Pentatonik

Pentatonik

Als Pentatonik (gr. πεντα- penta- „Fünf-“) oder Fünfton-Musik bezeichnet man aus fünf verschiedenen Tönen bestehende Tonleitern und Tonsysteme. Man unterscheidet hemitonische Fünftonskalen mit Halbton-Schritten von anhemitonischen ohne Halbtonschritte.

Pentatonik ist das älteste nachgewiesene Tonsystem, das man etwa aus Funden von bis zu 3700 Jahren alten Knochenflöten mit drei bis vier Grifflöchern erschließt.[1] Sie kennzeichnet seit etwa 3000 v. Chr. – vermutlich ausgehend von Mesopotamien – die Musik vieler indigener Völker Asiens, Afrikas, Amerikas und des frühen Europas. Sie gilt auch als Vorläufer der aus Griechenland stammenden europäischen Heptatonik.[2]

Inhaltsverzeichnis

Hemitonische Pentatonik

Die hemitonische Pentatonik enthält Halbtonschritte als wesentliches Merkmal, zum Beispiel:

  • Isländische Zwiegesänge, deren Tonstufen den Tönen E, F, A, H und C aus einer C-Dur-Skala entsprechen,
  • Japanische Pentatonik, deren Tonstufen den Tönen C, Des, F, G, B einer auf C aufbauenden Tonleiter entsprechen,
  • Indische Pentatonik, deren Tonstufen den Tönen C, E, F, G, B einer auf C aufbauenden Skala entsprechen,[3]
  • der Slendro aus der Insel Java,
  • der Pélog aus Indonesien (~ C, Des, Es, G, As)

Anhemitonische Pentatonik

C major pentatonic scale.svg

Anhemitonische Skalen enthalten keine Halbtonschritte. Ihre Tonfolge aufwärts entspricht den Tönen C, D, E, G, A, einer C-Dur-Skala, also den Intervallen Ganzton, Ganzton, kleine Terz, Ganzton. Es fehlen die beiden Halbtonschritte der Dur-Skala (hier: E zu F und H zu C), so dass keine kleinen Sekunden, großen Septimen und Tritoni vorkommen. Damit entfällt jede Leitton-Wirkung in der Skalenmelodik.[4] Da jeder Skalenton mit jedem harmoniert, wird ihr Gesamtklang für das Ohr leicht greifbar[5], wobei ihr tonales Zentrum jedoch mehrdeutig ist.

PentaVertikal.PNG
Diese Skala wurde in China bereits im Altertum aus der Schichtung von vier reinen Quinten, deren Töne in denselben Oktavraum transponiert wurden, abgeleitet. Sie wurde auf zwölf verschiedenen Tonhöhen im Halbtonabstand gebildet. Zu jedem der zwölf Grundton-Stufen gehören je fünf Modi (Umkehrungen der Tonfolge), so dass sich insgesamt 60 verschiedene pentatonische Skalen ergeben (siehe Chinesische Tonleitern).

PentaModi.PNG

Diese Modi werden in europäischer Tonalität in das Dur-Moll-Tonsystem integriert. Dabei betrachtet die klassische Harmonielehre die Dur-Pentatonik (Zeile 1) als Ausgangspunkt, die Moll-Pentatonik (Zeile 5) als davon abgeleitete Parallele, die mit dem fünften Ton der Dur-Version oder eine kleine Terz unter deren Grundton beginnt. Die übrigen Umkehrungen dieser fünf Töne (Zeilen 2-4) werden nicht als gleichwertige Modi betrachtet.[6]

Es ist zu beachten, dass eine Pentatonik, die auf reinen Quinten aufgebaut ist, "pythagoreische" Terzen aufweist, die von denen der reinen Stimmung so weit abweichen, dass sie als dissonant empfunden werden können. (Große Terz: 81/64 statt 80/64 = 5/4.)

Die folgende Grafik zeigt die chromatische Tonleiter im Oktavraum als Folge von sieben Ganztönen (linker Kästchenturm) und sechs Halbtönen (rechter Kästchenturm). Die Tonstufen und damit die Intervallstruktur des Dur- (links, = 1. Zeile) und des Mollmodus (rechts, = 5. Zeile) einer pentatonischen Skala sind markiert.

Interval diagram pentatonic major.svg Interval diagram pentatonic minor.svg

Rolle in Musikbereichen

Kinderlieder

Viele Kinderlieder basieren auf der Pentatonik. Die einfachsten davon bestehen aus einer Zweiton-Formel, der sogenannten Kuckucks- oder Rufterz: zum Beispiel Kuckuck, Eierschluck (mit Tönen von C-Dur notiert: G-E-G-G-E). Dreiton-Formeln enthalten zusätzlich die Sekunde über der Rufterz, etwa der Anfang von Backe, backe, Kuchen (G-G-A-A-G-E) und Laterne, Laterne, Sonne, Mond und Sterne (A-G-E, A-G-E, G-G-A-A-G-E) sowie dessen Schluss ...aber meine liebe Laterne nicht (G-G-G-G-A-A-A-G-G-E). Beide Lieder enthalten zudem den Grundton der Dur-Pentatonik, mit dem sich Quintsprünge und Dreiklänge bilden lassen: der Bäcker hat gerufen (C-G-G-A-A-G-E); bren-ne aus mein Licht... (C-E-G-G-E). Fünfton-Formeln enthalten alle fünf Töne einer Pentatonik, etwa Old Mac Donald had a farm, hea hea ho! (D-D-D-G-A-A-G, E-E-D–D-C).

Die Werbung nutzt die Eingänglichkeit und leichte Merkbarkeit pentatonischer Melodien, die Kinderliedern nachempfunden sind: etwa Haribo macht Kinder froh und Erwachsene ebenso.

Auch ansonsten diatonische Kinder- und Volkslieder enthalten oft pentatonische Teile oder Phrasen, etwa der A-Teil von Oh Susanna. Darum nehmen manche Musikhistoriker an, dass Pentatonik die Keimzelle melodischer Musik überhaupt war.

Musikpädagogik

Auf der Einfachheit und Kindgemäßheit pentatonischer Musik fußen verschiedene Entwürfe und Methoden der Musikpädagogik. In der seit etwa 1900 entstandenen anthroposophischen Waldorfpädagogik spielt eigenes pentatonisches Liedgut und Instrumentarium (etwa Choroiflöten und Kinderharfen) in Kindergarten und Schule eine Rolle.[7]

Carl Orff entwickelte im 20. Jahrhundert ein eigenes Instrumentarium für Kinder zur pentatonischen Improvisation und entsprechendes Repertoire: darunter das Spielbuch für Xylophon.[8]

Anknüpfend daran entwickelte die Belgierin Lucy Gelber in den 1970er Jahren ein entsprechendes System. In einer groß angelegten Studie kam sie zu dem Schluss, dass sich Intervallverständnisse in Kindern „kristallisieren“. Sie könnten zuerst Grundtöne, dann Quinten, dann große Sekunden identifizieren und intonieren. Nach und nach entwickle sich das kindliche Melodieempfinden bis zur Dur-Pentatonik.[9]

Klaviatur von Tasteninstrumenten

Je eine Zweier- und Dreiergruppe der schwarzen Tasten einer Klaviatur bilden zusammen eine pentatonische Skala. Manche Klavierschulen – etwa die von Peter Heilbut – nutzen dies, um Anfängern etwa durch Improvisation nur auf schwarzen Tasten leichten spielerischen Zugang dazu und ein einfaches Melodieverständnis zu vermitteln.

Pentatonik wird auch in der Musiktherapie verwendet.[10]

Volksmusik

Pentatonik ist in Gesang, Liedgut und Intonation von Musikinstrumenten vieler Völker Afrikas, Amerikas, Asiens und Europas anzutreffen, darunter:

und viele andere.

Pentatonisch gestimmte Instrumente sind ebenfalls sehr verbreitet, etwa:

Europäische Kunstmusik

In der europäischen Kunstmusik wurde Pentatonik lange Zeit nicht eigens thematisiert, sondern als integraler Bestandteil der traditionellen heptatonischen Kirchentonarten betrachtet und verwendet. Sie beeinflusste manche alte Choralmelodien, trat seit der Durchsetzung der Dur-Moll-Tonalität jedoch weitgehend zurück.

Erst im Zuge des neu erwachten Interesses an Volksmusiken, außereuropäischer und archaischer Musik im Zeitalter der Romantik wurde Pentatonik als eigenes Tonmaterial mit besonderer Klangcharakteristik beachtet. Komponisten übernahmen oder imitierten pentatonische Themen aus der Volksmusik ihrer Nation, zum Beispiel:

Anderen diente die Pentatonik als Klangeffekt zur Ergänzung, Verfremdung oder Bereicherung einer ansonsten dur-moll-tonalen Harmonik, zum Beispiel in:

Im sogenannten Impressionismus und bei manchen Komponisten des 20. Jahrhunderts wird Pentatonik dann auch als eigene Form von Tonalität beachtet, die ganze Stücke oder Werkpassagen bestimmt. Beispiele:


Der zeitgenössische Komponist Lou Harrison verwendete in manchen seiner Werke neue pentatonische Skalen.

Gospel und Blues

Durpentatonik bestimmt einige der Gospels afroamerikanischer Sklaven in Nordamerika: etwa Swing Low, Sweet Chariot. Das beliebte Amazing Grace ist jedoch schottischer oder irischer Herkunft.

Die Sprachmelodik westafrikanischer Völker ähnelt der Mollpentatonik, auf der die Melodik des Blues beruht. Sie fügt ihr nur eine flatted fifth (verminderte Quinte) als blue note und vierten Skalenton hinzu. Dieser verbindet die identischen Hälften der Skala (kleine Terz, Ganzton) mit einem chromatischen Halbtonschritt. Die so entstandene Bluestonleiter spielt auch in fast allen Formen moderner Rock-, Pop- und Jazzmusik eine Rolle.

Rock und Pop

Da pentatonische Melodien auf einer Gitarre leicht auffindbar und spielbar sind, werden sie von Anfängern oft als erstes gelernt.[12] Da potentielle Spannungstöne fehlen, ist Pentatonik auch zur Improvisation gut geeignet. Berühmte Gitarrensoli, wie zum Beispiel aus der Guns N’ Roses Coverversion von Knockin’ on Heaven’s Door, verwenden pentatonisches Material.

Jazz

Dur- oder Moll-Pentatonik prägt zum einen teilweise die Themen einiger Jazzstandards: zum Beispiel Afro Blue, Mercy, Mercy, Mercy, Summertime, Take Five, Watermelon Man und andere. Zum anderen dient sie in der Jazzimprovisation dazu, „trotz atonal oder dissonant erscheinenden Tonmaterials die Verbindung zur Konsonanz nicht zu verlieren“.[13] In John Coltranes Giant Steps etwa hilft sie, die komplexe und rasch wechselnde Harmonik durch einfache Melodik auszugleichen und die Verbindung zwischen den entfernt verwandten Kadenzklängen hörbarer zu machen.

In der heutigen Jazzharmonik werden jedem Akkord mehrere pentatonische Skalen zugeordnet, mit deren Tönen darüber improvisiert werden kann. Man kann z. B. über den Akkord C6/maj9 (C, E, G, A und D) eine C-, G- oder sogar D-Dur-Pentatonik spielen und damit jeweils andere Zusatztöne zum C-Dur-Dreiklang hervorheben.[14] Dies hilft auch, sogenannte avoid notes (verbotene Töne aus der zum Akkord gehörigen heptatonischen Tonleiter, hier: F) in der Improvisation zu vermeiden. Der in der G- und D-Dur-Pentatonik fehlende Grundton C wird als Vorteil empfunden, da so mehr Spannungen und Klangfarben im Verhältnis zu Basston und Begleitakkord entstehen. Auch dazu absichtlich dissonante Pentatonik – etwa Des-Es-F-As-Bes über C-Dur – wird verwendet (out), weil die Melodik wegen der einfachen Intervallfolgen in sich nachvollziehbar bleibt und die Dissonanz durch Rückung um einen Halbton nach unten leicht wieder aufgelöst werden kann.[15]

Ein Dominantseptakkord wird im modernen Jazz beim Begleiten (comping) oft mit weiteren Zusatztönen (options) über der Septime angereichert. Um dazu passend zu improvisieren, mit dem Harmoniegeber zu kommunizieren und dessen Akkordwahl mitzubestimmen, haben Jazzmusiker einzelne Tonstufen der Durpentatonik um einen Halbton erniedrigt („alteriert“) und so neue, künstliche pentatonische Modi geschaffen. So kann man über einem C-7-Akkord (C, E, G, Be) mit der Pentatonik C-Dur-bII (C, Des, E, G, A), Es-Dur-bII (Es, E, G, Be, C), Ges-Dur-bII (Ges, As, Be, Des, Es) oder A-Dur-bII (A, Be, Cis, E, Fis) sowie D-Dur-bV (D, E, Fis, A, Be) oder As-Dur-bV (As, Be, C, Es, E) improvisieren und damit jeweils verschiedene mögliche Zusatztöne zum C-7-Akkord hervorheben.[16]

Siehe auch

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Klaus-Dieter Linsmeier: Morgenröte der Musik. In: Abenteuer Archäologie 3/2006, S. 28
  2. Hermann Grabner: Allgemeine Musiklehre, S. 90
  3. Frank Haunschild: Die neue Harmonielehre, Band 1, AMA Verlag, Brühl 1997, ISBN 978-3-927190-00-9, S. 110
  4. Hermann Grabner: Allgemeine Musiklehre S. 91
  5. Frank Sikora: Neue Jazz-Harmonielehre, S. 27
  6. Frank Haunschild: Die neue Harmonielehre Band 1, S. 106
  7. Volker Dillmann: Pentatonik. Verlag Freies Geistesleben, 1994, ISBN 3-7725-1385-9; Stephan Ronner: Praxisbuch Musikunterricht: Ein Wegweiser zur Musikpädagogik an Waldorfschulen. Verlag Freies Geistesleben, 1. Auflage 2005, ISBN 3-7725-1694-7
  8. Carl Orff: Spielbuch für Xylophon. Im pentatonischen Raum für einen Spieler. (1965) Herausgeber: Gunild Keetmann, Orff-Schulwerk, B. Schott's Soehne GmbH & Co. KG, Registration Number RE0000634720, 1993; Band II: RE0000681450, 1994
  9. Lucy Gelber: Musical readiness of school beginners. H. Dunantlaan, Rijksuniversiteit Gent, Seminarie en Laboratorium voor Experimentele, Psychologische en Sociale Pedagogiek (Hrsg.), Mededelingen 1984 (englisch)
  10. Beispiel: Tumata: Pentatonische Musik
  11. Eine Liste pentatonisch beeinflusster Kompositionen von 1700 bis 1950 enthält Jeremy Day-O'Connell: Pentatonicism from the Eighteenth Century to Debussy, University of Rochester Press, 1. Auflage 2007, ISBN 978-1-58046-248-8; Inhaltsangabe (englisch)
  12. Bernd Kofler: Perfect Guitar – The Pentatonic Workbook. Books on Demand Gmbh, 2002, ISBN 3-8311-3111-2
  13. Frank Haunschild: Die neue Harmonielehre Band 1, S. 107
  14. Mark Levine: Das Jazzpiano Buch, S. 123
  15. Frank Haunschild, Die neue Harmonielehre S. 108
  16. Frank Haunschild, Die neue Harmonielehre S. 109

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