Phänomenologische Soziologie

Phänomenologische Soziologie

Eine phänomenologische Soziologie ist eine Handlungstheorie. Sie bezeichnet eine am genauen Beobachten und intuitiven Zusammenfügen von sozialen Tatsachen orientierte Sozialwissenschaft, deren Untersuchungen weder von übergeordneten Theorien abgeleitet sind noch empirisch auf Datenerhebungen und Statistikzahlen beruhen. Hauptvertreter waren die in die Vereinigten Staaten emigrierten Alfred Schütz (1899–1959) und Günther Anders (1902–1992) an der New School for Social Research, Anders auch nach seiner Rückkehr nach Wien 1950. Unabhängig voneinander war ihnen ein gemeinsames wissenschaftliches Paradigma, Grundstrukturen der alltäglichen Lebenswelten herauszuarbeiten.

Inhaltsverzeichnis

Voraussetzungen

Ursprung für Alfred Schütz' Ansatz waren die „Verstehende SoziologieMax Webers und die phänomenologische Methode des Freiburger Philosophen Edmund Husserl (1859–1938). Ausgangspunkt im engeren Sinn war die Husserlsche Auffassung von der „Welt der natürlichen Einstellung“, die Welt unseres alltäglichen Lebens, die uns allen gemeinsam, d. h. eine intersubjektive Welt ist.

In Husserls Terminologie ausgedrückt galt es also, zu den „Dingen selbst“ zurückzukehren. Die Welt musste so begriffen werden, wie sie direkt vom Handelnden erfahren wurde und nicht durch Anwendung konstruierter Konzeptualisierungen. Die Konzepte, mit denen Menschen in ihrem Alltag Probleme, Situationen, Ereignisse u. s. w. erfassen und deuten („Konstrukte erster Ordnung“), mussten in einem weiteren Schritt in „Konstrukte zweiter Ordnung“, in die sozialwissenschaftliche Theoriebildung übersetzt werden.

Prinzipiell gilt der Grundsatz: Es gibt keine sozialen Strukturen außerhalb und unabhängig von den interpretativen Prozessen in der Interaktion. Dem normativen Paradigma, wie es von Funktionalismus, Systemtheorie und Verhaltenstheorie vertreten wird, steht hier eine grundlegende Alternative gegenüber, nämlich das sogenannte „interpretative Paradigma“.

Leistungen

In der soziologischen Biographieforschung, der Interaktions- und der Gesprächsanalyse sind die Ansätze von Alfred Schütz fruchtbar angewandt worden. Die phänomenologische Soziologie hat ebenso viel zur Entwicklung der Ethnomethodologie beigetragen. Vom Symbolischen Interaktionismus unterscheidet sie sich dadurch, dass sie stärker den Charakter geteilter Symbole als „Wissen“ und die biographische Komponente in der Konstitution der alltäglichen Lebenswelt betont.

Themengebiete, auf denen die phänomenologische Soziologie arbeitet, sind z. B. Perspektiven der Intersubjektivität, „Man“ und Selbst-Konzepte, Lebenswelt als Sozialwelt, Leiblichkeit und Sozialität, Sinn und Erscheinung, Sprache und menschliche Kommunikation sowie Institution und Geschichte, Gemeinschaft als Personenverband.

Kritik

Der Begriff der phänomenologischen Soziologie wird nicht überall akzeptiert. Stattdessen wird herausgestellt, dass Alfred Schütz eher den Begriff der „verstehenden Soziologie“ entwickeln wollte (vgl. Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt, Fünfter Abschnitt).

Literatur

  • Bühl, Walter L.: Phänomenologische Soziologie. Konstanz (UVK) 2002, ISBN 3-8966-9806-0.
  • Knoblauch, Hubert: Phänomenologische Soziologie, in: Kneer, Georg / Schroer, Markus (Hrsg.): Handbuch Soziologische Theorien, Wiesbaden (VS-Verlag) 2009, ISBN 978-3-531-15231-8.

Weblinks


Wikimedia Foundation.

Игры ⚽ Поможем написать курсовую

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Soziologie — (lat. socius ‚Gefährte‘ und logie) ist eine Wissenschaft, die sich mit der empirischen und theoretischen Erforschung des sozialen Verhaltens befasst, das heißt die Voraussetzungen, Abläufe und Folgen des Zusammenlebens von Menschen untersucht.… …   Deutsch Wikipedia

  • Soziologie — Gesellschaftslehre; Gesellschaftswissenschaft; Gesellschaftstheorie * * * So|zi|o|lo|gie [zots̮i̯olo gi:], die; : Wissenschaft, Lehre von den Formen des Zusammenlebens der Menschen, von den Voraussetzungen, Erscheinungsformen und Entwicklungen… …   Universal-Lexikon

  • Soziologie und Theologie —    Soziologie (lat. griech. =Wissenschaft von der Gesellschaft) entstand, nachdem bereits in der griech. Antike über gesellschaftliche Lebensordnungen nachgedacht wurde, aus den vom 18. Jh. an zu beobachtenden Tendenzen, Theorien zur Reform der… …   Neues Theologisches Wörterbuch

  • Angewandte Soziologie — Soziologie (aus dem lateinischen socius = „Gefährte“ und dem griechischen λóγος, lógos = „Wort“, „Rede“) ist eine junge, erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als eigenständige universitäre Disziplin durchgesetzte Wissenschaft. Sie… …   Deutsch Wikipedia

  • Einführung in die Soziologie — Soziologie (aus dem lateinischen socius = „Gefährte“ und dem griechischen λóγος, lógos = „Wort“, „Rede“) ist eine junge, erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als eigenständige universitäre Disziplin durchgesetzte Wissenschaft. Sie… …   Deutsch Wikipedia

  • Reine Soziologie — Soziologie (aus dem lateinischen socius = „Gefährte“ und dem griechischen λóγος, lógos = „Wort“, „Rede“) ist eine junge, erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als eigenständige universitäre Disziplin durchgesetzte Wissenschaft. Sie… …   Deutsch Wikipedia

  • Verstehende Soziologie — Die Verstehende Soziologie ist ein von Max Weber zu Anfang des 20. Jahrhunderts entwickeltes wissenschaftstheoretisches Konzept für die Soziologie. Ziel der Soziologie ist es demnach, menschliches Handeln erklärend zu verstehen, also den… …   Deutsch Wikipedia

  • Handlungstheorie (Soziologie) — Die Handlungstheorie ist eine mikrosoziologische Theorie, mit deren Hilfe sich unterschiedliche Handlungen untersuchen und erklären lassen sollen. „Handlungen“ in diesem Sinne sind motiviert, im Gegensatz zum rein reaktiven „Verhalten“.… …   Deutsch Wikipedia

  • Gesellschaftstheorie — Soziologie (aus dem lateinischen socius = „Gefährte“ und dem griechischen λóγος, lógos = „Wort“, „Rede“) ist eine junge, erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als eigenständige universitäre Disziplin durchgesetzte Wissenschaft. Sie… …   Deutsch Wikipedia

  • Gruppwissenschaft — Soziologie (aus dem lateinischen socius = „Gefährte“ und dem griechischen λóγος, lógos = „Wort“, „Rede“) ist eine junge, erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als eigenständige universitäre Disziplin durchgesetzte Wissenschaft. Sie… …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”