in denen die Angstanfälle auftreten, müssen frei von objektiven Gefahren sein. Ebenso dürfen die Angstanfälle sich nicht auf Situationen beziehen, in denen bekannterweise oder vorhersagbar Angst auftritt. Angstfreie Zeitintervalle zwischen den Panikattacken gehören ebenfalls zu den diagnostischen Leitlinien, wobei hier die häufig auftretende Angst vor der nächsten Panikattacke berücksichtigt werden muss[2].

Erklärungsmodelle

Vererbung / Disposition

Zwillingsstudien zeigen eine familiäre Häufung, wobei eine spezifische genetische Transmission des Paniksyndroms bisher nicht nachgewiesen wurde. Es wird eher davon ausgegangen, dass eine unspezifische genetische Vulnerabilität für "neurotische Störungen" vererbt wird, deren Ausformung durch Umweltfaktoren bestimmt wird. Als physiologische Disposition wird auch eine erhöhte Sensitivität der α2-adrenergen-Rezeptoren und der zentralen Chemorezeptoren.[3]

Auslöser

Die erste Panikattacke tritt oft als Folge von stressbehafteten Erlebnissen, wie dem Verlust einer nahestehenden Person, Beendigung einer wichtigen Beziehung, Arbeitsplatzverlust oder krimineller Viktimisierung auf.[4]Aversive Lernerfahrungen können zum Aufbau einer Angst vor den eigenen Angstsymptomen (auch Angstsensitivität) führen, die als bedeutender Risikofaktor für die Entwicklung einer Panikstörung gilt.[5]

Psychophysiologisches Modell des Paniksyndroms

Verschiedene Forscher entwickelten psychologische, psychophysiologische bzw. kognitive Modelle zur Erklärung des Paniksyndroms. Panik wird hier als besonders intensive Form der Angst gesehen, die im Rahmen eines "Teufelskreises" aufgeschaukelt wird[6]:

  1. Körperliche oder psychische Veränderung, z.B. Veränderung der Herzrate, Schwindel, Konzentrationsprobleme (infolge interner oder externer Stressoren, z.B. Hitze, Koffein)
  2. Wahrnehmung dieser Veränderung.
  3. Assoziation mit Gefahr (infolge von interozeptiver Konditionierung oder kognitiven Bewertungsprozessen, z.B. "Ich bekomme einen Herzinfarkt").
  4. Angst/Panik.

Die Angstreaktion geht wiederum mit körperlichen und psychischen Veränderungen einher (siehe Punkt 1), die wahrgenommen werden usw. Dadurch kommt es schnell zu einem Aufschaukelungsprozess (positiver Rückkoppelungsprozess) mit Zunahme der Panik. Dieser Kreislauf kann mehrmals durchlaufen werden und läuft in der Regel sehr schnell ab. Er kann unterbrochen werden durch

  • negative Rückkoppelungsprozesse: z.B. Habituation, Ermüdung, respiratorischer Reflex bei Hyperventilation
  • Bewältigungsstrategien: Hilfesuchendes Verhalten, Vermeidungsverhalten, flaches Atmen, Ablenkung auf externe Reize, Reattribution von Körperempfindungen

Manchmal beginnt der Prozess auch bei Punkt 2 (Wahrnehmung), z.B. wenn der Betroffene sich hinlegt und dadurch den eigenen Herzschlag besser wahrnimmt, ohne dass dieser sich verändert hat.

Behandlung

Psychotherapie

Die Panikstörung lässt sich in der Regel sehr gut psychotherapeutisch behandeln, vor allem kognitiv-verhaltenstherapeutische Behandlungsmethoden haben sich als wirksam erwiesen. Der Patient muss aufgeklärt werden, dass die Angstanfälle eigengesetzlich verlaufen und nach einiger Zeit von allein wieder abklingen – und, dass er zu keinem Zeitpunkt während der Angstattacke ernstlich gefährdet ist. Er wird nicht umfallen, nicht den Verstand verlieren, das Herz wird nicht stehen bleiben, es wird nichts Dergleichen passieren. Diese Voraussage seines Therapeuten / Arztes muss er sich während der Attacke immer wieder in Erinnerung rufen.

Das langfristige Ziel der Therapie ist, dass Betroffene wieder lernen, ihrem Körper zu vertrauen. Sie lernen, die Aufmerksamkeit weg von der ständigen Selbstbeobachtung auf äußere Ereignisse zu lenken, aber auch die Körperreaktionen nicht gleich als Anzeichen beispielsweise eines Herzinfarkts zu bewerten. Daneben lernen Betroffene, ihren Körper bewusst durch Atmung und Entspannungsverfahren zu entspannen (siehe auch Herzkohärenz). Das mit der Erwartungsangst häufig verbundene Vermeidungsverhalten wird in diesem Rahmen mit einer sogenannten Expositions- bzw. Konfrontationstherapie in der Regel erfolgreich behandelt.

Medikamentöse Therapie

Parallel zur Verhaltenstherapie wird meistens ein Antidepressivum verschrieben, da es die übermäßige Angst unterdrückt, bis der Patient in der Lage ist, die Panikstörung als solche zu erkennen und der Angst mit psychotherapeutischen Methoden effektiv zu begegnen. Es gibt verschiedene Arten bzw. Klassen an Antidepressiva. Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) und Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI) sind für die Behandlung der Panikstörung am besten untersucht und nachweislich am wirkungsvollsten.[7] Beispiele für Medikamente: SSRIs: Paroxetin; Citalopram, Escitalopram; Fluvoxamin, Fluoxetin, Sertralin; SNRI: Venlafaxin. Außerdem werden Trizyklika verschrieben.[8] Nach dem Absetzen der Medikamente ist die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalles im Allgemeinen hoch.[8]

Bei einer schweren Panikstörung können vorübergehend auch Anxiolytika (angstlösende Medikamente) wie beispielsweise Benzodiazepine zum Einsatz kommen. Da es durch eine regelmäßigen Einnahme von Benzodiazepinen zur Entwicklung einer Abhängigkeit kommen kann, ist deren Anwendung auf die Akuttherapie (für eine Dauer von maximal vier bis sechs Wochen) beschränkt.

Panikstörung in der Schwangerschaft

Es kann bei Patientinnen, die vorher nur wenig ausgeprägte Ängste hatten, in der Schwangerschaft zu einer massiven Häufung von schweren Panikattacken kommen.[9]

Siehe auch

Literatur

  • Jürgen Margraf & Silvia Schneider: Paniksyndrom und Agoraphobie. In: J. Margraf: Lehrbuch der Verhaltenstherapie. Band 2. 2. Aufl. 2005, S. 1-27. ISBN 3-540-66440-8.

Einzelnachweise

  1. James N. Butcher, Susan Mineka, Jill M. Hooley: "Klinische Psychologie". 2009: Pearson Studium; S. 243
  2. H. Dilling, W. Mombour, M.H. Schmidt (Hrsg.): WHO - Internationale Klassifikation psychischer Störungen, ICD -10 Kapitel V (F), Verlag Hans Huber, 4. Auflage 2000 ISBN 3-456-83526-4 Seite 160 f.
  3. Margraf & Schneider, 2005, S. 11.
  4. James N. Butcher, Susan Mineka, Jill M. Hooley: "Klinische Psychologie". 2009: Pearson Studium; S. 244 bis 245
  5. Schmidt, N. B., Zvolensky, M. J., & Maner, J. K.: Anxiety sensitivity: Prospective prediction of panic attacks and Axis I pathology, In: Journal of Psychiatric Research. Bd. 40, Nr. 8, 2006, S. 691–699.
  6. Margraf & Schneider, 2005, S. 9 ff.
  7. Kern,N. & Ströhle,A.: Psychopharmakotherapie bei Angsterkrankungen. In: Psychotherapie Ausgabe 8. 2003, S. 104-113.
  8. a b James N. Butcher, Susan Mineka, Jill M. Hooley: "Klinische Psychologie". 2009: Pearson Studium; S. 251
  9. Anke Rohde und Almut Dorn. "Gynäkologische Psychosomatik und Gynäkopsychiatrie - Das Lehrbuch". 2007. Schattauer; S. 152

Weblinks

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