Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen

Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen
Klassifikation nach ICD-10
F80.20 Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen (AVWS)
ICD-10 online (WHO-Version 2011)

Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen (AVWS), auch Zentrale Hörwahrnehmungsstörung oder Zentrale Taubheit bezeichnet eine Einschränkung der auditiven Wahrnehmung, die nicht in einer Verminderung des normalen "peripheren" Gehörs, insbesondere des Ohres begründet ist.

Der Begriff Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen (AVWS) wurde 2000 in einem Konsensus Statement deutscher Pädaudiologen als gemeinsamer Diagnosebegriff eingeführt.[1] Er lehnt sich an die angelsächsische Begrifflichkeit der Auditory processing disorder (APD) an. Dabei beschreibt der Begriff der auditiven Verarbeitung mehr die vorbewusste Prozessierung der Informationen beider Ohren, während sich die auditive Wahrnehmung eher auf die bewusste kognitive Analyse dieser Informationen bezieht.

Im aktuellen Konsensus-Papier der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie wird die AVWS so definiert:[2]

Eine Auditive Verarbeitungs- und/oder Wahrnehmungsstörung (AVWS) liegt vor, wenn bei normalem Tonaudiogramm zentrale Prozesse des Hörens gestört sind. Zentrale Prozesse des Hörens ermöglichen u. a. die vorbewusste und bewusste Analyse, Differenzierung und Identifikation von Zeit-, Frequenz- und Intensitätsveränderungen akustischer oder auditivsprachlicher Signale sowie Prozesse der binauralen Interaktion (z. B. zur Geräuschlokalisation, Lateralisation, Störgeräuschbefreiung, Summation) und der dichotischen Verarbeitung.

Inhaltsverzeichnis

Die auditive Verarbeitung und Wahrnehmung

Die verschiedenen Leistungen der auditiven Verarbeitung und Wahrnehmung, die jeweils einzeln ausfallen können, sind nicht abschließend geklärt. Häufig diskutierte Teilleistungen der auditiven Wahrnehmung sind:

  • Schall-Lokalisation: Wenn Schall nicht frontal sondern seitlich auf den Kopf auftrifft, so absorbiert dieser einen Teil der Schallenergie, sodass das abgewandte Ohr den Schall mit einer minimalen Zeit- und Lautstärken-Differenz empfängt. Dadurch ist auch die Lokalisation eines bewegten Schallereignisses möglich (vgl. Doppler-Effekt). Selbst wenn ein Ohr taub ist, kann die muschelförmige Ausformung des anderen Ohres noch zur Lokalisation einer Schallquelle beitragen.
  • Auditive Selektion oder dichotisches Hören: Das Herausfiltern eines interessierenden Hörereignisses gegenüber konkurrierenden Geräuschen und anderen Sprechern ist eine zentrale Leistung, die wohl bereits im Hirnstamm beginnt und sicher auf einer funktionierenden akustische Lokalisation beruht („Cocktail-Party-Effekt“).
  • Akustische Differenzierung: meint die Fähigkeit, ähnlich klingende Laute oder Tonhöhen-Verläufe voneinander unterscheiden zu können. Ist diese Hörfunktion beeinträchtigt, so kann dies zu Verarbeitungsstörungen führen, die auditive Wahrnehmungsstörungen zur Folge haben können.

Auditive Wahrnehmungsstörungen können als Folge akustischer Differenzierungsstörungen auftreten aber auch ohne akustische Beeinträchtigungen als Verarbeitungsstörungen auftreten.

  • Auditive Merkfähigkeit: Das kurzfristige Behalten von gehörter Information ist für die bewusste Verarbeitung von zentraler Bedeutung. Störungen hierbei werden insbesondere auch im Vorfeld einer Lese-Rechtschreib-Schwäche diskutiert (Hasselhorn). Hier wird das Modell der ‚phonologischen Schleife‘ des ‚Arbeitsgedächtnisses‘ (Baddeley und Hitch 1974) als Instanz angesehen, dessen Kapazitätsbegrenzung zu Schwierigkeiten sowohl in der Sprachrezeption wie -produktion und den weiteren Folgen davon führt.
  • Auditive Analyse und Synthese: Die Unterscheidung insbesondere der muttersprachlich bedeutungsunterscheidenden Laute (Phoneme) stellt eine sehr anspruchsvolle Leistung der auditiven Wahrnehmung dar, in der Stimmeinsatz-Unterschiede von wenigen Millisekunden ausgewertet werden.[3] Diese Leistung wird auch Phonemdifferenzierung und -diskrimination bezeichnet. Das auditive System wird dabei von der visuellen (Lippenlesen, McGurk-Effekt) und kinästhetischen Wahrnehmung unterstützt. Ebenfalls eine multimodale Leistung stellt die auditive Synthese dar.

Nickisch et al. 1987 zählen als weitere auditive Teilleistungen die binaurale Selektion, die auditive Separation (dichotisches Hören), auditive Zeitauflösung, die auditive Ergänzung und weiteres auf.

Symptomatik der AVWS

Neben den genannten Aspekten der auditiven Lokalisation, Selektion, Merkfähigkeit und Analyse und Synthese fällt vor allem das Schutzverhalten aufgrund von Geräuschüberempfindlichkeit, Schreckhaftigkeit und die Ermüdung bei Anforderung auf. Die Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie hat einen Fragebogen herausgegeben, der zur Anamnese dienen kann.[4] Viele dieser Auffälligkeiten treten auch als Folgestörungen bei einer Schwerhörigkeit auf, weshalb diese zuerst auszuschließen ist. Andersherum gehen AVWS oft mit vielen anderen Schwierigkeiten wie Sprachentwicklungsverzögerungen, Mängeln in der phonologischen Bewusstheit (wenn sie nicht als Teil der AVWS aufgefasst wird), Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten, Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen und sozialen Rückzugs- bzw. Integrationsproblemen einher.

Diagnostik

Neben dem verpflichtenden Ausschluss einer Hörbeeinträchtigung, die auf eine Schädigung der Ohren zurückgeht (periphere Hörstörung), findet eine breite Untersuchung verschiedener Höraspekte mit Tests sehr unterschiedlicher Qualität und mit mehr oder weniger hohem technischem Aufwand statt. Die Untersuchung der auditiven Verarbeitung ist so meist nur in spezialisierten Kliniken bzw. einigen pädaudiologischen Praxen möglich, während die Qualität der auditiven Wahrnehmung durch verbreitetere Diagnostika abgeschätzt werden kann. Die auditive Differenzierungsfähigkeit kann mit neuen Verfahren im Vergleich mit den entsprechenden altersnormierten Daten festgestellt werden. Auch eine Überprüfung der intellektuellen Entwicklung gehört mit zum Testumfang, da die Verarbeitung von Gehörtem Teilbestandteil der höheren, kognitiven Leistungen sind.

Die Diagnostik erfolgt in der Regel bei einem Pädaudiologen oder pädaudiologisch versierten HNO-Arzt. Begleitende Disziplinen sind z.B. die Kinder- und Jugendpsychiatrie und - therapie, Psychologie und die (Schwerhörigen-)-Pädagogik.

Begriffe

In diesem Gebiet, in dem sich traditionell sehr unterschiedliche Berufsgruppen wie Physiker, Mediziner, Psychologen, Logopäden und Sonderpädagogen bewegen, hatte es zuvor eine sehr uneinheitliche und unklare Begrifflichkeit gegeben.

  • Zentrale Hörstörung (Geers-Tagung, Plath 1994)
  • Zentrale Fehlhörigkeit (Esser et al. 1987)
  • Zentral-auditive Verarbeitungsstörungen (Lauer 1999)

Auch der jetzige Begriff wird von den Autoren und Klinikern als Sammelbegriff im Plural verwendet und gilt als noch nicht hinreichend klar. In jedem Fall sollte neben peripheren und zentralen Fehlhörigkeiten die sprachfreie Differenzierung getrennt beachtet werden, da sie sich „zwischen“ dem Sinnesorgan und der bewussten Hörwahrnehmung abspielt (Fischer und Hartnegg, 2004).

Behandlung

Ob und inwieweit die einzelnen Teilleistungen direkt therapeutisch beeinflussbar sind oder die angebotenen Verfahren eher einen bessere Umgang mit den Schwierigkeiten bewirken, ist empirisch wohl noch nicht ausgemacht. Diese Skepsis gilt um so mehr, wenn Versprechungen gemacht werden, dass die Sekundärstörungen wie die Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten (LRS) damit behandelbar seien. In vielen Studien hat sich erwiesen, dass funktionelle Verbesserungen einer Teilleistung (Motorik, auditive oder visuelle Wahrnehmung) nicht zu einem Transfer auf den Schriftspracherwerb führen.[5] Dagegen wird aber auch das Gegenteil berichtet.[6]

Dem muss man aber entgegnen: Katz und Wilde nahmen 1985 auditive Wahrnehmungsstörungen als mit bedingend für Lese-/Rechtschreibschwäche an. Es erscheint plausibel, dass man bei vorliegenden Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen zum Beispiel noch nie richtig gehörte Laute auch in der Regel nicht richtig sprechen und/ oder schreiben kann (Der Prozess des Lese- Schreiberwerbs ist in Wirklichkeit sehr komplex unter Mitwirkung vieler Teilleistungen). Ein Training der entsprechenden Teilleistungen (z. B. phonologische Bewusstheit) sollte sich also auch positiv auf das Erlernen von Lesen und Schreiben auswirken.

Funktionelle Trainings

Es gibt eine ganze Reihe von Trainings auf dem Markt, von denen zumindest einige wie das Ordnungsschwellentraining (Brain-Boy nach Warnke)[7] und die Tomatis-Therapie[8] umstritten sind.

Dagegen hat sich ein Training der auditiven Differenzierung nicht nur positiv auf die sprachgebundene Lautdifferenzierung (Reimwörter unterscheiden) ausgewirkt sondern auch die Wahrnehmungsfehler in der Rechtschreibung von Kindern mit einer Lese-Rechtschreibstörung reduziert. Die Regelfehler wurden so nicht verbessert und weder eine Warte- noch eine Placebogruppe profitierten von dem Training (Schäffler et al. Dyslexia 10:119–130, 2004)

Trainings zur Verbesserung der phonologischen Bewusstheit haben sich sowohl aus funktioneller Sicht wie zur Prävention der LRS bewährt.[9]

Lauer (1999) beschreibt aus logopädischer Sicht ein ausführliches Training der Funktionen. Auch Nickisch et al. (2001) legen eine umfangreiche Materialsammlung zur Diagnostik und Behandlung vor und berichten von ersten erfolgreichen Überprüfungen der Wirksamkeit.

Bewältigungsstrategien

Viele Autoren betonen die Bedeutung der kompensatorischen Bewältigungsstrategien der Betroffenen. Hierbei kann es sich um das bewusste Heranziehen nicht-auditiver Informationsquellen wie Lippenlesen, bewusste Suche nach visuellen Stützen oder der kinästhetischen Rückmeldungen aus dem Körper bei der Lautbildung handeln. Genauso wichtig sind Ermutigungen und Erlaubnisse, bei Nicht-Verstehen nachzufragen oder sich Notizen zu machen (z. B. Zwischenergebnisse beim Kopfrechnen). Ein weiterer Baustein ist, sich bei der hohen Ermüdung in akustisch komplexen Situationen zurückziehen zu können, aber auch Wege zurück in die Situation zu finden. Durch Training kann erreicht werden, bewusst z. B. Gruppensituationen zu trainieren, und einem Gesprächspartner aufmerksam und konzentriert zuzuhören. Dabei gibt es eine Vielzahl von Strategien, die normalerweise unbewusst ablaufen, und nicht extra trainiert werden müssen (z. B. das direkte zuwenden zu einer Person, Konzentration auf Schlüsselwörter und Kontextentnahme). Ebenso hat sich die Anwendung der FM Anlage EDU Link bewährt.

Literatur

  • Gerhard Böhme (2006). Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen. Bern: Huber ISBN 3-456-84222-8
  • G. Esser, Christa Anderski, A. Birken, Eva Breuer, Barbara Cramer, Elke Eisermann, H. Kuhlenkampff, M. Schröer, R. Schunicht, M. Toro la Roche (1987). Auditive Wahrnehmungsstörungen und Fehlhörigkeit bei Kindern im Schulalter. Sprache Stimme Gehör, 11, S. 10–16
  • Burkhart Fischer (2007). Hören, Sehen, Blicken, Zählen;Teilleistungen und ihre Störungen; H. Huber Verlag, Bern, 2.Aufl. 2007
  • Fischer B, Hartnegg K (2004) On the development of low-level auditory discrimination and deficits in dyslexia. Dyslexia 10:105–118
  • Schäffler T, Sonntag J, Fischer B (2004) The effect of daily practice on low-level auditory discrimination, phonological skills, and spelling in dyslexia. Dyslexia 10:119–130
  • Norina Lauer (1999). Zentral-auditive Verarbeitungsstörungen im Kindesalter – Grundlagen – Klinik – Diagnostik – Therapie. Stuttgart: Thieme ISBN 3-13-115811-5
  • Andreas Nickisch, Dolores Heber, Jutta Burger-Gartner (2001). Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen. Dortmund: verlag modernes lernen Borgmann
  • Peter Plath (Hrsg.) (1994). Zentrale Hörstörungen. Materialsammlung vom 7. Multidisziplinären Kolloquium der Geers-Stiftung. Essen: Geers-Stiftung ISSN 0935-1213
  • M. Ptok, R. Berger, Chr. von Deuster, M. Gross, A. Lamprecht-Dinnensen, A. Nickisch, H.J. Radü, V. Uttenweiler (2000). Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen. Konsensus Statement. Sprache Stimme Gehör 24, 90–94.
  • Waldemar von Suchodoletz (Hrsg.) (20062). Therapie der Lese-Rechtschreib-Störung (LRS). Traditionelle und alternative Behandlungsmethoden im Überblick. Stuttgart: Kohlhammer ISBN 3-17-018845-3

Weblinks

Belege

  1. M. Ptok, R. Berger, Chr. von Deuster, M. Gross, A. Lamprecht-Dinnensen, A. Nickisch, H.J. Radü, V. Uttenweiler (2000). Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen. Konsensus Statement. Sprache Stimme Gehör 24, 90
  2. Konsensus Papier der dgpp (PDF))
  3. John R. Anderson (19962). Kognitive Psychologie. Weinheim: Spektrum, S. 52ff.
  4. Anamnesebogen zur Erfassung Auditiver Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen (PDF)
  5. Waldemar von Suchodoletz (Hrsg.) (2006). Therapie der Lese-Rechtschreib-Störung (LRS). Traditionelle und alternative Behandlungsmethoden im Überblick. Stuttgart, S. 170–186
  6. Schäffler T, Sonntag J, Fischer B (2004) The effect of daily practice on low-level auditory discrimination, phonological skills, and spelling in dyslexia. Dyslexia 10:119–130
  7. Dagmar Berwanger (2006). Ordnungsschwel-lentraining. In: Waldemar von Suchodoletz (Hrsg.). Therapie der Lese-Rechtschreib-Störung (LRS). Traditionelle und alternative Behandlungsmethoden im Überblick.
  8. Gesellschaft für Neuropädiatrie, der ADANO in der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Halschirurgie und der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie, 1998
  9. Wolfgang Schneider, Petra Küspert (2006).Frühe Prävention der Lese-Rechtschreib-Störungen. In: Waldemar von Suchodoletz (Hrsg.). Therapie der Lese-Rechtschreib-Störung (LRS). Traditionelle und alternative Behandlungsmethoden im Überblick.

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